Wie schätzten sich die Großmächte gegenseitig ein?

Walpurga

Neues Mitglied
Nachdem das Deutsche Kaiserreich bis 1914 eine rasante Entwicklung der Wirtschaft erlebte und auch einer der bevölkerungsreichsten Staaten wurde, würde es mich interessieren wie die anderen Großmächte die Situation einschätzten. Und wie das Kaiserreich?
 
Grundsätzlich ist diese Einschätzung extrem schwer, weil sie auch subjektiv durch die Entscheidungsträger geprägt war. Dennoch kann man drei Gruppen von Großmächten identifizieren:

Wichtig ist sicherlich eine statische Einteilung der großen, imperialen Mächte
Weltmacht:
- GB
- USA

überregionale Großmacht
- Frankreich
- Russland

regionale Großmacht
- Deutschland
- Österreiche Ungarn
- Italien
- Osmanisches Reich

(vgl. zur Kategorisierung: Waltz: Theory of International Politics, 1979, S. 162)

Diese Beschreibung des Großmachtstatus für die Zeit vor dem WW1 wird kontrastiert durch die Vermutung, in welche Richtung der Trend für die zukünftige Entwicklung läuft.

In diesem Sinne kann man drei Gruppen gegenüberstellen für die Zeit vor 1914.

- aufsteigende Großmächte, ++ bzw. +
- im Bereich der relativen Stagnation, 0
- absteigende Großmächte, -- bzw. -

Diese mehr oder minder objektiven Einteilungen, die sich an politischen, ökonomischen, sozialen und ökonomischen Faktoren orientieren, sind jedoch durch die länderspezfische Wahrnehmung subjektiv.

Meine These zur subjektiven Wahrnehmung der jeweilige anderen Großmächte wäre folgende und soll eine Vermutung anstellen, wie Deutschland, GB und Russland die anderen Länder in ihrer zukünftigen Bedeutung einschätzen.

..........................D.......Ö-U.....I......GB......F.....R.....USA....OR....Ja
Deutschland ........//.........-......0.......-.......+.....+......++.....--.....+
GB.....................++........--.....0.......//......+.....+.......++....--.....+
Russland.............++........--.....0.......+.......+.....//......++...--......+

Die Einschätzung der Länder haben sich in den jeweiligen Bündnis-präferenzen aus der damaligen Zeit niedergeschlagen, ganz wesentlich beispielsweise in GB im Rahmen der britischen Sichtweise zum Gleichgewicht auf dem europäischen Festland und den daraus abgeleiteten Bündnispräferenzen.
 
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Ich würde meinen, die USA wurden aber noch nicht als Weltmacht wahrgenommen. Das war m.E. nach erst nach der siegreichen Beendigung des Ersten Weltkrieges der Fall.

Auch würde ich ds Deutsche Reich als überregionale Großmacht einstufen, denn es hatte ja auch in Afrika und Asien Kolonien. und wurde dort von den anderen Mächten auch entsprechend wahrgenommen.
 
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Zur objektiven Bedeutung der USA bereits zu diesem Zeitpunkt als imperiale Großmacht, die neben GB über das alleinige Potential verfügte über einen politisch, wirtschaftlich und militärisch definierten Navalismus, würde ich gerne Kindermann anführen:

" Im Zusammenhang mit dem Bau des Panamakanals und ihrer wirtschaflichen Prädominanz in Lateinamerika wurde sie praktisch zur Hegemonialmacht des zentralamerikanischen und karibischen Raumes." (Kindermann: Grundelemente der Weltpolitik, 1986, S. 260).

Und mit Hinblick auf die geringe Bedeutung der Kolonien spricht er dem Kaiserreich keine relevante Rolle zu in Bezug auf die überregionale Ausstrahlung. Und wirtschaftlich waren sie ja auch faktisch irrelevant.

Und es war ja auch teilweilse die "irrlichternde" Weltpolitik von KW2, mit sprunghaften Ambitionen überall und dann meistens doch wieder woanders, dass die Irritation und auch Ablehnng der etablierten Kolonialmächte.

Viel Aktionismus ohne nennenswerte, geostrategisch relevante Resultate.
 
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Viel Aktionismus ohne nennenswerte, geostrategisch relevante Resultate.

Ohne jede Frage.:)

Nur, das Deutsche Reich, nimm einmal China als Beispiel, war, so denke ich, eben doch schon überregional von Bedeutung. Weltmarschall von Waldersee durfte sogar die europäischen Truppen zur Niederschlagung des Boxeraufstandes anzführen; auch wenn er viel zu spät ankam. Das Deutsche Reich trat überregional als Großmacht auf und wurde auch als solche wahrgenommen.

Zum Deutschen Reich schreibt Kennedy , es sei neben den Vereinigten Staaten der einzige Neunankömmling, der wirklich die Krat hatte, die alte Ordnung herauszufordern. (1)

" Im Zusammenhang mit dem Bau des Panamakanals und ihrer wirtschaflichen Prädominanz in Lateinamerika wurde sie praktisch zur Hegemonialmacht des zentralamerikanischen und karibischen Raumes." (Kindermann: Grundelemente der Weltpolitik, 1986, S. 260).

Ebenfalls ohne jede Frage.:) Die Frage ist nur, wurden die USA schon als Weltmacht von den europäischen Großmächten anerkannt und wahrgenommen? Die USA waren ohne Frage eine bedeuende Macht mit enormer Wirtschaftskraft, aber waren sie nicht erst ab 1918/19 unumstritten die Weltmacht?

Kennedy schreibt, die Verenigten Staaten haben sich definitv zu einer Großmacht entwickelt (bezogen auf dem Zeitraum 1885 - 1914), aber sie gehörten nicht zum System der großen Mächte. (2)

(1) Kennedy, Aufstieg und Fall, S.329

(2) Kennedy, Aufstieg und Fall, S.377
 
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Wenn es um die Einschätzung der Lage der Großmächte im Juli 1914 geht, wäre eine Selbstschätzung uU auch ganz interessant.

Hier scheinen die Dinge so zu liegen, dass zumindest die wichtigen Akteure der Politik von einer letzten Chance für die Großmachtambitionen des Deutschen Reichs angesichts der mittelfristigen Entwicklung ausgingen, während Teile der Wirtschaft in bestimmten Zitaten davon ausgingen, diese Ambitionen in der nächsten Zeit durch eine ökonomische Entwicklung zu Fakten werden zu lassen.

Ob falsch oder richtig, wäre für mich dabei weniger die Frage, als mich der Unterschied in dieser Wahrnehmung an sich interessiert.
 
An dieser Stelle würde mich auch einmal interessieren, welche Rolle die Kolonialpolitik spielte. Zum einen waren die damaliegen Großmächte ja Konkurennten im Wettlauf um Arika, zum anderen Unterstützten sie sich z.B in Fällen der Niederschlagung regionaler Aufstände.

War der Konkurennzkampf um die Kolonien mit auslösend für den 1. Weltkrieg?

Ich könnte es mir vorstellen, was meint ihr?
 
An dieser Stelle würde mich auch einmal interessieren, welche Rolle die Kolonialpolitik spielte. Zum einen waren die damaliegen Großmächte ja Konkurennten im Wettlauf um Arika, zum anderen Unterstützten sie sich z.B in Fällen der Niederschlagung regionaler Aufstände.

War der Konkurennzkampf um die Kolonien mit auslösend für den 1. Weltkrieg?

Ich könnte es mir vorstellen, was meint ihr?

Speziell der dt.englische Gegensatz in Afrika spielte eigentlich kaum eine Rolle 1914. Im Gegenteil, nachdem die beiderseitigen Interessensphähren abgesteckt waren, gab es nur wenig Reibungspunkte.

Etwas anders liegt der Fall für die portugiesischen und belgischen Kolonialgebiete in Afrika. Hier bereiteten sich die Grossmächte auch durch Geheimabreden auf eine erwartete Aufteilung vor. Das hätte sicher zu weiteren Konflikten geführt, aber in der Julikrise war das bedeutungslos.

Speziell zu Afrika gibt es: Fröhlich, Von der Konfrontation zur Koexistenz - die deutsch-englischen Kolonialbeziehungen in Afrika 1884-1914.
 
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Also so wie ich die Lage sehe haben ja eine ganze Reihe von Ursachen zum 1. Weltkrieg geführt.

Hauptursache war aber doch, dass Deutschland sich durch seine Säbelrasselnde Weltmachtsanstrebungen immer mehr von den anderen Europäischen Großmächten entfernt und sie anstatt (wie geplant) gegeneinander auszuspielen, gegen sich verreint hat.

Ich denke schon das der Anspruch auf einen "Platz an der Sonne" anderen Ländern unbehaglich war, und verbunden mit Wilhelms "neuem Kurs" (Militarismus, Drohungen etc.) zur politischen Isolation Deutschlands geführt hat.

Oder?;)
 
Crank 15 schrieb:
Hauptursache war aber doch, dass Deutschland sich durch seine Säbelrasselnde Weltmachtsanstrebungen immer mehr von den anderen Europäischen Großmächten entfernt und sie anstatt (wie geplant) gegeneinander auszuspielen, gegen sich verreint hat.

Das ist nicht ganz korrekt. Ohne jede Fragen hat das Deutsche Reich am Vorabend des Ersten Weltkrieges eine Anzahl von schweren Krisen ausgelöst und verschärft. Das ging schon bis am dem Rande des Krieges. Aber gerade zuletzt in den Balkankriegen hat es eine konstruktive, zielgerichtete und erfolgreiche Zusammenarbeit im Sinne des Friedens zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich gegeben. Und in Großbritannien hatte man die die russischen Zumutungen bei obenhin.


Es ist zu berücksichtigen das mit der Regierungsübernahme der Liberalen eine ganz andere Außenpolitik praktiziert wurde. Der neue britische Außenminister hat die tradtionelle Balance or power politik verlaßen und zielstrebig die Entente Cordiale immer mehr zu einem Bündnis ausgebaut und gleichzeitig den Ausgleich mit Russland gesucht. Grey hatte ein sehr negatives Bild von Deutschland und er wollte maximale Sicherheit für sein Land. Was er aber übersah, war, das seine Außenpolitik das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn damit immer mehr in die Ecke drängte. Grey wollte sicher kein Krieg, dafür hing er viel zu sehr am Frieden, er hat aber der unseligen Mächtekonstellation, die Aufteilung in zwei unterschiedlich starke Blöcke mit vorangetrieben.
 
Ok danke, jetzt wird mir die Sache klarer aber eins noch:

Aber gerade zuletzt in den Balkankriegen hat es eine konstruktive, zielgerichtete und erfolgreiche Zusammenarbeit im Sinne des Friedens zwischen Großbritannien und dem Deutschen Reich gegeben. Und in Großbritannien hatte man die die russischen Zumutungen bei obenhin.

Hast du dafür Beispiele/Belege? Soweit ich weiß hat das DR den Österreichern einfach absolute Unterstützung zugesagt (Nibelungen-Treue) und so im Balkan den "Deckel draufgehalten".

Ich kenn mich aber in den Balkankrisen nich gut aus, hab halt einfach von deutschen Friedensbemühungen( in der Bosnischen Annexionskrise (?)) noch nie was gehört...

Das hört sich so gar nicht nach Wilhelm II an ;-)

lg
 
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Wilhelm II. führte gegenüber den Botschafter Österreich-Ungarns Szögyényi aus, "[...] offen gesagt... bei der Annexionskrise die günstige Gelegenheit versäumt habe, mit Waffengewalt Serbien zu züchtigen. In der gegebenen Situation müsse es ihm schwer fallen, Seinem Volke plausibel zu machen, das man sich deshalb schlagen solle, weil die Ebene von Skutari oder der Skutarisee nicht albanesisch, sondern montenegrinsch werden soll. (1)

Auf der von Großbritannien angregeten Botschafterkonferenz in London gelang es aufgrund der ausgezeichneten Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien einen europäischen Krieg zu verhindern. Grey schrieb dazu an Lloyd Geroge, " Diplomatically we have past the biggest rocks..." (2) Lichnowksy schrieb im ähnlichen Sinn nach Berlin.

Auch während des 2.Balkankrieges bemühten sich Großbritannien und das Deutsche Reich um eine Lokalisierung des Konflikts und wirkten mäßigend auf Österreich-Ungarn ein. Großbritannien nahm aber auch auf Rußland entsprechenden Einfluß.

So schrieb Wangenheim am 27.09.13 an dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, "es sei unübersehbar, daß zwischen uns und Österreich eine tiefe Kluft durch das Ziehen an verschiedenen Strängen entstanden ist." (3)



(1) Schöllgen, Imperialismus, S.355f
(2) House of Lords/Records Office, NL Lloyd George C4/14
(3) Ausgewählte Aktenstücke zur orientalischen Frage, NR. LXXXI
 
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