Zu dem Modeströmungen gehört auch: Je weiter man sich von den Quellen entfernt, desto näher sei man an der Wahrheit. Das Ganze läuft dann unter dem Etikett "Quellenkritik".
Ganz abseitig vom Thema beschreibst du zwar völlig richtig den Umstand, dass Kritik (ich mache das mal etwas globaler und nicht so konkret auf die Q-Kritik bezogen) manchmal nicht mehr um der Sache sondern um ihrer selbst Willen geübt und deshalb pauschal wird, auf der anderen Seite schüttest du aber - zumindest in der Formulierung - das Kind mit dem Bade aus.
Du hast Recht, dass Kritik, wenn sie zur Ideologie erhoben wird und nicht mehr Werkzeug der Wahrheitsfindung bzw. Identifizierung der Missstände und in Folge Verbesserung der Verhältnisse ist, wertlos oder gar kontraproduktiv wird.
Speziell was die Q-Kritik angeht - ich beschränke mich hier auf schriftliche Quellen -, so wäre es ein Missverständnis sie als Legitimation die Quellen gegen den Strich zu lesen zu sehen. Die Q-Kritik ist ein weites Feld, bei der zu allererst die Frage nach der Überlieferung und der Absicht einer Quelle gestellt werden muss. Z.B. ist es nicht ganz uninteressant, dass etwa viele antike Quellen uns meist nur in mittelalterlichen Handschriften überliefert sind oder aus welchen Quellen sich wiederum ein Autor bedient hat - und sei es schlicht, dass er Formulierungen für ein Ereignis seiner Zeit aus der Vulgata als literarisches Vorbild entlehnt.
Als Nächstes - und hier liegen wohl bei beiden Extremen die größten Missverständisse vor - muss gefragt werden, welches Interesse der Autor einer Quelle hatte und für wen er schrieb. Die Briefe Ciceros an Atticus sind anders zu bewerten, als die Briefe römischer Soldaten an ihre Angehörigen.
Hierzu kann man z.B. versuchen die gewählten Narrative zu dekonstruieren.
Als Beispiel sei hier die Abweichung des Matthäus-Evangeliums vom Markus- und Lukasevangelium bezüglich der Auferstehung Christi genannt: Es muss Gründe geben, warum er zur Urversion des Markus von der Feststellung der Auferstehung Christi durch die Frauen die Sanhedrin-Wächter dazuerfindet. Meine Meinung dazu habe ich an anderer Stelle genannt, sie ist hier nicht Thema.
Es gibt diesen nicht unberechtigten, aber leider völlig überstrapazierten bekannten Spruch, dass Geschichtsschreibung die der Sieger sei - dies wird von Laien gerne angeführt, in der fachwissenschaftlichen Q-Kritik ist das aber kaum ein ernsthaftes Thema. Deshalb würde ich auch nicht von Moden sprechen.
Was nun speziell die Zahlen angeht, so sind diese ja in der Tat nicht immer ganz unproblematisch, gerade dann, wenn wir keine Einheitengrößen kennen. Bei den Römern können wir sagen: Eine Legion war bei Vollbesetzung so groß, eine Kohorte so groß und die Hilfstruppen umfassten bei Vollbesetzung diese oder jene Menge. Da wir davon ausgehen können, dass die Armeen so gut wie nie in Vollbesetzung aufmarschierten, können wir, wenn wir die Einheiten eines Ereignisses genannt bekommen, zumindest die mögliche Höchstzahl einschätzen und davon ausgehen, dass es realiter weniger Menschen waren. Bei Heerhaufen, von denen wir nur eine wage Vorstellung haben, sind die Zahlenangaben dagegen kaum überprüfbar, wir können sie allenfalls als realistisch oder unrealistisch einschätzen und müssen den Historiographen keinen Glauben schenken. Andere Quellen sind da verlässlicher und das macht eben den wesentlichen Unterschied zwischen Überresten und Traditionen aus. Wenn in einem mittelalterlichen Archiv etwa Rechnungen darüber gefunden werden, dass 20.000 Soldaten von Brindisi nach Akko verschifft wurden, dann können wir ziemlich sicher davon ausgehen, dass es auch etwa 20.000 Soldaten waren - es sei denn, andere Daten widersprechen dem, etwa die Menge der verwendeten Schiffe. Wenn Rodrigo Jiménez de Rada 1212 Zahlenangaben über die Menge der Soldaten, die gegen die Almohaden zogen macht, können wir diese ebenfalls einigermaßen ernst nehmen. Er tritt uns zwar als Historiograph entgegen, ist aber als Erzbischof von Toledo bei genanntem Feldzug sozusagen der Cheflogistiker gewesen. Er muss also eine ungefähre Vorstellung davon gehabt haben, wie viele Pferde und Soldaten seine Leute zu versorgen hatten. Auf der anderen Seite wissen wir, dass Siege gerne etwas heroischer dargestellt und Niederlagen gerne mit der drückenden Übermacht der Gegner beschönigt werden.