Wieso wird die russische Flotte in den Einschätzungen derart vernachlässigt? Immerhin lag das Russische Reich bei den Investitionen in die Flotte 1900 vor dem Deutsche Reich und hat die Deutsche Seite 1913/14 überholt, so dass das Reich hinter England, USA und eben hinter dem Zarenreich zurückfiel. Bei der russischen Flotte galt auch ein konkretes Ziel, nämlich 60% der deutschen Flottenstärke zu erreichen.
Noch mal kurz zur Einschätzung der russischen Ostseeflotte: Das angestrebte Verhältnis 60:100 bezog sich übrigens auf das Verhältnis der Ostseeflotte zur deutschen Hochseeflotte insgesamt….also sehr ambitioniert.
Nimmt man das operative Geschehen und die Einheiten stärke zur Kenntnis, so war die russische Ostseeflotte in der Stärke der deutschen wohl eindeutig überlegen. Zu Anfang des Krieges lief diese auch zu einer offensiven Operation aus
Um 1900 war die Marineakademie zu dem Schluss gekommen, dass die deutsche Übermacht in der Ostsee im Falle eines Konfliktes nicht nur zur Besetzung der baltischen Länder, sondern auch von St. Petersburg führen würde. Um das zu verhindern, sollte die russische Flotte in der Ostsee stärker als deutsche, mindestens aber gleich stark werden. Diese Überlegungen führten zum russischen 20-Jahres-Marinebauprogramm 1903-1923, das 35 Schlachtschiffe, 18 Panzerkreuzer, 38 kleine Kreuzer und 509 Torpedoboot-Zerstörer und Torpedoboote für die baltischen und die Pazifik-Flotte vorsah.
Nach dem verlorenen Krieg wurde die Neu-Organisation der Marine begonnen und 1906, übrigens gegen den Willen des damaligen Marineministers, die Errichtung eines Marinegeneralstabes (Genmor), der dem Zaren direkt unterstellt war und dadurch über große Machtbefugnisse verfügte. Genmor sah zwar weiter die Ostsee als einen künftigen Hauptkriegsschauplatz, stellte aber das strategische Konzept grundlegend um. Man gab Libau und Dünamünde als Stützpunkte zugunsten von Reval auf und wollte sich ausschließlich auf die Defensive konzentrieren.
Anfang 1907 kam es dann zu einer neuen formellen Aufgabenerteilung für die baltische Flotte. Danach sollte sie der Verteidigung der Küsten dienen, aber jedenfalls in der Lage sein, jede Landung östlich von Narva zu verhindern. Von einem neu ausgearbeiteten ehrgeizigen Flottenprogram passierte nur ein Rudiment die Duma: 4 Dreadnoughts und 3 U-Boote mit einem Mutterschiff. Im Sommer 1909 legte Genmor ein neues Bauprogramm vor . Es sah für die baltische Flotte bis 1920 8 Dreadnoughts, 4 Schlachtkreuzer, 9 kleine Kreuzer, je 36 Zerstörer und Torpedoboote und 20 U-Boote vor. Die Regierung strich das Programm zusammen, aber dennoch passierte es nicht die Duma. Diese bewilligte erst 1910 einige Neubauten für die Schwarzmeer-Flotte, jedoch keine weiteren für die baltische Flotte.
1912 schließlich gelang es dem neuen Marineminister Admiral Grigorovitsch, ein „kleines“ Bauprogramm durch die Duma zu bringen, das aber schon 1912 bis 1916 verwirklicht werden sollte und für die baltische Flotte u.a. 4 Schlachtkreuzer, 8 kleine Kreuzer und 36 Zerstörer vorsah. Durch dieses stark gedrängte Programm waren im Haushaltsjahr 1913/14 die für die russische Marine bewilligten Mittel stärker als die für die Kaiserliche Marine.
Bei Kriegsbeginn standen indessen außer dem von der Vulkan-Werft in Stettin gebauten Zerstörer „Novik“ der baltischen Flotte keine modernen Schiffe zur Verfügung. Die 1909 auf Kiel gelegten Dreadnoughts waren infolge der allgemeinen Rückständigkeit der russischen Industrie noch weit von der Fertigstellung entfernt.
An schweren Einheiten waren 4 Pre-Dreadnoughts vorhanden, sowie 6 relativ moderne Panzerkreuzer, deren Bewaffnung jedoch denen der deutschen, nach der Roon-Klasse gebauten, weit unterlegen war.
Trotz der offensiven Militärdoktrin, die Russland seit jeher für seine Armee verfolgt hat, war 1914 die gesamte 6. Armee ausschließlich für die Verteidigung St. Petersburgs vorgesehen. Das allein zeigt schon, wie die russische Führung die Kräfteverhältnisse in der Ostsee auch 1914 noch einschätzte. Ein unmittelbarer deutscher Angriff über See auf die Hauptstadt des Zarenreichs wurde für möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich gehalten. Genmor rechnete mit einem direkten Angriff in den Finnenbusen hinein, Hinter Minenfeldern und schweren Küstenbatterien sollte die russische Flotte dort den deutschen Angriff erwarten, in einer Position, die sich auf den neuen Hauptstützpunkt Reval und auf das schon ausgebaute Helsingfors abstützte. Davor sollte die Kreuzerdivision zum Schtz der Minensperren patroullieren. Admiral von Essen, der Flottenchef, rechnete, anders als Genmor, mit nur schwachen deutschen Streitkräften in der Ostsee und befürwortete stattdessen offensive Minenunternehmungen. Beide Beuteilungen sahen jedoch die faktische Aufgabe der Küste bis zum Eintritt des Finnenbusens vor.
Entsprechend diesen Planungen begannen die Russen am 31. Juli 1914, in ihrer „Zentralen Verteidigungsposition“ einige tausend Minen auszulegen und am 2. August mit der Zerstörung der Hafenanlagen von Libau.
Erst als sich Anfang September herausstellte, dass die Essen’sche Beurteilung – nur schwache deutsche Kräfte in der Ostsee – richtig war, begann die russische Flotte mit einigen aktiven Operationen des Kreuzerverbandes. Nachdem aber am 11. Oktober 1914 U-26 den russischen Kreuzer Pallada versenkt hatte, zogen die Russen alle schweren Einheiten aus der Linie vor den Minensperren zurück.
Die von Essen geplante nächtliche Minenoffensive wurde zunächst nur von Zerstörern getragen und war sehr erfolgreich. Daraufhin wurden weitere Minenoperationen auch durch schnell provisorisch dafür ausgerüstete Kreuzer durchgeführt. Trotz zwischen dem 14. und 16. Dezember 1914 gelegter mehr als 400 Minen zur Verseuchung der Zugänge zur Danziger Bucht, unter West-Deckung durch englische U-Boote, ging darauf in den nächsten Jahren nur ein deutscher Frachter verloren, da die Sperren schlecht positioniert waren. Letzlich war dieser Einsatz der kreuzer erfolglos, allerdings blieb er auch ohne Verluste.
Hätte Russland wirklich schwere Einheiten 1914 offensiv eingesetzt, wäre ihre Überlebenswahrscheinlichkeit äußerst gering geesen, da in diesem Fall ein deutsches Dreadnought-Geschwader schnell zur Stelle gewesen wäre. Damit wäre die russische Marine-Präsenz in der Ostsee beendet gewesen mit kaum absehbaren Folgen für den weiteren Kriegsverlauf. Insofern war ihr Verbleiben im Finnenbusen als "fleet in being" wohl die für Russland vorteilhafteste Lösung.