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Aus Natur und Herrschaft: Analysen zur Physik der Macht, Kapitel von Christian Kaiser
S. 99 Eneas pater und konkurrierende Vaterschaftsansprüche schrieb:Nach Dantes Ansicht ‒ und damit bezieht er sich nach eigener Aussage erneut auf Aristoteles’ Politik ‒ gibt es eine natürliche, angeborene Veranlagung zum Herrschen, die sich nicht nur auf Einzelne beschränken muss, sondern sich auch auf ganze Völker beziehen kann. Für ihn ist das römische Volk von der Natur zur Herrschaft über die gesamte Menschheit bestimmt.
= schrieb:Das Leitthema des gesamten zweiten Buches der Monarchia ist ja die Frage, ob das römische Imperium als Herrschaft über den Erdkreis rechtmäßig war bzw. ist. Dante versteht darunter aber nicht menschliches, sondern göttliches Recht bzw. Naturrecht.
S. 101 schrieb:Der Stamm, d. h. die Blutlinie wird geadelt. Vor dem Hintergrund des ausgebreiteten Nobilitätskonzepts ist dies leicht verständlich, weil der Einzelne durch seine tugendhaften Leistungen unter Beweis stellt, dass er per göttlichem Intellekt etwas realisieren konnte, was zuvor durch die virtus des väterlichen Samens angelegt und vorbereitet worden war. In diesem Sinne gilt auch in der Monarchia: Das römische Volk als Ganzes – nicht automatisch jedes einzelne Mitglied – ist „nobilissimum“, weil sein „Vater“ Aeneas den Stamm geadelt hat.
Nun war der trojanische Held durchaus bestrebt, selbst auch reproduktiv zu wirken und seine virtus ‒ gemäß der oben dargelegten physiologischen Terminologie ‒ impressiones in die Materie der Frauen bewirken zu lassen. Das Blut, das zuvor über seine (vor-)väterlichen Ahnen aus allen Erdteilen in ihn geflossen war, verströmte er nun wieder (in Gestalt des Spermas als Derivat des Blutes) in die hohen Frauen aus allen Erdteilen: Creusa aus Asien, Dido aus Afrika und Lavinia aus Europa. Dante betreibt mit diesem „duplex concursus sanguinis“, dem Hinein- und dem Hinausfließen „in unum virum“ genau die reductio ad unum, die er während des ganzen Traktats auf den Weltmonarchen hinordnet, nun also im Zeichen des Blutes. Es wurde bereits gesagt, dass die Natur mittels des Spermas im aristotelisch-biologischen Verständnis als Beweger der empfangenden Materie betrachtet wurde.
Wenn Aeneas derjenige ist, der mittels seiner virtus diese Bewegung in alle Teile der Welt bringt, fungiert er als der Proto-Monarch, der „unicus motor“. Aeneas hat seine biologische Vaterschaft durch seine Partnerinnen, die zusammen alle Teile der Welt repräsentieren, auf den Erdkreis ausgedehnt. Er hat seinen Samen und mit diesem die inhärente Formkraft auf optimale Weise ausgesät, und zwar auf den sanguis menstruus der ihn empfangenden Frauen, d. h. in die materia.
S. 103 schrieb:Bereits im Convivio hatte er das römische Imperium als von Gott auserwählte Weltherrschaft ausgerufen, weil dem Volk der Latiner das erhabene Blut der Trojaner beigemischt worden sei, wodurch das römische Volk die beste natürliche Disposition zum Herrschen erlangt habe. Wichtig ist nun, dass sich Dante die spätere translatio imperii nicht als bloße Amtssukzession vorstellt, die von den Römern auf die Deutschen übergegangen sei – und schon gar nicht der Einsetzung durch den Papst oder durch das Volk bedurft hätte –, sondern als biologische Deszendenz.
S. 104 schrieb:Die Idee der dem Blut einer Dynastie inhärenten königlichen Qualitäten und Potentiale hat Dante nicht erfunden; sie wurde bereits vorher vertreten und etwa 80 bis 90 Jahre früher sehr prominent im Umkreis des Stauferkaisers Friedrich II. weiterentwickelt. An der Modellierung der geschlossenen Blutlinie hatte Vergil – unangefochtener Inhaber des Patronats über die essentiellen Denkfiguren in Dantes Monarchia – mit seiner Abstammungserzählung, die von Aeneas über dessen Sohn Ascanius/Iulus, dann fortgeführt über Julius Caesar bis zu Augustus, dem Friedens- und Weltherrscher, reicht (Aen. I 260–296), entscheidenden Anteil. Dante ist mit den Schriftzeugnissen der Historiker am Hof Friedrichs II. und seiner Erben gut vertraut; für ihn ist der Staufer einer derjenigen Herrscher, bei denen man von den äußeren Zeichen (den frutti bzw. signa) auf die causa, d. h. die Nobilität der Seele schließen konnte. Und auch wenn sein Sohn Manfred nach menschlichem Recht ein illegitimer Abkömmling war, so gilt er nach dem dargelegten Verständnis der Danteschen nobilitas naturalis als biologischer Spross des Edlen, der selbst tugendhaft war, konsistenterweise zurecht als „wohlgeboren“. Grundlegendes Merkmal von Wohlgeborenheit ist in dem hier beschriebenen Sinne die Abstammung vom Samen der römischen Vorfahren – und wie bereits dargelegt besteht aller Grund, das wortwörtlich zu verstehen. Das betrifft nicht nur, aber vornehmlich auch die Florentiner, die dem Imperator erbitterten Widerstand leisten. Nach Dantes Überzeugung sind dafür nicht diejenigen Einwohner seiner Geburtsstadt verantwortlich, die – wie er selbst und sein Ahn Cacciaguida – von den Römern abstammen, sondern die Abkömmlinge des etruskischen Fiesole, denen der Exil-Florentiner die Schlechtigkeit quasi in ihren Erbanlagen attestiert und die gerade die Rädelsführerschaft innehaben. Doch das auf das Blut fixierte Denken beschränkt sich nicht auf diese Kontexte: Auch in seinem Brief an „alle und alle einzelnen Könige Italiens, Senatoren der ehrwürdigen Stadt [Rom] sowie Herzöge, Markgrafen, Grafen und Völker“ beschwört der Dichter das „Langobardenblut“ (d. h. die Italiener), der Barbarei zu entsagen und dem Samen der Trojaner und Latiner, falls denn noch etwas davon in den von ihm Angesprochenen vorhanden sein sollte, Raum zu geben. Damit verbunden ist die Unterwerfung unter den römischen König, den Gott als Herrscher vorherbestimmt habe, wie aus wunderbaren Zeichen erhelle. Das ist auch die Botschaft, die Dante im April 1311 unmittelbar an Heinrich VII. richtet: Er, der Nachfolger Caesars und Augustus’, sei der rechtmäßige Herr, den die ganze Welt erwarte. Unterstrichen wird dieser Anspruch erneut durch Zitate aus der Aeneis, die bezeugen sollen, dass Caesar über den Aeneas-Sprössling Ascanius bzw. Iulus aus dem trojanischen Geschlecht stammt, wobei die Linie unvermittelt bis zu Heinrichs Sohn Johannes, dem „alter Ascanius“, weitergezogen wird.
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