Kant und Mollenhauer

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ErzengelGabriel

Gast
Guten Tag,

Im Rahmen eines Vergleichs von Kant und Mollenhauer in Bezug auf Erziehungwissenschaftliche Theorie stoße ich auf folgendes Problem. Während die Gemeinsamkeiten (Emanzipation, Rationalität, kategorischer Imperativ...) recht offen auf dem Tisch liegen krieg ich irgendwie keinen wirklich verwertbaren Unterschied hin. Mein Prof meinte einer wäre, dass es bei Kant (1724-1804) um einen liberalen Anti-Feudalismus ginge, während Mollenhauer (Kritische Pädagogik um 1960) eher einem Anti-Kapitalismus nacheifert. Schön ... was genau ist das jetzt für ein Unterschied?

Ich weiß, dass es sich hier eigentlich um ein Geschichtsforum handelt. Aber 1. bin ich verzweifelt 2. hoffe ich, dass sich jemand mit der Thematik auskennt und 3. bin ich auch schon für den kleinsten Gedankenanstoß dankbar.

Gehen wir mal einfach davon aus, dass der Prof nicht weiter befragt werden kann zu dem Thema.

Vielen Dank im voraus.

Für den Fall, dass ich mich hier anmelde und die Frage nochmal ins richtige Forum posten soll: Wo wäre sie am besten aufgehoben?
 
Während die Gemeinsamkeiten (Emanzipation, Rationalität, kategorischer Imperativ...) recht offen auf dem Tisch liegen krieg ich irgendwie keinen wirklich verwertbaren Unterschied hin. Mein Prof meinte einer wäre, dass es bei Kant (1724-1804) um einen liberalen Anti-Feudalismus ginge, während Mollenhauer (Kritische Pädagogik um 1960) eher einem Anti-Kapitalismus nacheifert. Schön ... was genau ist das jetzt für ein Unterschied?

Kant ist vor den hardenberg-stein'schen Reformen anzusetzen. Die Bauern z.B. waren immer noch in der Erbuntertänigkeit. Mollenhauers Pädagogik stand vor ganz anderen Problemen. Da ich Mollenhauer aber nur dem Namen nach kenne, verweise ich mal ganz unverbindlich auf den Zeitgeist der sechziger Jahre.
 
Im Rahmen eines Vergleichs von Kant und Mollenhauer in Bezug auf Erziehungwissenschaftliche Theorie ...
Kant (1724-1804) um einen liberalen Anti-Feudalismus ginge ...
Mollenhauer (Kritische Pädagogik um 1960) eher einem Anti-Kapitalismus...
Schön ... was genau ist das jetzt für ein Unterschied?

Hm, irgendwie kommt mir die Frage bekannt vor (Mollenhauer und Kant • Pädagogik Forum | Paedagogik-Klick.de :)
Vielleicht hilft der Skript von Euler (www.erwbld.de/euler/ab/downloads/material/ss07/SS07Paed_Allg_Theorie.doc) ein bißchen weiter oder dieser (Vier Erziehungstheorien (christlich-normativ bis kritisch-mndig)) oder der Überblick von Friedrich Kron (Grundwissen Pädagogik, UTB). Sonst muss man in den sauren Apfel beißen und ein paar Sachen von Mollenhauer lesen.;)

Die eher oberflächliche Differenz besteht natürlich darin, dass der zeitgenössische (Spät-) Kapitalismus Kant noch gar nicht bekannt sein konnte. Mollenhauer ist (mit Blankertz, Klafki einer der ersten) Vertreter einer kritischen bzw. materialistischen Erziehungstheorie, die sehr deutlich die Zusammenhänge zwischen Erziehung einerseits und den schichtenspezifischen Sozialisationsvariablen - und damit den gesellschaftlichen Strukturen selbst - herausgearbeitet hat. Ob das "anti-kapitalistisch" zu nennen ist?
 
@ jschmidt: Dein Hinweis auf die SS-Vorlesung aus 2007 von Peter Euler gefällt mir sehr gut.

@ Ausgangsfrage:
Im Rahmen eines Vergleichs von Kant und Mollenhauer in Bezug auf Erziehungwissenschaftliche Theorie stoße ich auf folgendes Problem. Während die Gemeinsamkeiten (Emanzipation, Rationalität, kategorischer Imperativ...) recht offen auf dem Tisch liegen krieg ich irgendwie keinen wirklich verwertbaren Unterschied hin. Mein Prof meinte einer wäre, dass es bei Kant (1724-1804) um einen liberalen Anti-Feudalismus ginge, während Mollenhauer (Kritische Pädagogik um 1960) eher einem Anti-Kapitalismus nacheifert. Schön ... was genau ist das jetzt für ein Unterschied?
Ich möchte einmal die Überlegung zu den offensichtlichen Gemeinsamkeiten in Frage stellen, es geht schließlich um die pädagogischen Theorien der genannten Autoren. Ich habe mal ein wenig quer gelesen. Kant soll solche Aussagen gemacht haben wie: "Disziplin oder Zucht ändert die Tierheit in die Menschheit um." (z. B. Immanuel Kant: ber Pdagogik)
Zur Kant'schen Pädagogik habe ich noch ein paar Links gefunden:
http://www.phil-fak.uni-duesseldorf...ss04/HS-20040603-Immanuel_Kant-Paedagogik.pdf
Da stelle ich mir beispielsweise die Frage, was man unter strenger Gemütsbildung verstehen könnte? Etwa in der Schule stillzusitzen? Das denke ich mir jetzt nicht so aus, zumindest lese ich bei C.-H. Mallet (Untertan Kind. Nachforschungen über Erziehung. Ismaning bei München: Max Hueber-Verlag, 1987): "Disiplinierung sieht er [Kant] auch als erste Aufgabe der Schule an. Sie soll zunächst nichts weiter tun, als die Kinder daran zu gewöhnen 'still zu sitzen und pünktlich das zu beobachten, was ihnen vorgeschrieben wird'. Warum? Weil man ihnen den verhängnisvollen Hang des Menschen zur Freiheit nehmen müsse. [...] Als erstes muß man die Kinder zwingen, zu gehorchen und sich zu unterwerfen." (S.165 f) Mallet rückt Kants pädagigischen Überlegungen in die Nähe der Schwarzen Pädagogik, was möglicherweise eine berechtigte Lesart ist:
Der Wartung ist vor allem die Säuglingspflege zuzurechnen. Hier spricht sich Kant vor allem für die Abhärtung und gegen die Verweichlichung des kleinen Menschenkindes aus.
WzW - Immanuel Kant - Über Pädagogik (2/3).
Zentral sind auch diese drei Postulate:
1. Der Erzieher soll dem Zöglinge, bis zu dem Punkte, an dem er sich oder anderen schadet, alle Freiheiten gewähren.
2. Das Kind muß lernen, die Freiheiten anderer zu tolerieren.
3. Dem Zöglinge muß erklärt werden, daß der ihm auferlegte Zwang den Zweck verfolgt, ihm den Gebrauch seiner Freiheit zu ermöglichen.
Immanuel Kants Erziehungslehre - Die "Vorlesung ber Pdagogik": Kants Einleitung
Ich finde das erste Postulat gewissermaßen erstaunlich modern und herausfordernd und insofern kann man Kant denn auch nicht zu den "Schwarzen Pädagogen" rechnen (vgl. z. B. auch Stufen des Bildungsprozesses, Pkt 1, S.8: http://www.klauskraimer.de/kant.pdf). Allerdings eine schier unmögliche Aufgabe ist, die Freiheit durch Zwang zu kultivieren, oder wie Siegfried Bernfeld es nannte: eine Sisyphusarbeit. Allerdings ein interessantes Ideal, daß pädagogischer Zwang nur gerechtfertigt sei zum Zweck der Erreichung von Mündigkeit. Interessant ist auf jeden Fall auch der Vergleich der Kantischen Pädagogik mit den Vorstellung Rousseaus (Gegenüberstellung der Pädagogik Kants und Rousseaus Facharbeit), an dem sich Kant ja gewissermaßen orientiert, aber auch abgegrenzt hat.
Im Falle Kants wäre auf jeden Fall der oberigkeitsstaatliche Impetus zu prüfen. So wurde ihm wohl vorgworfen, "das oberigkeitsstaatliche Denken in Deutschland gefördert zu haben." (Otfried Höffe, Immanuel Kant. München: Beck, 2004/ 6. Auflage, S.213) Wenn ich Höffe richtig verstehe, geht eine solche Kritik aber nicht nur insofern an Kants Intention vorbei, als daß Kant - übrigens schon vor den Preußischen Reformen von Stein und Hardenberg - für einen Rechtsstaat mit grundsätzlichen Beschränkungen jeder Herrschaft eintrat (S.214), sondern vor allem, weil rechtsphilosophische Schlußfolgerungen in direkter Weise auf Kants Freiheitsphilosophie zurückgehen. Bezüglich des nachgefragten liberalen Antifeudalismus finde ich bei Höffe den Hinweis darauf, daß Kant das Adelsprivileg und die Gutsuntertänigkeit der Bauern kritisierte.

Was Mollenhauer betrifft: im Link von jschmidt ist es nachzulesen, daß seine "erziehungswissenschaftliche Theorie" auf der kritischen Sozialphilosophie basiert, d. h. grundlegende Einsichten der Frankfurter Schule bzw. deren Weiterentwicklung durch Habermas voraussetzt. Seine theoretische Entwicklung wurde hier http://kups.ub.uni-koeln.de/volltexte/2004/1087/pdf/DissertationBodoRoedel.pdf gründlich rekonstruiert. Mehr noch, die Dissertation von Bodo Rödel aus 2003 hat im Anschluß an den Überblick von Mollenhauers Arbeiten (Teil I) einen Abriß der Diskursethik erarbeitet (Teil II) vorgelegt und diskutiert im letzten Teil Mollenhauers Ansätze auf der so gewonnenen philosophischen Perspektive.
 
Fortsetzung

Muspilli schrieb:
Ich möchte einmal die Überlegung zu den offensichtlichen Gemeinsamkeiten in Frage stellen, es geht schließlich um die pädagogischen Theorien der genannten Autoren.

Es ist schon seltsam: Ich ging ursprünglich davon aus, daß es diese Gemeinsamkeiten eigentlich doch nicht gibt und muß jetzt zugeben, daß es sie schon auch gibt. Ich habe jetzt einmal die Dissertation von Bodo Rödel zwar nicht ganz durchgelesen, aber es gäbe darin einige Aussagen genauer zu untersuchen. Gegenüber den von Immanuel Kant unterbeiteten Vorschlägen, die sich anhand seiner Vorlesung ja rekonstruieren und mit seiner Philosophie fundieren lassen - auch wenn das sicherlich keine leichte Aufgabe ist - ist das bei Klaus Mollenhauer insofern etwas schwieriger, als daß er ja von der Profession ja Erziehungswissenschaftler war und sich seine Positionen und vor allem die von ihm aufgeworfenen Perspektiven im Laufe seiner Forschung und Lehre sukzessiv verschoben haben, wobei die These von Bodo Rödel (2003) gegebenefalls durchaus stichhaltig ist, "dass er [K. Mollerhauer] sich nicht vollstädnig von der Kritischen Pädagogik abgewendet hat." (S.178) Letztendlich erweist sich aber als ein Unterschied im übrigen, daß die Kritische Pädagogik keine Handlungsanleitungen zu geben vermag, während Kant hier noch unbedarfter durchaus Vorschläge macht. Um weitere Unterschied Mollenhauers zu Kant herauszuarbeiten, wäre wahrscheinlich eine seiner letzten Publikationen ein sinnvoller Ausgangspunkt. B. Rödel (2003) bespricht sie (auf S.90):

Bodo Rödel schrieb:
Allerdings muss auch bedacht werden, dass sich der seit der Renaissance entstehende und mit normativen Implikationen aufgeladene Begriff von Autonomie und Individualität als fiktional erweisen könnte. Diese Meinung vertritt Mollenhauer in seiner Abschiedsvorlesung 1996. [...] Individualität und Autonomie als Erfahrungsgegenstände anzusehen, ist damit (im Anschluss an Adorno) höchstens im Rahmen eines Nachdenkens über [FONT=Arial,Arial][FONT=Arial,Arial]eigene [/FONT]Erfahrungen möglich. [/FONT]
urn:nbn:de:hbz:38-10874


Es wurde hier ja schon "allgemein auf den Zeitgeist der sechziger Jahre" verwiesen. Selbstkritisch hatte Mollenhauer einmal seinen "Eindruck" kundgetan, "dass wissenschaftstheoretische Programmatiken in unserem Fach eher der nachträglichen Rechtfertigung vorgängiger Forschungsinteressen dienen, nicht aber Forschung möglich machen, normieren oder modifizieren." (1982: Marginalien zur Lage der Erziehungswissenschaft) Man war damals tatsächlich der Auffassung, daß sich durch alternative Pädagogik auch die Gesellschaft verändern würde (Stichwort: antiautoritäre Bewegung), die man durch eine kritische Gesellschaftstheorie als begründen erhoffte. Das Projekt kann (aus welchen Gründen auch immer) als gescheitert gelten.
 
Es wurde hier ja schon "allgemein auf den Zeitgeist der sechziger Jahre" verwiesen. Selbstkritisch hatte Mollenhauer einmal seinen "Eindruck" kundgetan, "dass wissenschaftstheoretische Programmatiken in unserem Fach eher der nachträglichen Rechtfertigung vorgängiger Forschungsinteressen dienen, nicht aber Forschung möglich machen, normieren oder modifizieren." (1982: Marginalien zur Lage der Erziehungswissenschaft) Man war damals tatsächlich der Auffassung, daß sich durch alternative Pädagogik auch die Gesellschaft verändern würde (Stichwort: antiautoritäre Bewegung), die man durch eine kritische Gesellschaftstheorie als begründen erhoffte. Das Projekt kann (aus welchen Gründen auch immer) als gescheitert gelten.

Ich kann mich gut erinnern :winke: und finde es einen sympathischen Zug bei M., dass er in der Lage ist, sein Tun zu reflektieren.

Das schmälert ja seine Bedeutung nicht, gerade auch im Hinblick auf die "emanzipatorische Pädagogik", die er mitbegründet und stets verfochten hat: "Der emanzipatorische Einsatz hat den erziehungswissenschaftlichen Diskurs insgesamt verändert, insbesondere interdisziplinär erweitert, der Bildungspolitik Impulse gegeben, Reformen des Bildungsinstitutionsgefüges [...] beflügelt und den Abbau eines autoritären pädagogischen Habitus beschleunigt" (Ruhloff in: Historisches Wörterbuch der Pädagogik [2004], S. 286; ähnlich Oelkers in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte, Bd. VI, S. 232 ff.).

Besagter Zeitgeist aus den 60er scheiterte vielleicht auch an einem Umstand, den Marx schon in der dritten Feuerbach-These (1845) benannt hatte: "Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergißt, daß die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muß." Was die Erziehung der Erzieher betrifft, sind wir 2008 möglicherweise noch nicht weiter als 1968.:weinen:
 
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