@ jschmidt: Dein Hinweis auf die SS-Vorlesung aus 2007 von Peter Euler gefällt mir sehr gut.
@ Ausgangsfrage:
Im Rahmen eines Vergleichs von Kant und Mollenhauer in Bezug auf Erziehungwissenschaftliche Theorie stoße ich auf folgendes Problem. Während die Gemeinsamkeiten (Emanzipation, Rationalität, kategorischer Imperativ...) recht offen auf dem Tisch liegen krieg ich irgendwie keinen wirklich verwertbaren Unterschied hin. Mein Prof meinte einer wäre, dass es bei Kant (1724-1804) um einen liberalen Anti-Feudalismus ginge, während Mollenhauer (Kritische Pädagogik um 1960) eher einem Anti-Kapitalismus nacheifert. Schön ... was genau ist das jetzt für ein Unterschied?
Ich möchte einmal die Überlegung zu den offensichtlichen Gemeinsamkeiten in Frage stellen, es geht schließlich um die pädagogischen Theorien der genannten Autoren. Ich habe mal ein wenig quer gelesen. Kant soll solche Aussagen gemacht haben wie: "Disziplin oder Zucht ändert die Tierheit in die Menschheit um." (z. B.
Immanuel Kant: ber Pdagogik)
Zur Kant'schen Pädagogik habe ich noch ein paar Links gefunden:
http://www.phil-fak.uni-duesseldorf...ss04/HS-20040603-Immanuel_Kant-Paedagogik.pdf
Da stelle ich mir beispielsweise die Frage, was man unter strenger Gemütsbildung verstehen könnte? Etwa in der Schule stillzusitzen? Das denke ich mir jetzt nicht so aus, zumindest lese ich bei C.-H. Mallet (Untertan Kind. Nachforschungen über Erziehung. Ismaning bei München: Max Hueber-Verlag, 1987): "Disiplinierung sieht er [Kant] auch als erste Aufgabe der Schule an. Sie soll zunächst nichts weiter tun, als die Kinder daran zu gewöhnen 'still zu sitzen und pünktlich das zu beobachten, was ihnen vorgeschrieben wird'. Warum? Weil man ihnen den verhängnisvollen Hang des Menschen zur Freiheit nehmen müsse. [...] Als erstes muß man die Kinder zwingen, zu gehorchen und sich zu unterwerfen." (S.165 f) Mallet rückt Kants pädagigischen Überlegungen in die Nähe der Schwarzen Pädagogik, was möglicherweise eine berechtigte Lesart ist:
Der Wartung ist vor allem die Säuglingspflege zuzurechnen. Hier spricht sich Kant vor allem für die Abhärtung und gegen die Verweichlichung des kleinen Menschenkindes aus.
WzW - Immanuel Kant - Über Pädagogik (2/3).
Zentral sind auch diese drei Postulate:
1. Der Erzieher soll dem Zöglinge, bis zu dem Punkte, an dem er sich oder anderen schadet, alle Freiheiten gewähren.
2. Das Kind muß lernen, die Freiheiten anderer zu tolerieren.
3. Dem Zöglinge muß erklärt werden, daß der ihm auferlegte Zwang den Zweck verfolgt, ihm den Gebrauch seiner Freiheit zu ermöglichen.
Immanuel Kants Erziehungslehre - Die "Vorlesung ber Pdagogik": Kants Einleitung
Ich finde das erste Postulat gewissermaßen erstaunlich modern und herausfordernd und insofern kann man Kant denn auch nicht zu den "Schwarzen Pädagogen" rechnen (vgl. z. B. auch Stufen des Bildungsprozesses, Pkt 1, S.8:
http://www.klauskraimer.de/kant.pdf). Allerdings eine schier unmögliche Aufgabe ist, die Freiheit durch Zwang zu kultivieren, oder wie Siegfried Bernfeld es nannte: eine Sisyphusarbeit. Allerdings ein interessantes Ideal, daß pädagogischer Zwang nur gerechtfertigt sei zum Zweck der Erreichung von Mündigkeit. Interessant ist auf jeden Fall auch der Vergleich der Kantischen Pädagogik mit den Vorstellung Rousseaus (
Gegenüberstellung der Pädagogik Kants und Rousseaus Facharbeit), an dem sich Kant ja gewissermaßen orientiert, aber auch abgegrenzt hat.
Im Falle Kants wäre auf jeden Fall der oberigkeitsstaatliche Impetus zu prüfen. So wurde ihm wohl vorgworfen, "das oberigkeitsstaatliche Denken in Deutschland gefördert zu haben." (Otfried Höffe, Immanuel Kant. München: Beck, 2004/ 6. Auflage, S.213) Wenn ich Höffe richtig verstehe, geht eine solche Kritik aber nicht nur insofern an Kants Intention vorbei, als daß Kant - übrigens schon vor den Preußischen Reformen von Stein und Hardenberg - für einen Rechtsstaat mit grundsätzlichen Beschränkungen jeder Herrschaft eintrat (S.214), sondern vor allem, weil rechtsphilosophische Schlußfolgerungen in direkter Weise auf Kants Freiheitsphilosophie zurückgehen. Bezüglich des nachgefragten liberalen Antifeudalismus finde ich bei Höffe den Hinweis darauf, daß Kant das Adelsprivileg und die Gutsuntertänigkeit der Bauern kritisierte.
Was Mollenhauer betrifft: im Link von jschmidt ist es nachzulesen, daß seine "erziehungswissenschaftliche Theorie" auf der kritischen Sozialphilosophie basiert, d. h. grundlegende Einsichten der Frankfurter Schule bzw. deren Weiterentwicklung durch Habermas voraussetzt. Seine theoretische Entwicklung wurde hier
http://kups.ub.uni-koeln.de/volltexte/2004/1087/pdf/DissertationBodoRoedel.pdf gründlich rekonstruiert. Mehr noch, die Dissertation von Bodo Rödel aus 2003 hat im Anschluß an den Überblick von Mollenhauers Arbeiten (Teil I) einen Abriß der Diskursethik erarbeitet (Teil II) vorgelegt und diskutiert im letzten Teil Mollenhauers Ansätze auf der so gewonnenen philosophischen Perspektive.