Nationalismus innerhalb der UdSSR - ein Grund für ihr Auseinanderbrechen?

Eigentlich ist die EU fast immer dagegen, dass Völker von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch machen. So z.B. auch als sich vor ein paar Jahren die Kurdische Autonome Region im Norden des Irak abspalten wollte. Zu den wenigen Ausnahmen gehört der Kosovo (wobei das Selbstbestimmungsrecht wiederum nur für den Kosovo als Ganzes in seinen traditionellen Grenzen gelten soll, nicht auch für die serbische Minderheit im Grenzgebiet zu Serbien). Im Fall des Kosovo (der aber nach wie vor nicht von allen EU-Mitgliedern anerkannt wird) wird daher gerne betont, er sei ein Fall „sui generis“ und könne daher keinerlei Präzedenzwirkung für andere Fälle abspaltungswilliger Teilstaaten entfalten.
 
"Die EU" gibt es außenpolitisch so gut wie nicht, grad wenn es um grundlegende Fragen geht. Schon als es um die Anerkennung der jugoslawischen Republiken Slowenien und Kroatien als unabhängig ging, war Deutschland sofort dabei, Frankreich war da deutlich zurückhaltender, wenn ich das richtig erinnere.

Ist halt Politik. Wenn man sich was davon verspricht (zB die Schwächung eines Staates, der als Gegner wahrgenommen wird) gerne, wenns um Verbündete geht auf keinen Fall, und sonst orientiert man sich halt an Werbekampagnen von Hollywood-Stars, wie im Falle des Südsudans...
 
Der Südsudan ist insofern ein Spezialfall, als die Sezession nach einem von der Zentralregierung gebilligten Referendum mit Zustimmung der Zentralregierung (wenngleich erst nach jahrzehntelangem Bürgerkrieg) erfolgte. In einem solchen Fall wäre es schon sehr schwierig, dennoch die Anerkennung zu verweigern.
Ähnlich verlief auch die Abspaltung Eritreas von Äthiopien.
 
Ergänzend ist aber doch die Tatsache zu erwähnen, dass die Sowjetunion letztendlich halt trotzdem entlang der Republiklinien zerbrochen ist. Diese neuen Republiken wurden in den 90ern erstmal vom neuen russischen Staat anerkannt, was auch dem verbreiteten Verständnis des internationalen Rechts entsprach. Andere Unabhängigkeitsbestrebungen (Tschetschenien, Bergkarabach, Transnistrien ...) wurden dagegen entweder bekämpft oder sind eingefroren.

Eine ähnliche Logik sahen wir in Jugoslawien zumindest bis zur Unabhängigkeitserklärung Kosovos auch.

Der Grund dafür dürfte allerdings vor allem darin bestehen, dass die Teilrepubliken (jedenfalls diejenigen an der Außengrenze der Sowjetunion) durch die Verfassung der Sowjetunion erstaunlicher Weise (oder gar nicht so erstaunlich, immerhin war der Kreml ja um eine Fassade der Freiheit bemüht) das theoretische Recht hatten aus der UdSSR auszutreten.
So lange de facto Moskau zetralistisch die Kontrolle ausübte, war daran de facto natürlich nicht zu denken, als es aber zur Krise der Moskauer Zentralmacht kam und diese die Kontrolle verlor, war für die Gebiete an der Peripherie der einfachste Weg sich von Moskau loszusagen, sich auf das verfassungsmäßige Recht der Teilrepubliken zum Austritt zu berufen, was dann allerdings natürlich auch deren territorialen Fortbestand in Form von Nationalstaaten intenndierte.
Hätte man zuerst die Teilrepubliken aufgelöst und neue Föderationssubjekte erfunden, die Moskau hätte anerkennen müssen, hätte man sich nicht mehr auf das Recht der Teilrepubliken zum Austritt berufen können.
 
@Moderatorenteam

Können wir die Diskussion um Selbstbestimmungsrecht vs. territoriale Integrität abspalten (falls sie nicht schon als Tagespolitik gilt)?
Unbedingt. Komplexes und spannendes Thema.

Der Grund dafür dürfte allerdings vor allem darin bestehen, dass die Teilrepubliken (jedenfalls diejenigen an der Außengrenze der Sowjetunion) durch die Verfassung der Sowjetunion erstaunlicher Weise (oder gar nicht so erstaunlich, immerhin war der Kreml ja um eine Fassade der Freiheit bemüht) das theoretische Recht hatten aus der UdSSR auszutreten.
So sehe ich das auch. Und weil es diese internen Grenzen eben schon gab, standen die Unabhängigkeitserklärungen von 14 Sowjetrepubliken nach 1991 eben nicht im Konflikt mit dem Recht auf territoriale Integrität.
 
Der Zerfall oder die Auflösung in Kleinstaaten, Kleinststaaten ist weder an sich gut, 'demokratisch', sinnvoll oder bietet die Basis für stabile, unabhängige Regierungen und Regierungsformen und wirtschaftliche Tragfähigkeit sowie Verteidigungsfähigkeit. Ein Georgierin, nach Deutschland ausgewandert, sagte mal treffend, in Georgien kennt halt jeder jeden, aufgrund der Einwohnerzahl und des kleinen Territoriums. Familienverbände, Korruption und wenig Auswahl beim politischen Personal können und sind oft die Folge, ebenso die militärische und wirtschaftlich-politische Erpressbarkeit oder massive Einflussnahme durch sehr große Nachbar-Staaten.

Die Kleinstaaten im Gebiet des früheren Yugoslawien bieten dafür ein gewisses Anschauungsmaterial. Doch auch Katalonien oder Schottland tendieren vor allem aufgrund der sehr guten eigenen wirtschaftlichen Lage zur 'Sezession' vom weniger prosperierenden Rest. 1979 entdeckte man vor Schottlands Nordseeküste die großen Erdöl-Lagerstätten, vor allem seit dem blüht der schottische Nationalismus....welche ein Zufall.

Die EU unterstützt zurecht nur wenig diese Sezessionsbestrebungen, die nur bei einer engen EU-Anbindung, starken EU-Unterstützung und einer militärischen Mitversicherung innerhalb der NATO und WEU stabil bestehen könnten.

Für die SU gilt bei den Sezessionsbewegungen ab der Gorbi-Administration, dass auch dort vielfach wirtschaftliche Überlegungen , sich vom ineffizienten, scheinbar wirtschaftlich unsteuerbaren sowjetischen Koloss abzukoppeln, und sich festigende, immer deutlicher wahrgenommene oder interpretierte soziale Asymmetrien eine bedeutsame Basis für ein verstärktes regionales Bewusstsein bildete.

Andererseits hatten schon die gewünschten langen personellen Kaderkontinuitäten bei einer verstärkten Betonung der Rollen der jeweiligen Republiken bzw. der jeweiligen Partei-Gliederungen im Rahmen der angestrebten und erreichten Stabilität und 'Normalität' der vieljährigen Breshnew-Administration zu einer gewissen vorgeformten Regionalisierung bis 'Nationalisierung' geführt, oft die Ausgangsbasis für spätere Autonomie- oder Souveränitätsbestrebungen angesichts der wirtschaftlichen und dann legitimatorisch-politischen Schwierigkeiten auf Unionsebene.
 
Achso, sorry, habe ich übersehen....gibt es schon einen eigenen Faden Selbstbestimmungsrecht - Territoriale Integrität ?(älter wie 20 Jahre, also historisch)
 
Der Zerfall oder die Auflösung in Kleinstaaten, Kleinststaaten ist weder an sich gut, 'demokratisch', sinnvoll oder bietet die Basis für stabile, unabhängige Regierungen und Regierungsformen und wirtschaftliche Tragfähigkeit sowie Verteidigungsfähigkeit. Ein Georgierin, nach Deutschland ausgewandert, sagte mal treffend, in Georgien kennt halt jeder jeden, aufgrund der Einwohnerzahl und des kleinen Territoriums. Familienverbände, Korruption und wenig Auswahl beim politischen Personal können und sind oft die Folge, ebenso die militärische und wirtschaftlich-politische Erpressbarkeit oder massive Einflussnahme durch sehr große Nachbar-Staaten.
Ich glaube, das kann man so allgemein nicht sagen. (Russland ist ja auch nicht gerade ein Vorzeigemodell, was Korruption und Vielfalt beim politischen Personal betrifft.)
Durch Sezession entstandene kleinere Staaten können gut oder schlecht funktionieren, das ist von Fall zu Fall verschieden.

Ich verweise etwa auf „Somaliland“, das sich in den 90ern von Somalia abgespalten hat. Im Gegensatz zu Somalia, das seit Jahrzehnten ein „failed state“ (mit einer nicht durch demokratische Wahlen legitimierten Regierung, die nicht einmal ganz Mogadischu effektiv im Griff hat, geschweige den Rest des Landes) ist, ist Somaliland politisch einigermaßen stabil und sogar halbwegs demokratisch. Trotzdem verweigert ihm die „internationale Gemeinschaft“ die Anerkennung und besteht auf der territorialen Integrität Somalias.
 
Doch auch Katalonien oder Schottland tendieren vor allem aufgrund der sehr guten eigenen wirtschaftlichen Lage zur 'Sezession' vom weniger prosperierenden Rest.
Schottland liegt doch ein gutes Stück unter dem UK-Schnitt, was Reichtum bzw Wirtschaftskraft angeht, oder irre ich da? Selbst mit Öl, dass mWn demnächst auszugehen droht.
 
In den 1920ern verfolgten die Kommunisten eine Kampagne namens Korenisaija (Einwurzelung) bezeichnete Nationalitätenpolitik. In dieser Zeit entstanden zahlreiche neue Schriftsprachen für die Minderheitensprache. Auch die heute üblichen Bezeichnungen verschiedener Nationen entstanden teilweise erst in dieser Zeit und wurde mitunter willkürlich festgelegt.
Die Korensisazija-Politik wurde in den 1930ern von einer verstärkten Russifizierung abgelöst.

Die Selbstbezeichnung war Internationalismus. Internationalismus und Weltherrschaft waren aber Zwillinge. Die Sowjet-Union verstand sich als internationalistischer Staat der Arbeiterklasse. Klassenzugehörigkeit und politische Zugehörigkeit standen als Identität im Vordergrund. Erst durch die Verträge mit den Westallierten kam es dazu, dass man kommunistische Bruderstaaten neben sich zuließ.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich glaube, das kann man so allgemein nicht sagen. (Russland ist ja auch nicht gerade ein Vorzeigemodell, was Korruption und Vielfalt beim politischen Personal betrifft.)
Durch Sezession entstandene kleinere Staaten können gut oder schlecht funktionieren, das ist von Fall zu Fall verschieden.

Ich verweise etwa auf „Somaliland“, das sich in den 90ern von Somalia abgespalten hat. Im Gegensatz zu Somalia, das seit Jahrzehnten ein „failed state“ (mit einer nicht durch demokratische Wahlen legitimierten Regierung, die nicht einmal ganz Mogadischu effektiv im Griff hat, geschweige den Rest des Landes) ist, ist Somaliland politisch einigermaßen stabil und sogar halbwegs demokratisch. Trotzdem verweigert ihm die „internationale Gemeinschaft“ die Anerkennung und besteht auf der territorialen Integrität Somalias.

Somaliland hat(te) vor allem wenig Einwohner, wenige Ressourcen, keinen Wohlstand - und relativ schwache Nachbarn, die weder über vertieftes Interesse und ausreichend militärische Ressourcen verfügten und/oder noch historische Ansprüche stellten.
Dagegen stehen die vielen Klein- und Kleinstaaten in/auf dem Gebiet der früheren SU und des Ex-Yugoslawien.

Nachtrag: Flächenmässig erreicht Somaliland die Größe der früheren BRD - knapp 250.000 km² - bei einer Einwohnerzahl grob Berlins.

Georgien liegt bei 70.000 km²....kleiner Staat.

Schottland liegt doch ein gutes Stück unter dem UK-Schnitt, was Reichtum bzw Wirtschaftskraft angeht, oder irre ich da? Selbst mit Öl, dass mWn demnächst auszugehen droht.
Es waren die Einnahmen aus der Erdölforderung, welche die schottische Nationalbewegung gänzlich für Schottland haben wollte. Die SNP hatte - folgt man dem ZEIT-Artikel vom 17.9.2014, 'Von wegen nur Schafe' - vor dem Referendum in Schottland 2014 postuliert, das BIP pro Kopf sei in Schottland deutlich höher wie in UK insgesamt: etwa 23.300 Pfund und damit 2.300 Pfund höher wie in UK.

Selbst für 2017 wird entlang der Presseveröffentlichung am 26.2.2017 von EUROSTAT deutlich, dass Schottland - zöge man den Ausnahmefall London ab - beim BIP pro Kopf an 2. Stelle der UK-Regionen liegt.

Ohne den Großraum London befand sich damals das Schottische BIP pro Kopf über dem UK-Durchschnitt.
 
Zuletzt bearbeitet:
In den 1920ern verfolgten die Kommunisten eine Kampagne namens Korenisaija (Einwurzelung) bezeichnete Nationalitätenpolitik. In dieser Zeit entstanden zahlreiche neue Schriftsprachen für die Minderheitensprache. Auch die heute üblichen Bezeichnungen verschiedener Nationen entstanden teilweise erst in dieser Zeit und wurde mitunter willkürlich festgelegt.
Die Korensisazija-Politik wurde in den 1930ern von einer verstärkten Russifizierung abgelöst.

Die Selbstbezeichnung war Internationalismus. Internationalismus und Weltherrschaft waren aber Zwillinge. Die Sowjet-Union verstand sich als internationalistischer Staat der Arbeiterklasse. Klassenzugehörigkeit und politische Zugehörigkeit standen als Identität im Vordergrund. Erst durch die Verträge mit den Westallierten kam es dazu, dass man kommunistische Bruderstaaten neben sich zuließ.

Schön notiert.
In der einschlägigen Lit. beschäftigt man sich u.a. damit, ob während Breshnew-Ära eben eine 2. Korenisaija gestartet habe, aufgrund indirekten und direkten Stärkung der Unionsrepubliken im Rahmen jener angestrebten Stabilität und 'Normalität', welche - wie oben schon ausgeführt - die langjährige Stabilisierung der Partei-Kader in den Republiken mit einschloss und damit den Republiken ein größeres Gewicht gab - und eine teils größere Eigenständigkeit.

Und nein, mit dieser Leitlinie aus der Breshnew-Zeit fand keine 2. Korenisaija statt, da Russisch die verbindliche Sprache auch in den Republiken blieb und die wieder konservative Kulturpolitik der Moskauer Administration während Breshnew weder Experimente oder Eigenheiten oder andere, regionale Sprachen förderte.
 
Dagegen stehen die vielen Klein- und Kleinstaaten in/auf dem Gebiet der früheren SU und des Ex-Yugoslawien.
Von den aus Ex-Jugoslawien entstandenen Staaten funktioniert z.B. Slowenien gut und ist voll in der EU integriert. Kroatien musste nach der Unabhängigkeitserklärung 1991 und bis 1995 einen Bürgerkrieg bewältigen, ist aber jetzt auf dem besten Weg, genauso zu prosperieren wie Slowenien. Für die anderen ehemaligen Teilrepubliken Ex-Jugoslawiens gilt: Es kann der Frommste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.
Im Einflussbereich Russlands sieht es genauso aus wie im vermeintlichen Einflussbereich Serbiens, weil diese beiden Staaten nur dem Namen nach Demokratien sind, aber in Wahrheit von Diktatoren regiert werden, deren Macht u.a. auch vom gezielt geschürten Nationalismus abhängt.
Grundsätzlich spricht so gut wie nichts gegen kleinere Staaten, wenn sie sich aus Wirtschaftlichen- und Sicherheitsgründen an größere anlehnen können – siehe EU und Nato.
 
Vielleicht sollte man auch die Chronologie der Ereignisse beachten:
Erst nach der Oktober-Revolution 1917 erklärten Finnland, Polen, Ukraine, Litauen, Lettland, Estland, Georgien, Moldau usw. ihre Unabhängigkeit von Russland. (Nach Februar-Revolution bestand offenbar noch nicht der große politische Wille sich von Russland für unabhängig zu erklären.)
Die Bolschewiki hatte insbesondere über die Gebiete Russland mit nicht-russischer Bevölkerung die Kontrolle verloren. Der Russische Bürgerkrieg und die Nationalen Erhebungen sind nicht getrennt zu betrachten.
Die Korensisazija-Politik und die Gründung der Sowjet-Union als ethnoföderaler Staat sind wiederum Reaktionen auf die nationalen Erhebungen und der Versuch die nicht-russischen Bevölkerungsgruppen wieder auf die Seite der Weltrevolution zu bringen.

Dieser Ethnoföderalismus existierte nur auf dem Papier, da die Sowjet-Union zentralistisch vom Polit-Büro gelenkt wurde.
Die Binnengliederung des Landes in verschiedene Sowjet-Republiken und verschiedene autonome Regionen war jahrzehntelang de facto bedeutungslos, da die Sowjet-Union kein Rechtsstaat war. Erst bei der Auflösung erhielten die Grenzen politische Relevanz.
 
Ganz so negativ sehe ich das nicht. Grundsätzlich stimmt natürlich, dass in einer Diktatur regionale Autonomien politisch bedeutungslos sind, wenn die Bewohner des Autonomiegebiets nicht tatsächlich selbst über eigene Angelegenheiten entscheiden können. Aber immerhin konnten die Völker der UdSSR, die über Autonomie verfügten (sei es in Form von SSR, sei es in Form von ASSR, sei es auf noch kleinerer Ebene), zumindest in Maßen ihre eigenen Sprachen pflegen. In einem Staat mit zahlreichen Sprachen, in dem viele, deren Sprecher keinen regionalen Schutz genossen, bereits ausgestorben sind oder vor dem Aussterben stehen, ist das auch nicht ohne Wert.
 
Vielleicht sollte man auch die Chronologie der Ereignisse beachten:
Erst nach der Oktober-Revolution 1917 erklärten Finnland, Polen, Ukraine, Litauen, Lettland, Estland, Georgien, Moldau usw. ihre Unabhängigkeit von Russland. (Nach Februar-Revolution bestand offenbar noch nicht der große politische Wille sich von Russland für unabhängig zu erklären.)

Mit der Schlussfolgerung wäre ich etwas vorsichtig.
Zwischen Februar-Revolution und Oktober-Revolution, waren immerhin weite Teile Polens, Litauens, Lettlands, Weißrusslands und der Westukraine bereits unter die militärische Kontrolle der Zentralmächte gefallen.
Ein Umstand, der (aus meiner Sicht) auch den Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung in Russland 1917 ein Stück weit delegitimiert, denn Wahlen anzusetzen, während weite Teile des Landes, die im Besonderen von Nichtrussen bewohnt waren, unter Besatzung standen, dürfte natürlich die Teilnahme der Bewohner dieser Regionen an den entsprechenden Wahlen sehr erschwert, wenn nicht komplett verhindert haben.

Mindestens bei diesen Regionen sehe ich da eine ausgebliebene Unabhängigkeitserklärung nicht undbedingt als Beweis für den Mangel an politischem Willen an, hier dürften einfach die Umstände des Krieges freie politische Betätigung extrem erschwert haben.
 
"Noch nach dem Sturz des Zaren ging es um nationale Autonomie in einem demokratischen Russland; erst die Machtübernahme der Bolschewiki Anfang November, die sich auch in Tallinn wiederholte – Riga war seit September von den Deutschen besetzt – ließ keine andere Wahl.

Alle drei Völker erklärten sich 1918 für unabhängig ..."
Karsten Brüggemann: Kleine Geschichte der baltischen Staaten

Das Buch habe ich gelesen -und kann es als Einstieg in die Geschichte des Baltikums nur wärmestens empfehlen - .

Es ändert aber nichts daran, dass dem oben von mir angesprochenen Umstand für die besetzten Gebiete Rechnung getragen werden müsste.

Ganz Polen und weite Teile Litauens, Kurland und einige Gebiete Weißrusslands und der Westukraine waren bereits vor der Februarrevolution von deutschen und österreichischen Truppen besetzt, die Bevölkerung da lebte unter Militärverwaltung und konnte sich politisch nicht völlig frei betätigen.

Um Riga, Teile von Semgallen und Lettgallen, den Osten des heutigen Litauens und weitere Gebiete in Weißrussland und der Ukraine wurde zwischenn Februarrevolution und Oktoberrevolution hart gekämpft.
Teilweise gingen sie für Russland noch vor der Oktoberrevolution verloren (z.B. Riga Anfang September 1917) zum Anderen wird die Bevölkerung in den unmittelbaren Kriegsgebieten andere Sorgen gehabt haben, als theoretische Debatten über eine potentielle Unabhängigkeit zu führen.
In Estland und Finnland, die die abseits der Fronten lagen, und in denen das politische Leben nicht durch eine auswärtige Besatzungsmacht und deren Militärverwaltung eingeschränkt wurde, wird sich sicherlich festhalten lassen, dass Loyalität zu Russland über die Februarrevolution hinaus bestand, (sicherlich in Erwartung von Reformen und Autonomie), inwiefern das aber für die besetzten oder umkämpften Gebiete noch gegeben war, ist viel schwerer festzustellen.
Man kann zwar sagen, dass das Datum der jeweiligen Unabhängigkeiserklärungen im Zeitablauf hinter der Oktoberrevolution liegt, aber daraus lassen sich keine gültigen Schlüssse dafür ziehen, ob es der Machtanspruch der Bolschewiki war, der diesen Willen zur Unabhängigkeit hervorbracht oder aber ob sich hier lediglich nachträglich Bahn brach, was durch die Umstände des Krieges verzögert wurde, weil die die politische Betätigung und den öffentlichen Diskurs einschränkten.

Mindestens im Bezug auf Polen kommt auch hinzu, dass die Zentralmächte bereits 1916 die Errichtung eines von Russland unabhängigen Königreichs Polen proklamiert hatten, wenn auch ohne sich in Details von Grenzziehung, politischen System (sollte natürlich de facto ein Satelitenstaat werden) präzise festzulgegen und in Lettland dürfte auch bekannt geworden sein, dass die deutsche Besatzungsmacht derariges plante ("Baltisches Herzogtum"), was dann auch die Frage auwirft, inwiefern denn eine Proklamation der Unabhängigkeit von Russland überhaupt relevant war, wenn klar war, dass die Zentralmächte das in den Friedensverhandlungen gegen Russland ohnehin durchsetzen würden.
Da dürfte man sich auch eher weniger Gedanken darüber gemacht haben, wie man von Russland loskommen könnte, als darüber, wie man es anstellen könnte nicht zu stark unter deutschen Einfluss zu geraten.



Was du, wenn du dich auf Angermann/Brüggemann beziehen möchtest im Punkto Loyalität der Peripherie zum russischen Imperium vielleicht erklärend hinzusetzen müsstest, ist, dass beide im Bezug auf Estland und Lettland sehr stark herausstellen, dass es in den drei russischen Ostsee-Governements (Estland, Livland, Kurland) vor dem Krieg eine zunehmende Tendenz der estnischen und lettischen Nationalbwegung gab, sich mit dem Imperialen Zentrum gegen die deutsch-baltischen Adlige und Grundbesitzer zu verbünden und dass diese Bewegungen vor dem Krieg ihr Feindbild vor allem in den deutschsprachigenn Eliten dieser Provinzen, nicht so sehr in St.Petersburg und der russischen Regierung sahen, was sicherlich auch mit der Agrar-Frage (Ziel einer Bodenreform auf kosten der deutschsprachigen Großgrundbesitzer) in engem Zusammenhang steht.
Auch wäre hier wichtig zu erwähnen, dass die russische Zentralegierung in diesen Gebieten relativ wenig Druck ausgeübt hatte um in irgendeiner Form die lettische oder estnische Sprache (die sich erst relativ spät zu ausgedehnten Literatursprachen entwickelten) zu unterdrücken, dass St. Petersburg auch die lutherischen Kirchen in den Ostseeprovinzen immer weitgehend in Ruhe gelassen hatte (es Anfang des 20. jahrhunderts in den Ostseeprovinzen sogar eine Konversionswelle zum Orthodoxen Glauben gab, mit dem sich Teile der lettischen und estnischen Bevölkerung von den deutschspachigen Eliten, die die lutherischen Kirchentrukturen kontrollierten, emanzipieren wollten).

Das unterscheidet sich mitunter darstisch von der Politik, die die zaristische Regierung in anderen Landesteilen betrieben hatte.
Der Druck in polnischer Sprache (teilweis auch in Ukrainischer) war ja über lange Zeit verboten und die Zaren und zaristsichen Regierungen hassten die katholische Kirche, die sie im Gegensatz zu den lutherischen Kirchenstrukturen nicht in Ruhe ließen, sondern im 19. Jahrhundert relativ scharf angegriffen hatten.
Auch gab es in Polen und Litauen anders als in den Ostsee-Gouvernements keine ursprünglich landfremde Oberschicht, wie eben die Deutschbalten in den Ostsee-Gouvernements, die seit Jahrhunderten mehr oder weniger alles in dem Gebiet in der Hand hatten, auf Kosten der großer teile der Landbevölkerung, die länger einheimischen Ethnien angehörten.
Das könnte man vielleicht vielleicht für die Westliche Ukraine und Belarus mit ihren traditionell weitgehend an die polnische Kultur assimilierten Adelsschichten reklamieren, für Polen aber nicht und für Litauen allenfalls sehr eingeschränkt, so dass im Besonderen in Polen und in Litauen es keinen anderen großen feind für die Nationalbewegungen gab, der eine Allianz mit der russischen Zentralmacht nahegelegt hätten.

Gerade die militärisch besetzten Territorien in Polen und Litauen, mit ihrer katholischen Bevölkerung und weitgehend ohne innere Feindbilder (Aus Sicht der Nationalbewegungen), die mit dem Kaliber der deutschbaltischen Oberschichten in den Ostsee-Gouvernements vergleichbar waren, hatten weit stärkere Motive sich von Russland loszusagen, als zumindest Lettland und Estland.
Deswegen würde ich hier dem Umstand der eingschränkten Möglichkeiten durch die Besatzung nicht gering schätzen.
 
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