Für Männer und Frauen galten unterschiedliche Verhaltenskodizes, nicht nur... in puncto Sexualität. Dies trifft zweifellos für die bäuerliche Schicht genauso zu wie für die adlige, ritterliche und bürgerliche, doch sind wir nur über die Letztgenannten näher unterrichtet. Verhaltensvorschriften wurden von der höfischen Dichtung und später von bürgerlichen Anstandslehren übermittelt... Während für den jungen Mann Religiosität, Turnierkampf, Solidät als zentral erscheinen, Tugenden, die auf muot, guot, zuht und milte basieren, geht es bei dem Mädchen vorrangig um die Bewahrung des guten Rufes und die Suche nach einem geeigneten Ehemann. Eingeschärft werden ihr Verhaltensweisen, die geeignet sind, die sexuelle Anziehung zu mindern wie Verhüllung des Körpers oder Reduktion der ungezwungenen Bewegung. In den Ehelehren... geht es um die Anerkennung der partriarchalen Vorherrschaft...; wo sie von Geistlichen gepredigt werden, steht daneben die Befolgung kirchlicher Normen besonders im sexuellen Bereich im Vordergrund. Schamhaftigkeit galt primär als weibliche Tugend.
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Wenn man eine Vielzahl von Quellen unterschiedlichen Typs kennt, so erscheint es, aufs Ganze gesehen, wesentlich realitätsgerechter, im Hochmittelalter alles andere denn eine Ära der Frauenmacht zu sehen. Denn die Freiräume, die eine Mathilde von Tuszien, eine Ermengard von Narbonne, eine Eleonore von Aquitanien, eine Aelis von Blois, eine Marie von der Champagne, eine Margarete von Flandern und andere Damen des hohen Adels zeitweise besessen haben mochten, ändern wenig an der sonst gültigen Grundbefindlichkeit der Fremdbestimmung. Frauen standen nämlich im Allgemeinen fast immer und überall unter der gesetzlichen Befehlsgewalt eines Mannes, der patria potestas bzw. der munt... In der Regel konnten sich nur Witwen eines größeren Spielraumes erfreuen.
In ganz expliziter Weise, die nicht wegzudiskutieren ist, kommt die mindere gesellschaftliche Stellung der Frauen aber im Recht zum Ausdruck (es folgt eine längere Abhandlung dieses Kontextes anhand des Sachsenspiegel des Eike von Repgow um 1225 und der Statuta et conduetudines Normanniae anfangs des 13. Jh. - Anm. von mir zur Vollständigkeit).
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Und alle Frauen waren von der ausgesprochen misogynen Strömung betroffen, die einen großen Teil des von Geistlichen stammenden Schrifttums durchwaltete. Sicherlich waren die unendlichen Abqualifizierungen des 'schwachen' Geschlechts primär Konsequenzen der entsprechenden alttestamentlichen und paulinischen Vorgaben, des Zölibatgebots und der patriarchalen Traditionen aus römischer und germanischer Vergangenheit.
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Und doch gab es einen Ansatz, der sehr langfristig zur Veränderung der Positionen führen sollte. Zwei Ideen waren es, eng verwoben, die im christlichen Europa Männer des 11. und 12. Jh. zum ersten Mal dachten: zum einen die Möglichkeit, eine Frau könne wenigstens in der Fähigkeit zu lieben dem Manne gleichen, und zum anderen die Möglichkeit, eine Frau dürfe wenigstens in einem einzigen Punkt autonom und frei entscheiden - nämlich ob sie diese Liebe einem bestimmten Manne zukommen lassen wolle oder nicht. Alles, was die Christianisierung... an Besserung für die Stellung der Frau mit sich gebracht hatte, war ja nicht auf diese Welt bezogen, sondern ausschließlich auf das Eschaton: Nur dort existierte eine Gleichwertigkeit der Seelen.
Jene höfischen Männerphantasien aber, die dem 'schönen Geschlecht' Macht über sich selbst und seine Verehrer einräumten, die frühere Generationen nie eingeräumt hätten, stehen am Beginn einer langen Tradition des Frauenkults und der Galanterie. Der in der Dichtung vorgestellte Minnedienst sollte aus der Welt der Ideen in die Realität einwirken... Es muß solche Fälle der Umsetzung gegeben haben; die Minnelyrik und die Liebesromane waren ja für die öffentliche Performanz zu Hofe gedacht, wodurch gesellschaftlich akzeptierte Ideale propagiert wurden.
Ohne damit die sozioökonomischen und mentalen Veränderungen zu marginalisieren, derer es bedurfte, ehe es im 19. und 20. Jh. zu einer faktischen Emanzipation kam, kann man doch in dem Ideal einer auf gleicher Ebene von beiden Partnern gleich geteilten Liebe, das Vaganten, Troubadours, Minnesänger und Romanciers schufen, die historisch älteste Voraussetzung für die spätere soziale Gleichstellung der Geschlechter sehen. Ein paar Zeilen aus dem "Aeneas-Roman" (um 1160), zu denen sich viele Parallelen stellen ließen, formulieren dies:
Für ein Paar bedarf es zweier,
und jeder sei dem Anderen gegenüber ergeben
und erfülle seine Wünsche.