Ritterlichkeit: Interpretation und Biographien

In meinen Augen ist es nicht unwahrscheinlich, dass Bayard wirklich war, was er zu sein vorgab. Seiner Tochter Jeanne hinterließ er jedenfalls kein Erbe. Einen politischen Vorteil zog er aus seinen Taten ebenso wenig. Die einzige greifbare Belohnung, die er im Leben erhielt, war die Verwaltung des Dauphinats, was aber in die Zeit einer großen "Pestilenz" fiel, und die Steuereinnahmen waren damit nicht verbunden. Die Einkünfte auf diesem Amt (Bußgelder usw.) dürften gering gewesen sein, wenn die Wirtschaft, wie bei Epidemien üblich, am Boden lag.

Ich habe nur zwei Punkte gesehen, wo man an der Legende Bayard kratzen könnte: Die zitierte Passage bei den Funckens über das Hinrichten spanischer Arkebusiere (wobei nicht mal erwähnt wird, ob das auch wirklich geschah), und die Tatsache, dass die Mutter seiner Tochter nicht bekannt ist. In seinem Testament nennt Bayard die Mutter nicht, schreibt aber über Jeanne, als sei sie kein Bastard.

In der französischen Wikipedia wird ein mir nicht bekannter Historiker genannt, der behauptet, dass Bayard – vielleicht auf Vermittlung Königin Annes von der Bretagne – die savoyische Herzoginwitwe geheiratet hat, und Jeanne mit ihr bekam. Wenn das so war, würde er sie an ihrem Witwensitz kennengelernt haben (während seiner Zeit am Hof ihres Mannes war er hoffentlich zu jung für eine romantische Beziehung).

Ist halt eine Wertungsfrage, ob man das als Untreue gegenüber jenem Mädchen aus der Zeit in Savoyen werten würde (nach den Regeln der Minne). Vielleicht ja, vielleicht nein. Auch verheiratete Herren strebten eine solche Beziehung zu einer sozial höher gestellten verheirateten Frau an. Es war dem Ruf beider Seiten zuträglich, und sogar dem Ruf ihres Gatten.
 
Beispiel: die Schlacht von Azincourt 1415. Wie ich bereits an anderer Stelle unter Verweis auf Anne Curry schrieb, hatten die Franzosen zwar keine so haushohe Überlegenheit, wie Shakespeare später daraus machte, doch überlegen waren sie, und zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich drauf und dran, den Sieg zu erringen. Und da gab Heinrich V. den Befehl, die gefangen genommenen Franzosen zu töten.

Die Lage stellte sich ihm nämlich so dar, dass seine von der Ruhr geschwächte Armee mehrere tausend Franzosen vor sich hatte, aber auch einige hundert Gefangene im Rücken, die ihre Bewacher, gering an Zahl, jederzeit hätten überwältigen können. Uns heute erscheint Heinrichs Befehl grausam, verbrecherisch und zutiefst im Widerspruch zu den Werten, die uns als "Ritterlichkeit" überliefert wurden.
Vom Standpunkt der fairness; einem uns allen angeborenem Gefuehl der Gerechtigkeit ; war es schon immer 'ungerecht' ,wenn Bewaffnete Unbewaffnete in ihrer Gewalt willkuerlich 'töten', der Begriff dafuer ist 'ermorden'.
Doch von den Zeitgenossen wurde Heinrich nicht kritisiert, laut Curry äußerten sogar französische Quellen Verständnis. Seinem Ruf schadete sein Befehl nicht. Handelte der König demnach "unritterlich"? Oder ist es nicht eher so, dass unser Bild von Ritterlichkeit entweder falsch ist, oder wir es zumindest nicht richtig in das zeitgenössische Wertesystem integriert haben?
Das bedeutet nichts: wissen wir aus der Geschichte, bis in die lamentabel Gegenwart nicht zu genau, warum Zeitgenossen mit falscher Zunge schreiben?

An dieser Stelle, moechte ich es nicht versaeumen. 'muck' et al ein grosses Kompliment fuer ihre Recherchen & guten Beitraege auszusprechen.
 
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Ich habe nur zwei Punkte gesehen, wo man an der Legende Bayard kratzen könnte: Die zitierte Passage bei den Funckens über das Hinrichten spanischer Arkebusiere (wobei nicht mal erwähnt wird, ob das auch wirklich geschah), und die Tatsache, dass die Mutter seiner Tochter nicht bekannt ist. In seinem Testament nennt Bayard die Mutter nicht, schreibt aber über Jeanne, als sei sie kein Bastard.

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Dass die Mutter seiner Tochter nicht bekannt ist, muss nicht für seine Ehrlosigkeit sprechen. Wenn sie nicht in seinem Testament genannt ist, könnte das auch ganz pragmatische Gründe gehabt haben. Sie war zu dieser Zeit nicht mehr am Leben oder sie hatte sich verheiratet bzw. war verheiratet worden. In ersten Fall bestand kein Grund für ihre Nennung, und im zweiten Fall war es eher Rücksicht ihr gegenüber und ihrer neuen Familie.
 
Vom Standpunkt der fairness; einem uns allen angeborenem Gefuehl der Gerechtigkeit ; war es schon immer 'ungerecht' ,wenn Bewaffnete Unbewaffnete in ihrer Gewalt willkuerlich 'töten'
Das mag sein, allerdings kam es auch im "ritterlichen" Mittelalter häufig vor, dass verwundete oder gefangene Kombattanten während oder nach der Schlacht getötet wurden. In den Quellen findet man dafür allerlei Rechtfertigungen, die aus der zeitgenössischen Perspektive durchaus verständlich sind. Insofern dürfte es sich ein Phänomen gehandelt haben, das mehr oder weniger achselzuckend hingenommen wurde.

Verwundete des Feindes zu töten, ließ sich aufgrund der unzureichenden medizinischen Versorgungsmöglichkeiten als Gnadenakt verkaufen. Fand eine Schlacht zu Beginn eines Feldzuges statt, konnte es sinnvoll sein, Gefangene zu töten, für die kein Lösegeld zu erwarten war, um sich nicht mit ihnen zu belasten. Und kämpfte er gegen Rebellen, stand es dem Sieger frei, die besiegten Feinde mit dem Tod zu bestrafen.

Bezeichnend ist, dass selbst moralisierende kirchliche Chronisten Befehle wie die des fünften Heinrichs als leidige Notwendigkeit hinnehmen.

Es sind dann auch – dem Ideal der Ritterehre verpflichtet – nicht die Mordtaten, die mitunter Empörung auslösten, sondern die Begleitumstände.

So zog Karl der Kühne von Burgund nicht dadurch Verachtung auf sich, dass er 1476 die 412 Verteidiger von Grandson nach ihrer Kapitulation aufknüpfen ließ. Was ihm Kritik und den Hass der Niederen Vereinigung eintrug, war die Tatsache, dass er den Verteidigern freies Geleit versprochen hatte und dieses Versprechen brach. Ein solcher Wortbruch befleckte nicht nur seine Ritterehre, sondern erschütterte auch seine Position als Fürst. Die lehnsrechtliche Vasallentreue und die Bündnistreue verbündeter Mächte beruhten ja gerade auf dem Grundsatz: pacta sunt servanda.
Dass die Mutter seiner Tochter nicht bekannt ist, muss nicht für seine Ehrlosigkeit sprechen.
Von "Ehrlosigkeit" wollte ich gar nicht sprechen. Und dieses "Kratzen" bezog sich auch nur auf die Tatsache, dass er dem Mädchen aus Savoyen – bekannt nur unter ihrem späteren Ehenamen de Frussasco – seine ewige Liebe und Treue geschworen hatte, und er ihr also im Sinne der Minne untreu geworden wäre, sollte Jeanne aus einer anderen Beziehung entstammen.
 
Einleitung

Das Mittelalter ist eine Epoche voller Widersprüche. Einer davon hat mich stets mehr fasziniert als die meisten: der Kontrast zwischen dem weit verbreiteten romantischen Bild von Ritterlichkeit und der verbürgten Realität mittelalterlicher Kriegsführung. Ich möchte diesen Beitrag nutzen, um mich dem Phänomen zu nähern, und die Frage aufwerfen, ob es sich wirklich um einen Widerspruch handelt.

Naja, zwischen phantasievollem Wunschbild und kalter Realitaet bestand doch schon immer eine weite Kluft, oder?
Doch zum Begriff, bzw Nomenklatur 'Ritter':
Ritter = " ‘Reiter, Streiter zu Pferde’ also bewaffnet .(um 1170)" [DWDS]​
'chivalry'; 'chivalrous'; Kavallerie, 'chevalier' [A member of certain male orders of knighthood], daher 'cavalier'|'Kavalier': "1580s, "a horseman," especially if armed, from Italian cavalliere "mounted soldier, knight; gentleman serving as a lady's escort,"[.etymonline.]​
Wobei der engl. Begriff 'knight' komischerweise vom deutschen 'Knecht' abgeleitet ist.[etymonline.]​

Ganz arg ist's um den Begriff 'Raubritter' bestellt= Quintessenz eines Oxymorons.
Am schlimmsten war doch die Ermahnung auf der ersten Innenseite des Soldbuches des d.Soldsaten und sogar der SS :
10 Gebote für die Kriegsführung des deutschen Soldaten​
1. Der deutsche Soldat kämpft ritterlich für den Sieg seines Volkes.​
Grausamkeiten und nutzlose Zerstörung sind seiner unwürdig.​
Was fuer ein Hohn! Wenn das nicht, per "der verbürgten Realität" die Mutter aller Widersprueche darstellt !!
(sorry, bin ich schon wieder 'antideutsch'?)
Deshalb: aus etymologischer Sicht, und "der verbürgten Realität" hat der Begriff 'Ritter', mit Ausnahme von 'cavalliere', m.M. nach nichts mit 'noblesse', 'fair play' od. altruistischem Verhalten zu tun. Daraus schliesst sich doch ,dass das 'weit verbreitete, romantische Bild der Ritterlichkeit' ein in Wirklichkeit fabriziertes Bild ist: es sich also "um einen Widerspruch handelt". Wieso, warum aber? [Groenland ist auch alles andere als gruen, und Iceland alles andere als nur eisig.]

Dass 'Ritter-Sein' war ein Vollzeitjob fuer Prinzen oder hohe adlige Abkoemmlinge, bezahlt vom eigenem Papa oder dem Koenig, dem Fuersten dem der Prinz/knight loyal diente, usw. Job #1 war es ihrem Dienstherrn im Frieden als auch vor allem im Krieg zur Seite zu stehen; waehrend eines Kriegsgefechtes dem Koenig zu beschuetzten, zu verteidigen. Ritter verteidigten im allgemeinen die Flanken des koeniglichen Heeres, besonders kampfbewaehrte Ritter oder Ritter hoher Geburt wurde das Privileg erteilt,unmittelbar links neben dem Koenig zu kaempfen, quasi als seine bodyguard, daher der alte Ausdruck : "Left Side of The Line" weil der Koenig mit dem rechten Arm sein Schwert benuetzt und somit wehrlos an seiner linken Seite ist. (der letzte brit. Koenig, der noch selber mit Schwert und Rittern in's Gefecht zog, war King George II im 'Battle of Dettingen' am 16.Juni 1743 gewesen). The Battle of Dettingen 1743

Vielleicht ist ja der eine oder andere ebenfalls an der Thematik interessiert.
aber gewiss doch :)

Zu den großen Missverständnissen in diesem Zusammenhang zählt außerdem die Annahme, es müsse – nach den Maßstäben seiner Zeit – überhaupt einen Widerspruch darstellen, wenn ein Ritter hier ein Prinz Eisenherz war und dort der Schlächter eines Weilers.
Nun, weniger wohl 'Missverständnisse'als das, was den Leuten sowohl damals als auch heute pure Wahrheit - oft vom Pulpit gepredigt - praesentiert wurde. (similaer zur 'Klimakatastrophe')
Werfen wir einen Blick nach Irland. Das Leben des fabelhaften' High King Brien'* of Ireland; 941- 1014, dessen Biographie usw in der 'The History of Ireland, Volume the First', 1763; von Ferdinando Warner (1703-1768) beschrieben wurde und von Thomas Moore (1779 - 1852) zur Vorlage seiner beruehmten Ballade 'Rich and rare were the gems she wore'. ..... 'Erin' ist King Brien[Brian]
Hier ist die dazugehoerige Abbildung aus 'Irish Melodies' by Thomas Moore ,@ 1876; als0 kein copyright auf das Bild.

RICH AND RARE WERE THE GEMS SHE WORE
Rich and rare were the gems she wore,
And a bright gold ring on her wand she bore;
But oh! her beauty was far beyond
Her sparkling gems, or snow-white wand.
"Lady! dost thou not fear to stray,
So lone and lovely through this bleak way?
Are Erin's sons so good or so cold,
As not to be tempted by woman or gold?"
"Sir Knight! I feel not the least alarm,
No son of Erin will offer me harm: -
For though they love woman and golden store,
Sir Knight! they love honour and virtue more!"
On she went, and her maiden smile
In safety lighted her round the Green Isle;
And blest for ever is she who relied
Upon Erin's honour and Erin's pride.
--Thomas Moore
(Benjamin Britten hatte die Ballade spaeter in Musik versetzt).

*This ballad is founded upon the following anecdote: "The [Irish] people were inspired with such a spirit of honour, virtue and religion, by the great example of [King] Brien, and by his excellent administration, that, as a proof of it, we are informed that a young lady of great beauty, adorned with jewels and a costly dress, undertook a journey alone from one end of the kingdom to the other, with a wand only in her hand, at the top of which was a ring of exceeding great value; and such an impression had the laws and government of this Monarch made on the minds of all the people, that no attempt was made upon her honour, nor was she robbed of her clothes or jewels."— Warner's History of Ireland, Vol. 1, Book 10.
The History of Ireland, Volume the First, 1763)

☙ ❧



 

Volle Zustimmung. Und wegen dieser, als unethisch empfundenen Praktiken , entstand - unter Einfluss von Florence Nightingale (Krim Krieg) - das Rote Kreuz.
 
Und wegen dieser, als unethisch empfundenen Praktiken , entstand - unter Einfluss von Florence Nightingale (Krim Krieg) - das Rote Kreuz.
offtopic: Ohne die Leistungen von Florence Nightingale im Sanitätswesen schmälern zu wollen, geht die Gründung des Roten Kreuzes auf die Erfahrungen Schweizers Henry Dunant während der Schlacht bei Solferino 1859 zurück. Er setzte als Neutraler durch, dass alle Verwundeten von jeder Seite behandelt wurden - und nicht nur die "eigenen Verletzten" behandelt wurden. Auch die Wahl der Flagge des Roten Kreuzes stellt eine Umkehrung der Schweizer Flagge dar.
 
Wobei der engl. Begriff 'knight' komischerweise vom deutschen 'Knecht' abgeleitet ist.[etymonline.]​
Das ist zwar jetzt eher nebensächlich, aber so wie geschrieben, ist das falsch. Das englische knight ist kein Lehnwort von dt. Knecht, sondern eine Kognate, also wie 'Knecht' ein gemeinsames Erbwort.
Die Frage ist nun: Ist es komisch, dass knight auf engl. den Ritter meint, wohingegen das dt. Knecht eine in der Hierarchie unten stehende Figur meint?
Zunächst einmal sei auf die semantische Verschiebung hingeweisen. Im Laufe der Geschichte erweitern und reduzieren Worte ihre Bedeutung, wenn einer Bedeutungsreduktion eine Bedeutungserweiterung vorausgeht, dann hat man im Prinzip eine semantische Verschiebung.
Der Ritterstand entstand aus Unfreien (Ministerialen), welche aufgrund der ihnen übertragenenen Verantwortung oft zu einem gewissen Reichtum kamen und dann Aufgaben übernahmen, welche arme Bauern, die zunächst im Heeresaufgebot waren, sich aber in den Statuts der Unfreiheit begaben, weil sie sich keine guten Waffen leisten konnten, nicht mehr übernahmen. Ich weiß nicht, ob das englische knight daher rührt, oder ich hier unzulässigerweise kontinentale Sachverhalte auf England übertrage, aber zumindest wäre das eine Erklärung, warum der englische Ritter einen Titel trägt, der mit dem deutschen Knecht, eben einem Unfreien, etymologisch verwandt ist.
 
offtopic: Ohne die Leistungen von Florence Nightingale im Sanitätswesen schmälern zu wollen, geht die Gründung des Roten Kreuzes auf die Erfahrungen Schweizers Henry Dunant während der Schlacht bei Solferino 1859 zurück. Er setzte als Neutraler durch, dass alle Verwundeten von jeder Seite behandelt wurden - und nicht nur die "eigenen Verletzten" behandelt wurden. Auch die Wahl der Flagge des Roten Kreuzes stellt eine Umkehrung der Schweizer Flagge dar.
Du hast vollkommen Recht und ich weiss das auch.
To establish societies such as suggested by Dunant was beyond the powers of one man alone. So four Genevese citizens rallied round Dunant, and together they decided to invite all the sovereigns of Europe to send to Geneva experts and representatives to whom the great idea would be submitted. That conference took place in 1863. It marked the foundation of the Red Cross.
[...]
Dunant, who had the greatest admiration for Florence Nightingale, sent her a copy of his book. (Quelle siehe unten: Pierre Boissier)

Henry Dunant waren jedoch die unvorstellbar grausigen Zustaende der Truppen auf beiden Seiten im Krim Krieg bekannt gewesen. Ausserdem war Dunant in Kontakt mit Florence gewesen. Deshalb schrieb ich "unter Einfluss".
Im Buch von Elsbeth Huxley: 'FLORENCE NIGHTINGALE' aeussert Elsbeth Huxley die !Meinung! dass FN zur Gruendung der RK's beigetragen hat.
Hingegen teilt Pierre Boissier; Director of the Henry Dunant Institute; in seinem Essay 'Florence Nightingale and Henry Dunant, Similarities and Differences' diese Meinug nicht. https://international-review.icrc.org/sites/default/files/S0020860400006203a.pdf
Unter'm Strich, es ist Ansichtssache.

Auch Raphael Lemkin, who coined the term 'genocide', wuste nicht nur ueber den europ. HK, sondern auch ueber die turkischen, staendigen genocides (massacres) 1914-1918, 1894, 1865 usw usw, den Armeniern gegenueber.
Nicht zu vergessen die 'massacres' der Tuerken in Smirna 1921 oder die entsetzlichen italienischen 'massacres' in Addis Ababa. (Italy's National Shame)
 
Naja, zwischen phantasievollem Wunschbild und kalter Realitaet bestand doch schon immer eine weite Kluft, oder?
Oft, aber nicht immer. Du unterschätzt die Religiosität und Traditionsgebundenheit des durchschnittlichen Menschen des Mittelalters. Zwar ist es keineswegs so, dass die von Kirche und Gesellschaft vorgegebenen Normen sklavisch befolgt wurden; natürlich gab es Ausreißer, Freidenker und antisoziales Verhalten. Doch erst mit dem Renaissance-Humanismus und der gestiegenen sozialen Mobilität begegnet uns der (nennen wir ihn mal so) Protoindividualist, der es nicht mehr für seine erste, zweite und dritte Pflicht hält, den Idealen zu genügen, die an ihn herangetragen werden.
Wobei der engl. Begriff 'knight' komischerweise vom deutschen 'Knecht' abgeleitet ist.
Wieso empfindest Du das als komisch? Die sprachliche Wurzel korreliert mit der kulturellen. Ursprünglich ist die Rolle, die wir heute "Ritter" nennen, die eines unfreien berittenen Kriegers, mithin eines Knechts. Adelige Reiterkrieger ohne Ritterschlag nannte man im deutschen Sprachraum auch dann noch "Edelknecht", als sich der Begriff des Ritters längst eingebürgert hatte, eigentlich ein Oxymoron.

Dass man im Englischen an dieser Wurzel festhielt, auf dem Kontinent aber auf die Funktion abzustellen begann – des Ritters, Cavalieres, Rycerzs usw. – ist in der Tat bemerkenswert. Es stellt sich die Frage, warum aus dem angelsächsischen Cniht kein anglonormannischer Chevalier wurde, wo die Normannen doch sonst viele militärische und administrative Begriffe im Englischen einführten oder ersetzten. Vielleicht handelt es sich ja um Othering?

Ein weiterer möglicher Ansatz: Der englische Ritterstand nahm eine andere Entwicklung als der kontinentaleuropäische (vor allem französische und deutsche). Im Königreich England gab es anteilig mehr freie Männer, die ebenfalls in den Krieg zogen. Kriegsdienst und Grundbesitz waren keine relativen Alleinstellungsmerkmale des englischen Ritterstandes, insofern bestand vielleicht kein so großer Bedarf danach, sich durch eine militärische Rolle zu definieren. Hinzu kommt, dass die Adelskavallerie in England viel schneller ihre Bedeutung verlor als auf dem Kontinent.
Ganz arg ist's um den Begriff 'Raubritter' bestellt= Quintessenz eines Oxymorons.
Er ist v.a. ein Anachronismus, der in zeitgenössischen deutschsprachigen Quellen meines Wissens nicht verwendet wurde. Es stellt sich sogar die Frage, ob es Raubritter im Sinne des literarischen Stereotyps überhaupt gegeben hat. Denn sicherlich existierten Adelige, die ihren Lebensunterhalt als Räuber aufbesserten. Doch haben die Geschichtsschreiber und Dramatiker der Romantik, die uns den Begriff "Raubritter" bescherten, eines in den falschen Hals bekommen: Raub und Plünderung waren im Mittelalter sinnvolle und legitime Methoden der Kriegsführung. Ein sogenannter Raubritter, der beispielsweise mit einer benachbarten Stadt in Fehde lag, tat gut daran, reisende Kaufleute aus dieser Stadt zu überfallen. Die Kaufleute stellten ja in der Regel die städtische Regierung und finanzierten die militärischen Unternehmungen ihrer Stadt. Es war also kein bloßer Straßenraub aus Gewinnabsicht.
Am schlimmsten war doch die Ermahnung auf der ersten Innenseite des Soldbuches des d.Soldsaten und sogar der SS : […] Was fuer ein Hohn! Wenn das nicht, per "der verbürgten Realität" die Mutter aller Widersprueche darstellt !! (sorry, bin ich schon wieder 'antideutsch'?)
Du lädst in der Tat zu Nachfragen ein, was dieser kleine Exkurs bezwecken soll. Wenn sich die SS für ritterlich hielt, ist damit nichts ausgesagt über die Realität mehr als ein halbes Jahrtausend zuvor. Du könntest genauso gut fragen, was der Rapper Charlamagne mit Karl dem Großen zu tun hat …
Oh well.

"Deshalb" impliziert einen Beleg, aber den lieferst Du hier nicht.
Deshalb, aus etymologischer Sicht, und "der verbürgten Realität" hat der Begriff 'Ritter', mit Ausnahme von 'cavalliere', m.M. nach nichts mit 'noblesse', 'fair play' od. altruistischem Verhalten zu tun.
Ich kann diesem Gedankengang nicht folgen. Warum willst du hier auf die Etymologie abstellen?

Der englische Knight, deutsche Ritter oder italienische Cavaliere unterschieden sich nicht sonderlich voneinander. Weder in ihrem Selbstbild bzw. dem Bild, das die Gesellschaft von ihnen hatte, noch auch nur in der politischen und militärischen Funktion.
Daraus schliesst sich doch ,dass das 'weit verbreitete, romantische Bild der Ritterlichkeit' ein in Wirklichkeit fabriziertes Bild ist: es sich also "um einen Widerspruch handelt". […]
Das sehe ich nicht so, und meine Recherchen bisher bestätigen mich in dieser Auffassung.

Dass zwischen Anspruch und Wirklichkeit mitunter eine Lücke klafft, damit erzählt man ja nichts Neues.

Doch brachte ich das Beispiel des Umweltschutzaktivismus der Eliten, die sich gerne mal ad absurdum führen, nicht bloß zur Veranschaulichung. Wenn einer, der Wasser predigt, dabei erwischt wird, wie er trotz seiner Predigten Wein säuft, heißt das weder, dass es niemanden gäbe, der auf Wein verzichten würde, noch auch nur, dass der Prediger niemals seinen eigenen Ansprüchen genügt hätte. Die heimliche Schadenfreude, mit der wir es quittieren, wie Moralpostel zuweilen an ihren eigenen moralischen Ansprüchen scheitern, sagt mehr über uns aus als über diese Ansprüche. Denn wären die Ansprüche ganz und gar unrealistisch, und würde ihnen überhaupt niemand gerecht werden, könnte es uns das Scheitern des Moralapostels egal sein.

Wäre das ritterliche Ideal eine bloße Fiktion gewesen, eine von Zeitgenossen als Humbug erkannte literarische Trope, hätten wir keine Quellen aus jener Zeit, in der dieser oder jener Ritter kritisiert und sinngemäß gefragt wird: Warum hat er sich nicht ritterlich verhalten, was ist mit seiner Ritterehre? Ohne einen realistischen Bezugspunkt wäre das ritterliche Ideal für die Menschen des Mittelalters niemals so wirkmächtig geworden.

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Dass 'Ritter-Sein' war ein Vollzeitjob fuer Prinzen oder hohe adlige Abkoemmlinge, bezahlt vom eigenem Papa oder dem Koenig, dem Fuersten dem der Prinz/knight loyal diente, usw. Job #1 war es ihrem Dienstherrn im Frieden als auch vor allem im Krieg zur Seite zu stehen; waehrend eines Kriegsgefechtes dem Koenig zu beschuetzten, zu verteidigen. Ritter verteidigten im allgemeinen die Flanken des koeniglichen Heeres, besonders kampfbewaehrte Ritter oder Ritter hoher Geburt wurde das Privileg erteilt,unmittelbar links neben dem Koenig zu kaempfen, quasi als seine bodyguard, daher der alte Ausdruck : "Left Side of The Line" weil der Koenig mit dem rechten Arm sein Schwert benuetzt und somit wehrlos an seiner linken Seite ist
Ich fürchte, das ist zu verallgemeinernd und ungenau.

Ritter waren ursprünglich unfreie Männer, die ihrem Herrn Kriegsdienst schuldeten. Um sich die erforderliche Ausrüstung leisten zu können, erhielten sie Landbesitz*, den sie bewirtschaften und somit ein Einkommen verdienen konnten. Gleichzeitig sorgte die Bindung an das Land dafür, dass der Ritter wenig Lust bekam, seinen Herrn zu verraten, da er mit seinem Herrn auch sein eigenes Gut schützte.

*) Man beachte den Unterschied zwischen Besitz und Eigentum.

Mit der Zeit wurde dieser Landbesitz erblich. Aus der Pflicht, Kriegsdienst zu leisten, wurde ein Recht, das dem Ritter politischen Einfluss und Befreiung von vielen Pflichten garantierte, die Mitgliedern anderer Stände aufgebürdet waren. Das Aufkommen der geistlichen Ritterorden, und der sie in der öffentlichen Wahrnehmung ersetzenden weltlichen Ritterorden, führte zu einer schier mystischen Überhöhung des Ritterstandes.

Vieles, was in unseren Augen einen stereotypen Ritter ausmacht, kam wahrscheinlich erst in der Auseinandersetzung mit dem allmählichen Niedergang des Rittertums auf und diente der Selbstvergewisserung. Das macht es aber nicht weniger real.

Wie greifbar dieses Ideal für Zeitgenossen war und wie sehr der Ritterstand respektiert wurde, zeigt sich daran, dass auch Hochadelige und Vertreter nicht ritterbürtiger Stände (z.B. politisch einflussreiche Kaufleute) den Ritterschlag anstrebten, obwohl er weder zum sozialen Aufstieg noch zur Ausübung konkreter militärischer und politischer Funktionen nötig war.

Beides ist hier wesentlich. Denn erstens waren bei weitem nicht alle berittenen Krieger des Mittelalters, die wir heute als "Ritter" ansprechen würden, zum Ritter geschlagen worden; die meisten waren Adelige oder sogar Bürgerliche ohne Ritterschlag.

Zweitens ist das Adjektiv "ritterbürtig" zu beachten. Ist von "Rittern" die Rede, kann damit entweder die Gesamtheit der Männer gemeint sein, die den Ritterschlag erhalten hatten – vom König bis hinab zum tapferen Handwerkersohn –, oder aber (und in Kontinentaleuropa ist das die Regel) die Gesamtheit der ritterbürtigen Familien. Diese Familien gehörten dem niederen Adel an.

Der Sohn eines Ritters war nicht automatisch selbst ein Ritter, er musste sich den Ritterschlag verdienen (bis dahin war er als Junker, Edelknecht oder dergleichen bekannt). Das galt selbst noch im 16. Jahrhundert, als der Ritterstand seine militärische Bedeutung eingebüßt hatte. Wer den Ritterschlag als Gefälligkeit oder politische Belohnung empfing, fand sich in einer ähnlichen Situation wieder wie die Briefadeligen gegenüber dem Uradel. Man war kein vollwertiges Mitglied des illustren Zirkels.
Nun, weniger wohl 'Missverständnisse'als das, was den Leuten sowohl damals als auch heute pure Wahrheit - oft vom Pulpit gepredigt - praesentiert wurde. (similaer zur 'Klimakatastrophe')
Ich kann Dir nicht folgen. Ich hoffe, das läuft nicht auf Klimawandelleugnung hinaus.
Werfen wir einen Blick nach Irland. Das Leben des fabelhaften' High King Brien'* of Ireland; 941- 1014, dessen Biographie usw in der 'The History of Ireland, Volume the First', 1763; von Ferdinando Warner (1703-1768) beschrieben wurde und von Thomas Moore (1779 - 1852) zur Vorlage seiner beruehmten Ballade 'Rich and rare were the gems she wore'. ..... 'Erin' ist King Brien[Brian]
Auch hier kann ich nicht folgen. Wo ist der Zusammenhang? Auf Irland tauchten Ritter erst im Zuge der anglo-normannischen Eroberung auf, und Brian Boru lebte lange vor dem Aufkommen des Rittertums. Selbst authentische Quellen aus jener Zeit könnten nichts zur Frage beitragen, wie die Ritter des Mittelalters sich sahen und wie sie gesehen wurden.
 
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Das ist zwar jetzt eher nebensächlich, aber so wie geschrieben, ist das falsch. Das englische knight ist kein Lehnwort von dt. Knecht, sondern eine Kognate, also wie 'Knecht' ein gemeinsames Erbwort.
Die Frage ist nun: Ist es komisch, dass knight auf engl. den Ritter meint, wohingegen das dt. Knecht eine in der Hierarchie unten stehende Figur meint?
Zunächst einmal sei auf die semantische Verschiebung hingeweisen. Im Laufe der Geschichte erweitern und reduzieren Worte ihre Bedeutung, wenn einer Bedeutungsreduktion eine Bedeutungserweiterung vorausgeht, dann hat man im Prinzip eine semantische Verschiebung.
Der Ritterstand entstand aus Unfreien (Ministerialen), welche aufgrund der ihnen übertragenenen Verantwortung oft zu einem gewissen Reichtum kamen und dann Aufgaben übernahmen, welche arme Bauern, die zunächst im Heeresaufgebot waren, sich aber in den Statuts der Unfreiheit begaben, weil sie sich keine guten Waffen leisten konnten, nicht mehr übernahmen. Ich weiß nicht, ob das englische knight daher rührt, oder ich hier unzulässigerweise kontinentale Sachverhalte auf England übertrage, aber zumindest wäre das eine Erklärung, warum der englische Ritter einen Titel trägt, der mit dem deutschen Knecht, eben einem Unfreien, etymologisch verwandt ist.
Das ist ja schon fast eine philologische Abhandlung.
Lehnwort und Erbwort sind Begriffe die ich hier zum ersten Mal lese, und keine Ahnung von habe.
Nun, es ist ja bekannt, dass Begriffe nicht statisch sondern dynamisch sind; also ihre Bedeutungen mit der Zeit mutieren: "Im Laufe der Geschichte erweitern und reduzieren Worte ihre Bedeutung" sowohl von Bedeutung als auch Rechtschreibung her.
Altenglisch 'cniht' „Junge, Jüngling; Diener, Diener“, ein Wort, das in den benachbarten germanischen Sprachen gebräuchlich ist (altfriesisch 'kniucht', niederländisch 'knecht', mittelhochdeutsch 'kneht' „Junge, Jüngling, Bursche“, deutsch Knecht „ 'Knecht', Leibeigener, Vasall“), dessen Ursprung unbekannt ist.

Die Bedeutung „militärischer Gefolgsmann eines Königs oder eines anderen Vorgesetzten“ stammt aus der Zeit um 1100. Im Hundertjährigen Krieg wurde der Begriff erstmals in einem spezifisch militärischen Sinn verwendet und gewann allmählich an Bedeutung, bis er ab dem 16. Jahrhundert zu einem Adelsstand wurde. (deepl)
Vielleicht hat 'Knilch' etwas mit altfriesisch 'kniucht' zu tun??
In meinem Dictionary aus 1894 steht auch 'cogn.'
"Kognate sind Wörter aus verschiedenen Sprachen, die denselben sprachlichen Vorläufer haben. Da sie aus der gleichen Quelle stammen, haben sie oft die gleiche oder zumindest eine ähnliche Schreibweise, Aussprache und Bedeutung."(deepl)​
Solche selben sprachlichen Vorläufer' werden also als "ein gemeinsames Erbwort" verstanden? Ja, macht Sinn.
Nachdem ich nun viermal Deinen Beitrag durchgelesen habe....jetzt weiss ich endlich worauf Du hinweist. Und habe wieder etwas dazu gelernt. Thanks a bunch.
'knight'
aus dem 130 Jahre altem Woerterbuch (kein copyright) https://i.ibb.co/H4XN2Q3/knight.jpg
 
Name: Arnaud de Cervole, Dekan von Verlines, genannt "der Erzpriester"
Geboren: 1300
Gestorben: ≈ 25. Mai 1366
Berühmt für: Kriegsgeschick, Grausamkeit und Tücke


Arnaud (bei Froissart Regnault) de Cervole war ein französischer Ritter aus dem Périgord und Brigant, der in der chaotischen ersten Phase des Hundertjährigen Krieges zu zweifelhafter Berühmtheit gelangte. Er stammte aus einer kleinadeligen Familie, die als eine der wenigen der Region den Valois die Treue hielt; sonst ist über seine Jugend wenig bekannt. Sein Beiname l'Archiprêtre rührt von einem kirchlichen Lehen her, das er hielt, ohne jemals die geistlichen Weihen empfangen zu haben. Erstmals in den Quellen greifbar wird er 1351 als Hauptmann von achtzig Männern.

In französischen Diensten eroberte er etliche Burgen und machte sich einen Namen als Experte für Belagerungen. Man lobte sein taktisches Geschick, bemerkte aber auch seine Grausamkeit und seinen unbedingten Willen zum sozialen Aufstieg. Als vielleicht erster Heerführer des Krieges unterhielt Cervole seine Truppe ausschließlich durch Plünderung, wobei er äußerst brutal vorging, und zögerte nie, wenn es darum ging, sich mit dem Hochadel anzulegen. Als etwa Jean de Clermont die Übergabe einiger von ihm eroberter Burgen verlangte, ließ Cervole—bedacht auf seine Belohnung—den Marschall von Frankreich bis zur Ankunft des Königs buchstäblich im Regen stehen.

Sein Verhalten und seine Ausschreitungen gegen die örtliche Bevölkerung bescherten ihm einen königlichen Prozess. Cervole erwies sich dabei als derart hartnäckig, dass Johann II. einen Kompromiss akzeptierte. Zwar musste Cervole die von Clermont geforderten Burgen freigeben, wurde aber mit Land, dem Ritterschlag und einer Amnestie für seine Männer großzügig abgefunden. Warum die Valois ihn tolerierten, bewies Cervole kurz darauf, als er Évreux im Handstreich mit Belagerungsmaschinen eroberte, die er sich selbst ausgedacht hatte. Zur Belohnung machte man ihm zum Kastellan der Stadt.

1356 hatte Cervole an die tausend Mann unter Waffen. In dieser Zeit trat er erstmals als Hauptmann der Weißen Bänder auf, so genannt wegen des als Erkennungszeichen gebrauchten weißen Stoffkreuzes. Intern war aber auch ein anderer, vielsagender Name im Gebrauch: Société de l'acquisition. Ihre "Beschaffung" betrieb die Société mit einer Grausamkeit, die selbst im Hundertjährigen Krieg ihresgleichen suchte. Wohin sie auch kam, "wurde das Land zerrissen", wie Froissart schreibt: "Der Erzpriester und seine Männer plünderten das ganze Land[,] raubten, töteten und erpressten, was sie nur konnten. Sie verübten jedes Übel, das Feinde bewirken können."

Obwohl in französischen Diensten stehend, entwickelte Cervole ein Geschäftsmodell, englische Burgen zu erobern und dann gegen Geld den Engländern zurückzugeben, was selbst den pro-englischen Froissart angewidert zu haben scheint. Er wurde so zu einem der reichsten Männer Frankreichs, und als Warlord für die französische Sache unentbehrlich. Die Valois versuchten krampfhaft, Cervole an sich zu binden. So wurde ihm in der Schlacht von Poitiers 1356 die Ehre zuteil, das Banner des Grafen von Alençon zu führen. Bezeichnend: Weil Cervole eine vergoldete Rüstung mit den Lilien der Kapetinger trug, hielten ihn die Engländer für den König von Frankreich.

Nach seiner Gefangennahme wurde Cervole von Marschall Arnould d'Audrehem persönlich ausgelöst. 1357 heiratete er eine Frau aus dem Hochadel, die große Güter in die Ehe brachte (nach ihrem Tod widersetzte er sich einer Order des Königs, sie der Familie zurückzugeben), und wurde aus unerfindlichen Gründen zum Garanten des Waffenstillstands von Bordeaux bestimmt. Das hielt Cervole nicht davon ab, sich weiter quer durch Frankreich zu plündern. Die Ausschreitungen der Société gegen die Bevölkerung wurden zu einem der Auslöser der Grande Jacquerie, des großen Bauernaufstands von 1358.

Vom Dauphin entlassen, wandte sich Cervole prompt gegen die Valois und eroberte mehrere französische Burgen. Das Nivernais wurde durch seine Plünderungen geradezu entvölkert. Trotzdem ging der unbeschäftigten Société allmählich das Geld aus. In dieser Lage wiegelte er seine Männer zu einem Zug gegen Avignon auf—mit der abenteuerlichen Begründung, Papst Innozenz VI. sei an ihrem Geldmangel schuld, immerhin wäre der Waffenstillstand seine Idee gewesen. Innozenz antwortete, indem er Cervole exkommunizierte und ihm befahl, sein Heer aufzulösen.

Der war nicht beeindruckt und ging dazu über, den Stellvertreter Christi auf Erden höchstpersönlich zu belagern. Dabei wurden die päpstlichen Besitztümer dermaßen verheert, dass Innozenz rasch beschloss, nicht auf das Entsatzheer des Dauphins zu warten, sondern Verhandlungen anzubieten. Dem Gebannten wurde in Avignon ein Empfang bereitet, "als wäre er der Sohn eines Königs" (Froissart), und die Kurie zahlte ihm eine exorbitante Summe, um ihn loszuwerden. Die Excommunicatio scheint übrigens niemals aufgehoben worden zu sein—vermutlich war sie Cervole egal.

Cervole machte sich nun davon, statt seinen Männern ihren Anteil auszuzahlen. Er warb eine neue Truppe, fiel im Burgund ein, das nach dem Heimfall an Frankreich Philipp dem Kühnen als Apanage zugesprochen worden war, und erpresste abermals Geld für seinen Abzug. Seltsamerweise traten Philipp und er bald als Freunde auf, Cervole gab sich nun eine Zeitlang ehrbar und durfte sogar den Sohn des Herzogs am Taufbecken halten. Vielleicht hatte der kriegerische Philipp Gefallen an ihm gefunden, vielleicht wollte er den berüchtigten Briganten auch nur "umdrehen"; jedenfalls zog Cervole im April 1362 für Philipp gegen seine alten Spießgesellen aus.

Bei Brignais wurde Cervole zum ersten Mal geschlagen. Seinem Ruf als gewieftem Taktiker hat es nicht geschadet: Abermals von d'Audrehem ausgelöst, war er zeitweilig sogar als Konnetabel in Gespräch, woraus erhellt, dass man ihn auf einer Stufe mit Bertrand du Guesclin sah. 1365 aber herrschten in Frankreich apokalyptische Zustände. Um die Banden vom Schlage der Société endlich loszuwerden, rief Papst Urban V. mit Unterstützung König Karls V. und Kaiser Karls IV. einen Kreuzzug aus. Cervole erhielt den Befehl über eine Armee aus "den unterschiedlichsten Subjekten, Räubern und Vagabunden aller Couleur", die er an die ungarische Südgrenze führen sollte.

Doch die Idee entwickelte sich zum Bumerang, denn Cervole beschloss, sich an den Städten am Rhein schadlos zu halten. Es folgte eine Reihe blutiger Abwehrschlachten gegen die Feudalherren am Oberrhein, in denen er mehrmals den Kürzeren zog. Als er auf diesem Weg nicht weiterkam, vollzog er eine erneute Kehrtwende und schwor feierlich, er wolle auf dem Seeweg nach Konstantinopel ziehen und dem Kaiser von Byzanz gegen den Islam beistehen. Das erkaufte ihm etwas Ruhe von Seiten der Herzöge von Lothringen und Luxemburg, die gegen ihn ausgezogen waren, machte ihn aber bei seinen Leuten unbeliebt. Von diesen wurde er 1366 erstochen.

Sein Tod, schreibt Froissart, wurde in Frankreich mit Jubel aufgenommen; Funck-Brentano gibt jedoch zu bedenken, dass die Leiden der französischen Bevölkerung nun ihren Zenit erreichten, da niemand mehr die führerlosen Marodeure zusammenhielt. In Arnault de Cervole begegnet uns einer jener Fälle, in denen die politisch gefärbten Chroniken des Mittelalters mit ihrer Gräuelpropaganda nicht zu übertreiben scheinen. Das französische Volk nannte ihn einen "Teufel"; seine Kriegsgegner verachteten ihn und fürchteten seine Tücke. Als Cervole beispielsweise 1364 mit dem englischen Kommandanten Jean de Grailly verhandeln wollte, wies der das Angebot empört ab, mit einem derart unritterlichen Kerl wolle er nichts zu tun haben. Nicht einmal Cervoles Herold wurde vorgelassen, aus Sorge, er könne irgendwie Teil einer Ablenkung sein. Und noch im 19. Jahrhundert ging in Südfrankreich die Legende vom Schatz des Papstes, der von Cervole vor seinem Tod vergraben worden sei.

Verwendete Quellen
  • Funck-Brentano, Frantz: Les Brigands, Paris 1904
  • Les Chroniques de Sire Jean Froissart, in der Übersetzung von Geoffrey Brereton
 
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Name: Sir Jean de Carrouges
Geboren: um 1330
Gestorben: 29. Dezember 1386
Bekannt für: Teilnahme am letzten offiziell vom König von Frankreich genehmigten gerichtlichen Zweikampf (*le duel judiciaire*) gegen Jacques Le Gris.

Sir Jean de Carrouges war ein normannischer Ritter des 14. Jahrhunderts, der am Hofe von König Karl VI. diente. Er entstammte einer alten, aber nicht besonders wohlhabenden Adelsfamilie und verbrachte einen Großteil seines Lebens damit, durch militärische Dienste und Loyalität am Hof Anerkennung und Wohlstand zu erlangen.

Der zentrale Moment seines Lebens war der gerichtliche Zweikampf am **29. Dezember 1386** in Paris, auf dem Klosterfeld von Saint-Martin-des-Champs. Carrouges beschuldigte seinen ehemaligen Freund **Jacques Le Gris**, seine Ehefrau **Marguerite de Thibouville** vergewaltigt zu haben. Da das Gericht den Fall nicht eindeutig klären konnte, wurde die Entscheidung gemäß damaligem Brauch Gott überlassen – durch ein Duell.

Im Beisein des Königs und vieler Höflinge besiegte Carrouges seinen Gegner und tötete ihn. Nach damaligem Verständnis galt dies als göttlicher Beweis für seine Unschuld und für die Wiederherstellung der Ehre seiner Frau. Der Sieg brachte ihm Ruhm, Reichtum und Gunst am Hof – doch nur für kurze Zeit. Bald darauf zog er erneut in den Krieg, diesmal nach Italien, wo er während der Belagerung von Alessandria fiel.

Historiker betrachten das Duell zwischen Carrouges und Le Gris als den letzten offiziell genehmigten gerichtlichen Zweikampf in der Geschichte Frankreichs. Seine Geschichte wurde von zeitgenössischen Chronisten festgehalten und später in historischen Studien und literarischen Werken verarbeitet.

Quellen:
Jean Froissart, *Chroniques*, Buch IV, ca. 1390.
Eric Jager, *The Last Duel: A True Story of Trial by Combat in Medieval France*, New York, 2004.
Jules Michelet, *Histoire de France*, Bd. III, Paris, 1837.
 
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