Gegenthese:
Alexander wollte den Krieg, und Napoleon wollte ihn nicht verhindern.
Dass Alexander den Krieg wollte, ist wohl nicht belegt. Von seiner Schwäche berichtete ich schon.
"Mit gemischten Gefühlen beobachtete der russische Adel das aufziehende Unwetter. Einerseits freute man sich darüber, dass die "Tilsiter Sklaverei", die Verderben bringende Kontinentalsperre ... ein Ende nehmen würden; andererseits fürchtete man den schrecklichen, unbesiegbaren Welteroberer. Zur gleichen Zeit empfand man daneben instinktiv eine Siegesgewissheit." [1]
Anders sieht es bei Bonaparte aus.
Pflichtbewusst berichtete Caulaincourt seinem Herrn nach seiner Rückehr nach Paris und ich schließe an das Zitat von #7 an:
""... Wenn das Waffenglück gegen mich sein sollte, zöge ich mich lieber bis nach Kamtschatka zurück, als dass ich Provinzen abträte und in meiner Hauptstadt einen Vertrag abschlösse, der nur ein Waffenstillstand wäre. Der Franzose ist tapfer; aber lange Entbehrungen und ein hartes Klima entmutigen ihn. Unser Klima, unser Winter werden für uns kämpfen. Wunder geschehen bei euch nur dort, wo der Kaiser steht. Er kann aber nicht überall sein, er kann nicht jahrelang von Paris fernbleiben!"
...
Der Kaiser hörte mir aufmerksam zu. Dann aber zählte er mir seine Streitkräfte, seine Hilfsmittel auf. Sobald ich ihn auf dieses Kapitel kommen sah, war mir klar, dass es für einen Frieden nichts mehr zu hoffen gab; denn es war gerade immer diese militärische Aufzählung, die ihn berauschte." [2]
Ich denke, den Memoiren von Caulaincourt kann man Glaubwürdigkeit bescheinigen. Für Bonaparte war der Krieg beschlossen.
Der Generaladjudant General Graf Narbonne kehrte von seiner Wilnaer Reise zurück und berichtete Bonaparte in Dresden von seinen russischen Eindrücken und seinem Treffen mit Alexander. Der Kaiser lenkte bald auf ein interessanteres Gesprächsthema über:
"Jetzt marschieren wir nach Moskau; warum sollten wir aber von Moskau aus nicht nach Indien marschieren? Man rede mir nicht von der großen Entfernung zwischen Moskau und Indien: Alexander von Mazedonien hat es von Griechenland nach Indien auch nicht nahe gehabt; doch hat es ihn das etwa zurückgehalten? Alexander von Mazedonien hat den Ganges von einem Ausgangspunkt aus erreicht, der ebenso weit entfernt war wie Moskau ... Narbonne, stellen Sie sich vor: Moskau ist genommen, Rußland zu Boden geworfen, der Zar hat Frieden geschlossen oder ist irgendeiner Verschwörung bei Hofe zum Opfer gefallen; und nun sagen Sie mir, ob dann der Weg zum Ganges immer noch für die französische Armee und ihre Hilfstruppen versperrt ist? Es genügt schon, den Ganges mit dem französischen Degen nur zu berühren, und die ganze Herrlichkeit des englischen Handels bräche zusammen." [3]
Damit ist wohl klar, dass England das Ziel, Rußland nur die Etappe sein sollte.
Tarlé erklärt das Handeln des Kaiser so:
"Schon in seinem ersten großen Kriege, bei der Eroberung Italiens im Jahre 1796, hatte es Napoleon - nach seinen eigenen Worten - "verlernt zu gehorchen" - d.h. sich den Menschen anzupassen. Seit dem Frieden von Tilsit 1807 verlernt er allmählich auch die Fähigkeit, sich den Verhältnissen der Wirklichkeit anzupassen und mit ihr zu rechnen. "Ich vermag jetzt alles", sagte er kurz nach dem Tiltiter Friedensschluss zu seinem Bruder Lucien. Was war denn Politik? Seiner Ansicht nach machten die starken Bataillone die Politik, und wer besaß mehr Bataillone als er? Was ist denn Ökonomie? Er gedachte sie ebenfalls mit seinen starken Bataillonen zu bezwingen: man musste nur Europa mit Krieg überziehen und Rußland endgültig unterwerfen, so würde England nirgendwo auch nur ein Kilogramm Ware verkaufen können, Bankrott machen und untergehen. Die Menschen waren in seinen Augen Kinder und Sklaven, mit denen man nach Belieben umgehen konnte, in ihren Kaisern und Königen sah er zwar keine Sklaven, jedoch Lakaien, die stets die Hand, die sie schägt, küssen und das Amt eines napoleonischen Verwalters oder Hauptverwalters jeder anderen Rolle vorziehen würden - vorausgesetzt, ihr gestrenger Herr verfügte über die notwendigen "starken Bataillone"." [4]
Wenn ich so über Tarlés Worte nachdenke, bin ich wieder einmal froh, dass das Abenteuer Bonaparte in Rußland endete.
Grüße
excideuil
[1] Eugen W. Tarlé: 1812 Rußland und das Schicksal Europas, Berlin 1951, Seite 53
[2] Caulaincourt: Unter vier Augen mit Napoleon, Bielefeld und Leipzig, 1937, Seite 28-29
[3] Eugen W. Tarlé: 1812 Rußland und das Schicksal Europas, Berlin 1951, Seite 61-62
[4] ebenda, Seite 59