Du hast mich deutlich missverstanden. Was du schreibst ist korrekt: Auf einer mehrere Kapitel übergreifenden Makroebene wird das taktische Verhalten von Varus und Caecina gegebübergestellt. Auf der Mikroebene des Satzes aber stellt Tacitus das erste und das letzte Lager des Varus einander gegenüber: "Prima Vari castra lato ambitu et dimensis principiis trium legionum manus ostentabant, dein semiruto vallo, humili fossa accisae...
Eben. Hier fügt sich die von Dir benannte Mikroebene an den eigentlich von Tacitus gemeinten Gegensatz: Der Zustand des zweiten (meintehalben auch letzten) Lagers ist die logische Konsequenz daraus, dass Varus sich zum Marschieren entschlossen hat, während Caecina trotz aller Widrigkeiten im sicheren Lager ausgeharrt hat.
Gerade diese "dimensis principiis" sprechen dafür, dass damit ein Lager vor der Schlacht gemeint sein muss, denn wer hätte denn in der Schlachtsituation nur einen Deut auf die Größe des Hauptplatzes gegeben?
Am Ende des Marsches für die Nacht ein sicheres Lager zu bauen, war Standardtaktik. Das wurde immer so gemacht. Auch während des Gefechts. Und wenn man immer ein Lager baut, dann baut man es auch immer gleich. Tacitus beschreibt das erste Lager als "normgerecht", groß genug und sogar mit sauber abgestecktem Appell-Platz. Das Heer war angegriffen worden, es hat Verluste hinnehmen müssen, aber es war noch diszipliniert genug und stark genug, um "Dienst nach Vorschrift" zu machen. Es war Blut geflossen, der Krieg war ausgebrochen, aber die Legionen waren intakt - und hätten allem gewachsen sein müssen, was die Germanen aufbieten konnten. Sie HÄTTEN. Waren die Caecina-Truppen vier Jahre später ja auch. Sie waren den Germanen aber nicht gewachsen. Weil Varus den fatalen Fehler gemacht hat, weiterzumarschieren während der Feind noch um ihn rum war und auf eine Schlacht aus war. Wohin das führte, macht das zweite Lager augenfällig deutlich. Errichtet von einer Armee, die zwar noch wollte, aber nicht mehr konnte. Die schon geschlagen war.
Der Threaderöffner hat in einem seiner Beiträge - in der Absicht, Tacitus und Cassius Dio miteinander zu harmonisieren - die Vermutung geäußert, dass das bei Tacitus als erstes Lager bezeichnete Lager das ist, welches mit dem bei Cassius nicht explizit erwähnten zweiten Lager, was beim erwähnten Erreichen der Freifläche wohl erbaut wurde, gleichzusetzen sei. Dies habe ich in Abrede gestellt.
Und in der Hinsicht gebe ich Dir vollkommen Recht.
Wir sind uns aber wohl darin einig, dass das Erreichen der Freifläche das Ende des zweiten Marschtages einschließlich Lagerbau - trotz der nicht expliziten Erwähnung - markiert.
Ja, da sind wir uns einig. Dass Dio den Lagerbau nicht explizit erwähnt, erkläre ich damit, dass die Römer am Ende eines Marsches IMMER ein Lager bauten. Warum sollte man das also erwähnen? Das erste Lager erwähnt Dio auch nur deshalb, weil es schon während des Marsches, während der laufenden Kämpfe gebaut wurde, um einen sicheren Ort zu schaffen, an dem man sich "sortieren", eine einigermaßen "normale" Marschordnung herstellen und all den überflüssigen Mist verbrennen konnte, den man so mitschleppte. Ein Beleg hierfür ist auch der Hinweis Dios, dass die Römer am Ende des darauf folgenden Marschtages offenbar kein Lager mehr bauen konnten: Er schreibt, dass sie, als der Tag graute, "noch immer auf dem Marsch" waren.
Denn mit dem nächsten Satz beginnt der dritte Marschtag (ebenfalls nicht explizit als solcher gekennzeichnet, satzstrukturell aber nachvollziehbar und ich sehe hier auch keinen Dissens zwischen den Diskutanten) und schließlich, wiederum explizit, der vierte Marschatg.
Abgesehen von dem Hinweis auf den grauenden grauenhaften finalen Tag des Kampfes...
Wenn man Cassius Dio ernst nimmt - und dafür plädiert ihr ja - dann passt sein am ersten Marschtag errichtetes Lager nicht mit dem ersten Lager, welches Tacitus beschreibt überein.
Ich plädiere nicht dafür, Dios Text für die reine Wahrheit zu halten. Ich plädiere nur dagegen, seinen Text als topisches Gelaber abzutun. Abgesehen von Deinen immer wieder vorgebrachten und auch völlig angemessenen Hinweisen auf die vermeintlichen gummiüberzogenen Supergermanen schildert Dio die Vorgänge dazu zu sachlich und benennt auch offen die Fehler der römischen Kommandeure.
Man kann diese Stellen nicht harmonisieren, es sei denn, man akzeptiert, dass das erste Lager bei Tacitus vor der Schlacht errichtet wurde und der Angriff erst nach Abmarsch hieraus erfolgte.
Das ist der Punkt, den ich gar nicht nachvollziehen kann. Wo siehst Du da den Widerspruch?
Tacitus schildert die Vorgänge sehr "gerafft". Er staucht das Geschehen so sehr zusammen, dass man sich beim ersten Lesen fragen muss, ob er von verschiedenen Örtlichkeiten spricht oder nur von einem Platz. Meint er vielleicht ein Lager, das zwar groß genug für drei Legionen war und einen angemessenen Hauptplatz hatte, dessen Wälle aber schon zu niedrig und dessen Gräben schon zu flach waren? Lagen die Haufen der Gefallenen etwa mitten in diesem Lager? Vielleicht ist Florus ja wegen dieser komprimierten Schilderung im Tacitus-Text auf die absurde Idee von der Lagerschlacht gekommen.
Ich denke, wir sind uns einig, dass Tacitus von verschiedenen Örtlichkeiten sprach. Also gab es zwei Lager und einen dritten Platz, an dem die Gefallenen lagen. Meiner Ansicht nach ergibt sich das schon logisch aus der Formulierung "prima Vari Castra". Wenn es ein "erstes" Lager gab, dann muss es mindestens auch ein zweites gegeben haben. Anderenfalls hätte sich die Zählung erübrigt.
Nun stellt sich aber die Frage, warum Tacitus dieses eine Lager als das "erste" bezeichnet hat. Es war Herbst. Das Ende der Feldzug-Saison. Die Varuslegionen hatten sich monatelang in Germanien aufgehalten, waren hunderte von Kilometern marschiert und hatten mit Sicherheit Dutzende von Lagern gebaut. Warum also bezeichnet Tacitus gerade dieses eine als das "erste"?
Das kann man an dem Text ablesen: Tacitus lässt die Germanicus-Truppen das Schlachtfeld betreten, "grausig anzuschauen" und voller böser Erinnerungen, und erst dann erwähnt er das "prima Vari Castra". Er meint eindeutig das erste Lager, das im Laufe der Schlacht errichtet worden ist. Und das passt perfekt zur Schilderung Dios: Eine ungeordnet maschierende intakte Armee wird angegriffen, errichtet ein Lager und ist selbst dann noch "intakt genug", um all ihre hinderlichen Luxusgüter verbrennen zu müssen.
Die weiteren Schilderungen passen auch zueinander. Dio berichtet von der Fortsetzung des Marsches "in besserer Ordnung" und Verlusten während dieses Marsches zu einer offenen Fläche, Tacitus erzählt von einem zweiten Lager, das am Ende dieses zweiten Marschtages errichtet wurde und an seiner Gestalt die Verluste während des Tages erkennen lässt. Dio berichtet dann von der Fortsetzung des Marsches wieder in unwegsames Gelände bis zum Finalen Kampf nach dem grauenden Morgen, Tacitus erzählt von einem Ort, an dem letztlich auf offener Fläche die Haufen der Gebeine lagen.
Für mich passt das alles. Ich sehe da keinen Widerspruch.
Das habe ich auch nicht in Abrede gestellt. Es geht nicht darum, dass ein Lager gebaut wurde, sondern um die Bedingungen, unter denen es gebaut wurde und dass eine bedrängte Truppe sicher nicht in der Lage ist, ein Normlager zu bauen, welches anhand der Abmessungen des Hauptplatzes die Arbeit dreier Legionen erkennen lässt.
Das ist Spekulation. Wir alle wissen nicht, wie heftig die Kämpfe am ersten Tag waren. Wir wissen nichts über ihren Verlauf. Vielleicht flauten die Kämpfe nach dem ersten sicher massiven Angriff ab und die Römer konnten unbedrängt schanzen. Zudem war Lagerbau für die Legionen kein unangemessener Aufwand, sondern zentraler Bestandteil ihrer Taktik. Ein Lager bot Sicherheit und war überlebenswichtig. Dass solche Lager auch während massiver Kämpfe gebaut wurden, beweist - wie erwähnt - die Schlacht an den pontes longi. Ich denke, es hätten schon extrem widrige Umstände herrschen müssen, um die Römer vom Lagerbau abzuhalten. Umstände wie die am Ende des dritten Tags der Varusschlacht.
Als Tacitus seine Bericht schrieb, dürften die letzten Überlebenden der Varusschlacht und auch die Teilnehmer an den Strafexpeditionen des Germanicus schon einige Jahrzehnte verschieden gewesen sein. Die Erfahrung mit historischen Quellen ist eigentlich die, dass die Informationsdichte mit Abstand zum Ereignis abnimmt. Der Bericht des Cassius Dio ist da eher eine Ausnahme und gerade das muss bei einer vernünftigen Q-Kritik mitberücksichtigt werden.
Trotzdem war Tacitus den Ereignissen noch sehr viel näher als Dio. Die Ereignisse waren auch der "Öffentlichkeit" noch viel präsenter. Tacitus schrieb zudem zu einem Zeitpunkt, als eine späte Unterwerfung Germaniens vielen seiner Zeitgenossen noch durchaus realistisch erschien und als der unbeendete Krieg durchaus noch geeignet war, das Prinzipat in Frage zu stellen. Dio hat mit größerem Abstand berichtet. Unaufgeregter. Sein Bericht war nicht als Kritik an einem Kaiser oder am Kaisertum gedacht und konnte so auch nicht (mehr) verstanden werden.
Zudem muss man der vernünftigen Quellenkritik hier die Statistik entgegensetzen: Der Text von Dio wirkt vielleicht nur deshalb wie eine Ausnahme, weil die Masse der ursprünglich existierenden Texte verloren gegangen ist. Statistisch betrachtet ist es wahrscheinlich, dass seine Darstellung der herrschenden Meinung entsprach. Bei selten publizierten Minderheitenmeinungen ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Laufe von 2000 Jahren verloren gehen, deutlich größer als zum Beispiel bei der millionenfach verfielfältigten Bibel.
Das war jetzt natürlich nicht so ernst gemeint wie es sich vielleicht liest.
Deinen Einwand mit der im Zeitverlauf sinkenden Informationsdichte muss ich allerdings zurückweisen. Schau Dir nur mal an, wie viel Literatur es heute über die damaligen Ereignisse gibt und wie ausgiebig zum Beispiel in diesem Forum über das Thema diskutiert wird. Das sprengt jeden Rahmen, in dem damals überhaupt hätte publiziert werden können. Wir breiten dabei auch Fakten aus, über die damals jeder den Kopf geschüttelt hätte: "Wie banal. Warum erzählst Du mir das? Das weiß doch jeder!" Und dieses "Das weiß doch jeder" verliert eben mit jedem vergehenden Tag an Bedeutung. Man sagt, dass nichts so alt ist wie die Neuigkeit von gestern. Taucht diese "Neuigkeit von gestern" dann allerdings in einem Jahresrückblick auf, sieht das schon wieder ganz anders aus: "Ach, weißt Du noch, damals..."
Übrigens: Gäbe es diesen Effekt nicht, wäre dieses Forum ein ganz öder Ort in der virtuellen Welt.
MfG