Cassius Dio über das erste Lager der Römer während der Varusschlacht

Für den 3. Tag der Schlacht (nach dem Verlassen der Lichtung und vor dem Anbrechen des 4. Tages) berichtet Dio:

"Von dort brachen sie erneut auf und gerieten wieder in die Wälder, wehrten sich zwar gegen ihre Angreifer, doch brachte gerade dies ihnen die Verluste;" Wie weiter oben schon diskutiert beschreibt Dio dann, dass die Kampfweise in Formation wirkungslos und sogar hinderlich war, wie Ravenik schon sagte war sie aber wohl auch alternativlos.

Mich interessiert, ob der Halbsatz "doch brachte gerade dies ihnen die Verluste" auf besonders hohe Verlustzahlen der Römer am 3. Tag der Schlacht hindeutet, ob der griechische Originaltext diesen Aspekt in einer etwas anders gearteten Übersetzung etwa noch stärker betonen würde.

Wenn man nämlich annimmt, dass die Römer auf der Lichtung das 3-Legionen-Lager errichtet haben, und Dio für den Tag danach über sehr hohe Verluste der Römer berichtet, würde das wieder sehr gut mit dem Bericht von Tacitus zusammenpassen, dass das nächste Lager, also das am 3. Abend der Schlacht, nur noch auf die angeschlagenen Reste der Legionen hindeutete.


Bemerkung am Rande: Aufgrund der Verlustzahlen der ersten beiden Tag der Schlacht werden die Römer am Abend des 2. Tages eigentlich kein Lager für 3 Legionen mehr gebraucht haben. Da die tatsächlichen Verlustzahlen aber sicher nicht genau bekannt waren, und die Römer auch auch keine Zeit hatten zu überlegen, für wie viele Soldaten das Lager am 2. Abend tatsächlich konzipiert werden musste, wurde es wohl standardmäßig für 3 Legionen angelegt. Wohl auch mit dem Nachteil, dass die aus Graben und Wall bestehende Verteidigungsanlage für die Anzahl der zur Verteidigung zur Verfügungung stehenden Legionäre eigentlich überdehnt war.
 
Wenn man nämlich annimmt, dass die Römer auf der Lichtung das 3-Legionen-Lager errichtet haben, und Dio für den Tag danach über sehr hohe Verluste der Römer berichtet, würde das wieder sehr gut mit dem Bericht von Tacitus zusammenpassen, dass das nächste Lager, also das am 3. Abend der Schlacht, nur noch auf die angeschlagenen Reste der Legionen hindeutete.

Dieser Bedingungssatz ergibt für mich nicht so richtig Sinn. Wenn man annimmt, dass in einer viertägigen Marschschlacht drei Legionen vernichtet wurden, dann ist es doch nur logisch - ich hatte oben über das exponentielle Wachstum der Verluste schon gesprochen - dass am vorletzten Abend nur noch Reste der drei Legionen übrig sein konnten.
Was ich allerdings nach wie vor nicht nachvollziehen kann, ist, wie man das explizit als erste Lager gekennzeichnete Lager, bei dem Tacitus betont, dass es quasi normgerecht eingerichtet war, also wohl kaum unter Schlachtbedingungen errichtet, wie man dieses auf den zweiten Marschtag verlegen kann - letztendlich nur auf einer erwähnten freien Fläche, die man erreichte, basierend. Wieso soll das prima Vari castra dort gelegen haben? Bzw. mit welchen Argumenten wird sinnvoll ausgeschlossen, dass das prima Vari castra das letzte Lager vor der Schlacht darstellt?
 
Dass die Schlacht schon begonnen hatte, als das "erste Lager" errichtet wurde, ergibt sich logisch aus den Schilderungen bei Tacitus. Er schreibt ja, dass Germanicus plötzlich den unstillbaren Drang fühlte, das Schlachtfeld aufzusuchen. Und Tacitus lässt ihn dann den einzelnen Stationen der Schlacht folgen. Dass er (Tacitus) dabei einen Ort erwähnt haben soll, der gar nicht zur Schlacht gehörte, erscheint mir unwahrscheinlich.

Zudem: Wenn vor Errichtung des ersten Lagers gar nicht gekämpft worden wäre - wieso hätte Tacitus dann explizit darauf hinweisen sollen, dass der Umfang des Lagers noch auf die Anwesenheit von drei Legionen hindeutete? Es ist selbstverständlich, dass ein ungestört bauendes Drei-Legionen-Heer ein Lager für drei Legionen errichtet. Sinn macht die Formulierung nur, wenn Tacitus damit sagen wollte, dass die Verluste während der ersten Gefechte nicht katastrophal waren.

Das Argument, dass die Römer unter Gefechtsbedingungen nicht willens oder in der Lage gewesen wären, ein Lager zu errichten, überzeugt auch nicht. Sie haben fast IMMER ein befestigtes Lager für die Nacht errichtet. Caesar beschreibt das auch für Gefechtssituationen. Auch Tacitus schildert, wie Caecina an den Langen Brücken seine Truppen aufteilte, damit die eine Hälfte das Lager baute, während die andere Hälfte die Germanen auf Abstand hielt.

Also kann man Tacitus und Dio in Kombination eigentlich nur so lesen:

Die Römer werden auf dem Marsch angegriffen, erleiden schwere, aber nicht katastrophale Verluste, und errichten am Ende dieses Kampftages ein Lager, das laut Tacitus das "Erste" ist und noch groß genug für drei Legionen. Da fackeln sie in der Nacht ihr überschüssiges Gepäck ab. Am nächsten Tag (Tag 2 des Kampfes) ziehen sie weiter und bauen am Abend auf einer Lichtung ein neues Lager. Das lässt an niedrigen Wällen und flachen Gräben erkennen, dass die Truppe zu dem Zeitpunkt schon stark dezimiert war. Morgens ziehen sie weiter (Tag 3 des Kampfes) und erleiden weitere Verluste. Ob sie am Ende dieses Tages nochmal einen Lagerbau versucht oder sich nur eingeigelt haben, geht aus Tacitus´ Text nicht eindeutig hervor. Man kann den Text auch so verstehen, dass die Römer am Ende dieses dritten Tages restlos niedergemacht wurden, man kann es auch so lesen, dass der Untergang nach dem Abmarsch am Tag vier erfolgte.

MfG
 
Hier noch ein Link zu einer, wie ich meine, sehr interessanten
Internet-Seite, die eine kritische Einstellung zu Dio als Quelle hat:

Lokalisierung durch Cassius Dio

Dio schrieb sein Werk (vermutlich) in seinem Ruhesitz in Bithynien/Kleinasien,
wo er dann wohl kaum Zugriff auf in der Stadt Rom gelagerte Archive und
Bücherrollen gehabt haben dürfte. Er müßte dann hauptsächlich aus dem
Gedächtnis geschrieben haben.

Andererseits attestiert Wikipedia ihm "trotz mancher Probleme" einen hohen Wert als geschichtliche Quelle.

Noch mal kurz zu obiger Internetseite, die wahrscheinlich den meisten hier aber schon bekannt ist. Dort wird auch auf Tacitus' Schilderung eingegangen. Mag Dios Werk an vielen Stellen übertrieben bis phantastisch
sein, so ist die Darstellung des Tacitus, dies ist jetzt aber meine persönliche Meinung, oft verwirrend bis verworren.

Ich werde bei Gelegenheit mal auf die Besonderheiten, ja Widersprüchlichkeiten in Tacitus' Darstellung näher eingehen.
 
Dio schrieb sein Werk (vermutlich) in seinem Ruhesitz in Bithynien/Kleinasien,
wo er dann wohl kaum Zugriff auf in der Stadt Rom gelagerte Archive und
Bücherrollen gehabt haben dürfte. Er müßte dann hauptsächlich aus dem
Gedächtnis geschrieben haben.
Das kann ich mir höchstens für den letzten Teil seines Werks vorstellen. Cassius Dio war bis zu seinem zweiten Konsulat, das er 229, in bereits relativ hohem Alter, bekleidete, politisch aktiv. Nach 229 dürfte er vermutlich nicht mehr allzu lange gelebt haben, da er das Werk offensichtlich möglichst bis zu seiner Gegenwart führen wollte, es allerdings mit der Regierung von Severus Alexander endet. Ich vermute daher, dass er dessen Ermordung (235) und die Thronbesteigung des Maximinus Thrax nicht mehr erlebt hat.
Sein Werk umfasste 80 Bände, das kann er nicht erst im Ruhestand in kurzer Zeit fabriziert haben. Den Großteil muss er also während seiner Zeit in Rom verfasst haben. Die letzten Bücher hingegen, die eine Zeit behandelten, die er als Senator selbst miterlebt hatte, könnte er durchaus problemlos aus dem Gedächtnis verfasst haben.

Die von Dir verlinkte Seite über Cassius Dio agiert polemisch und unfair. Besonders deutlich wird das gleich am Anfang, wo Livius, Sueton und Cassius Dio verglichen werden. Das ist doch ein Vergleich von Äpfeln, Birnen und Pflaumen! Von Livius wird nur die Perioche zitiert, also eine kurze Inhaltsangabe. Es ist wohl nicht verwunderlich, dass sie knapp und sachlich ist. Livius selbst war bestimmt um einiges ausführlicher.
Außerdem tut auch diese Seite so, als wäre Cassius Dio der erste gewesen, der ausführlich über die Varusschlacht schrieb, und hätte er sich auf keine älteren Quellen stützen können, sodass er den Quellenmangel durch Fantasie hätte ausgleichen müssen.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das kann ich mir höchstens für den letzten Teil seines Werks vorstellen. Cassius Dio war bis zu seinem zweiten Konsulat, das er 229, in bereits relativ hohem Alter, bekleidete, politisch aktiv. Nach 229 dürfte er vermutlich nicht mehr allzu lange gelebt haben, da er das Werk offensichtlich möglichst bis zu seiner Gegenwart führen wollte, es allerdings mit der Regierung von Severus Alexander endet. Ich vermute daher, dass er dessen Ermordung (235) und die Thronbesteigung des Maximinus Thrax nicht mehr erlebt hat.
Sein Werk umfasste 80 Bände, das kann er nicht erst im Ruhestand in kurzer Zeit fabriziert haben. Den Großteil muss er also während seiner Zeit in Rom verfasst haben. Die letzten Bücher hingegen, die eine Zeit behandelten, die er als Senator selbst miterlebt hatte, könnte er durchaus problemlos aus dem Gedächtnis verfasst haben.

Ich kann deine Argumente nicht bestreiten, und halte es für möglich, daß du Recht hast. Daher habe ich selbst ja auch das "vermutlich" eingefügt.

Die von Dir verlinkte Seite über Cassius Dio agiert polemisch und unfair.

Das ist ein sehr hartes Urteil. Allerdings, die Seite steuert auf ein bestimmtes Ergebnis hin, da wird es immer problematisch.
Jedoch gibt sie trotzdem einen recht guten Überblick, auch was das Kartenmaterial angeht. Ich finde sie hilfreich und interessant, auch wenn ich die Schlußfolgerungen des Autors nicht unbedingt teile.
 
Dass die Schlacht schon begonnen hatte, als das "erste Lager" errichtet wurde, ergibt sich logisch aus den Schilderungen bei Tacitus. Er schreibt ja, dass Germanicus plötzlich den unstillbaren Drang fühlte, das Schlachtfeld aufzusuchen. Und Tacitus lässt ihn dann den einzelnen Stationen der Schlacht folgen. Dass er (Tacitus) dabei einen Ort erwähnt haben soll, der gar nicht zur Schlacht gehörte, erscheint mir unwahrscheinlich.

Aber das ist es doch gerade, Tacitus arbeitet hier mit einem Oppositionspaar: Hier das intakte Lager der intakten Armee, dort das Lager der eigentlich schon besiegten Truppen, welches nur noch halbherzig (niedriger, instabiler Wall) errichtet wurde.

Zudem: Wenn vor Errichtung des ersten Lagers gar nicht gekämpft worden wäre - wieso hätte Tacitus dann explizit darauf hinweisen sollen, dass der Umfang des Lagers noch auf die Anwesenheit von drei Legionen hindeutete? Es ist selbstverständlich, dass ein ungestört bauendes Drei-Legionen-Heer ein Lager für drei Legionen errichtet. Sinn macht die Formulierung nur, wenn Tacitus damit sagen wollte, dass die Verluste während der ersten Gefechte nicht katastrophal waren.

Wie gesagt, es geht um die Opposition zwischen dem ersten und dem letzten Lager. Tacitus arbeitete gerne mit Oppositionen, wenn auch meist in anderen Kontexten (etwa die Widerrede von Augustusbefürwortern und Augustusgegnern zu dessen Begräbnis).

Das Argument, dass die Römer unter Gefechtsbedingungen nicht willens oder in der Lage gewesen wären, ein Lager zu errichten, überzeugt auch nicht. Sie haben fast IMMER ein befestigtes Lager für die Nacht errichtet. Caesar beschreibt das auch für Gefechtssituationen. Auch Tacitus schildert, wie Caecina an den Langen Brücken seine Truppen aufteilte, damit die eine Hälfte das Lager baute, während die andere Hälfte die Germanen auf Abstand hielt.

Ich kann mich nicht erinnern bei Caesar eine derartige Stelle gelesen zu haben (was nichts heißen muss). Bei den pontes longi wird aber die Schwierigkeit des Lagerbaus beschrieben.

Also kann man Tacitus und Dio in Kombination eigentlich nur so lesen:

Und genau das ist ein methodischer Fehler. Das setzt nämlich voraus, dass beide Autoren wirkliche Ereignisse berichten, die man miteinander kombinieren kann. Vielleicht kann man das, vielleicht aber auch nicht.
Was aber nun mal nicht geht, ist zu sagen: Och, öhm, das prima Vari castra ist das, was auf der Freifläche zum Ende des zweiten Tages der Schlacht errichtet wurde. Damit werden die Quellen zu einer gummiartigen Manövriermasse, man dreht und wendet, zieht und deut so lange an ihnen, bis sie irgendwie in das persönliche Konstrukt passen.

Andererseits attestiert Wikipedia ihm "trotz mancher Probleme" einen hohen Wert als geschichtliche Quelle.

Ich halte ja viel von Wikipedia, allerdings kann dort immer noch jeder seinen Senf abgeben.


Mag Dios Werk an vielen Stellen übertrieben bis phantastisch sein, so ist die Darstellung des Tacitus, dies ist jetzt aber meine persönliche Meinung, oft verwirrend bis verworren.

Ich werde bei Gelegenheit mal auf die Besonderheiten, ja Widersprüchlichkeiten in Tacitus' Darstellung näher eingehen.

Tacitus gelingt ein Kunststück. Eigentlich beschreibt er ja nicht die Varusschlacht, sondern die Begehung des Schlachtfeldes durch Germanicus sechs Jahre danach, was also eigentlich eher langweilig ist. 1800 Jahre vor Erfindung der bewegten Bilder benutzt er die Rückblende, die er klimakterisch einsetzt. Erstes Lager - letztes Lager, Ort, wo die Zenturionen gemartert wurden, Ort, wo die Legaten fielen, Ort, wo die Adler in die Hände der Germanen gerieten, schließlich als Klimax der Ort, wo Varus sich den Todesstoß versetzte.
Man sieht also die Auflösung der Armee anhand ihrer Ränge von unten nach oben, wobei die Ermordung der Zenturionen eigentlich nach der Schlacht angeordnet ist. Dass die Legaten alle gleichzeitig starben und die drei Legionsadler alle gleichzeitig verloren gingen, wird auch niemand ernsthaft in Betracht ziehen.

Edit:

Also kann man Tacitus und Dio in Kombination eigentlich nur so lesen:

Die Römer werden auf dem Marsch angegriffen, erleiden schwere, aber nicht katastrophale Verluste, und errichten am Ende dieses Kampftages ein Lager, das laut Tacitus das "Erste" ist und noch groß genug für drei Legionen. Da fackeln sie in der Nacht ihr überschüssiges Gepäck ab.

Und hier wird schon der Widerspruch zwischen Tacitus und Cassius Dio sofort ignoriert.
Wenn man sie kombinatorisch lesen will, dann muss das prima Vari castra - das Dreilegionennormlager - das Lager vor der Schlacht gewesen sein, denn das erste Lager während der Schlacht zeichnet sich, den Ausführungen des Cassius Dio zufolge, ja gerade dadurch aus, dass es den Sachzwängen geschuldet nicht normgerecht errichtet wurde.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich persönlich konnte der Darstellung, daß Dio unglaubwürdig ist, nur da er in großem Abstand zum Geschehen schrieb wenig abgewinnen.

Nicht "nur", sondern auch. Im Wesentlichen liegt seine Unglaubwürdigkeit in anderen Dingen. Welche das sind, kannst du oben nachlesen.

Geht man davon aus, daß zumindest zu Beginn der Varusschlacht die Germanen wahrscheinlich deutlich in Unterzahl waren (was aber auch nicht zu beweisen ist), so müssen sie gewisse Vorteile bezügl Wetter und Gelände gehabt haben. Das erscheint einfach nur logisch.

Warum sollte man von der Bedingung, dass sie in der Unterzahl waren, ausgehen? Welchen Sinn hätte das gehabt, eine Schlacht zu provozieren, bei der man zunächst in Unterzahl hätte kämpfen müssen?
 
Das, was Tacitus' tatsächlich auch in meinen Augen zur glaubwürdigsten Quelle macht, ist der Umstand, dass Augenzeugen den Germanicus herumführten und Tacitus bei dieser Gelegenheit sagt, dass diese Augenzeugen bestimmte Orte mit bestimmten Ereignissen der Schlacht in Verbindung brachten.

Mit den angeblichen Augenzeugenberichten habe ich aber auch meine Probleme.
Eine römische Armee zieht tagelang kämpfend durch ein ihr unbekanntes Gelände. Nur wenige überleben. Von diesen wenigen dürften noch weniger einen Überblick über die Gesamtlage gehabt haben.
Es dürfte schon direkt nach den Ereignissen nicht so ganz einfach für die römische Führung gewesen sein, herauszubekommen, was tatsächlich passiert war.
Nun sind aber 6 Jahre nach der Schlacht einige dieser Augenzeugen in der Lage, den Germanicus genau dahin zu führen, wo sie sich schon 6 Jahre früher nicht zurecht gefunden hatten.
Und diese Augenzeugen können den Geschichtsschreibern detailierte Auskünfte nicht nur über das Wetter und die Landschaft, sondern auch über die Ereignisse in den verschiedenen Teilen des kilometerlangen Zuges machen.

Oder aber sie sind nur Fantasieprodukte, welche der Erzählung etwas mehr Gewicht verleihen sollen. Für den Zug des Germanicus sollte man eher einheimische Führer erwarten, die die Gegend tatsächlich kannten.
 
Mit den angeblichen Augenzeugenberichten habe ich aber auch meine Probleme.
Eine römische Armee zieht tagelang kämpfend durch ein ihr unbekanntes Gelände. Nur wenige überleben. Von diesen wenigen dürften noch weniger einen Überblick über die Gesamtlage gehabt haben.
Es dürfte schon direkt nach den Ereignissen nicht so ganz einfach für die römische Führung gewesen sein, herauszubekommen, was tatsächlich passiert war.
Nun sind aber 6 Jahre nach der Schlacht einige dieser Augenzeugen in der Lage, den Germanicus genau dahin zu führen, wo sie sich schon 6 Jahre früher nicht zurecht gefunden hatten.
Und diese Augenzeugen können den Geschichtsschreibern detailierte Auskünfte nicht nur über das Wetter und die Landschaft, sondern auch über die Ereignisse in den verschiedenen Teilen des kilometerlangen Zuges machen.

Das Wetter kommt ja bei Tacitus überhaupt nicht vor. Und die Augenzeugen, die z.T. aus der Sklaverei befreit wurden, z.T. es aber wohl auch (über Aliso) nach Hause geschafft haben, die superstites [...] vincula elapsi, werden genau die Leute gewesen sein, die noch am ehesten Auskünfte hätten geben können. Es gibt keinen Grund, warum gerade die erfunden sein sollten.
 
Tacitus' Bericht von der Varusschlacht, der ja eigentlich nur ein Bericht von der Begehung des Schlachtfeldes ist, ist auch weder umfänglich, noch besonders genau.
 
Warum sollte man von der Bedingung, dass sie in der Unterzahl waren, ausgehen? Welchen Sinn hätte das gehabt, eine Schlacht zu provozieren, bei der man zunächst in Unterzahl hätte kämpfen müssen?

Ich gehe nicht von einer solchen Bedingung aus.
Die Möglichkeit besteht allerdings, zumal in den Quellen auch erwähnt wird, daß die Anzahl der Germanen im Laufe der Schlacht auch aus Beutegier heraus größer wurde. Es gibt zumindest Meinungen die eine solche Unterzahl für möglich halten. In einem "Guerilliakampf" ist das wohl auch nicht ungewöhnlich. Ich kann mich dunkel an einen archäologischen Vortrag erinnern, wo das zur Sprache kam.

Letztlich hast du aber natürlich recht.
Das ist zu vage und zu spekulativ.
Asche auf mein Haupt.
 
Aber das ist es doch gerade, Tacitus arbeitet hier mit einem Oppositionspaar: Hier das intakte Lager der intakten Armee, dort das Lager der eigentlich schon besiegten Truppen, welches nur noch halbherzig (niedriger, instabiler Wall) errichtet wurde.

Wie gesagt, es geht um die Opposition zwischen dem ersten und dem letzten Lager. Tacitus arbeitete gerne mit Oppositionen...
Richtig. Tacitus stellt hier zwei Dinge einander gegenüber. Allerdings nicht Lager 1 und Lager 2, sondern das taktische Verhalten von Varus und das des Caecina. Beide waren nach ersten Gefechten schwer gebeutelt. Beide errichteten mit zwei blauen Augen ein Lager. Der große Unterschied: Caecina blieb in diesem Lager sitzen und siegte, Varus marschierte weiter und unterlag. DAS ist das Gegensatzpaar, das Tacitus hier aufmacht.

Sein Hinweis, dass das "erste" Lager noch die Existenz eines durchsetzungstarken Heeres erkennen ließ, das zweite aber nicht mehr, bedeutet doch nur, dass zwischen der ersten und der zweiten "Lagerung" Gefechte erfolgten, die dem Heer das Rückgrat brachen. Die Niederlage ist somit nicht Folge des nachlässigen Lagerbaus am Ende des zweiten Tages. Der nachlässige Lagerbau ist offensichtliche Folge der sich abzeichnenden Niederlage. Im Gegensatz zu Caecina, der ... etc. Die Lager bilden in der Tacitus-Schilderung kein Gegensatzpaar, sondern Symbole für eine logische Konsequenz: So musste es ja kommen...

Ich kann mich nicht erinnern bei Caesar eine derartige Stelle gelesen zu haben (was nichts heißen muss). Bei den pontes longi wird aber die Schwierigkeit des Lagerbaus beschrieben.
Was Caesar betrifft: Jetzt, da Du gefragt hast, würde ich meine Hand nicht mehr dafür ins Feuer legen, dass er sowas geschrieben hat. Ist eine eher dumpfe Erinnerung. War da nicht was von Legionen, die zwischen einer belagerten Stadt und überlegenen gallischen Entsatztruppen eingeschlossen waren und während des Kampfes kilometerlange Befestigungen bauten? War das Alesia? Ich wollte Caesar sowieso jetzt nochmal lesen. Ist aber egal: Caecina ist Beweis genug, dass auch im Gefecht Lager gebaut werden konnten und gebaut wurden.

Und genau das ist ein methodischer Fehler. Das setzt nämlich voraus, dass beide Autoren wirkliche Ereignisse berichten, die man miteinander kombinieren kann. Vielleicht kann man das, vielleicht aber auch nicht.
Das würde bedeuten, dass es schon ein methodischer Fehler ist, sich überhaupt mit Schriftquellen zu befassen. Egal was geschrieben wurde und egal von wem es geschrieben wurde: Nur wenn wir persönlich dabei waren, können wir wenigstens einigermaßen zuverlässig beurteilen, ob das Geschriebene der Wahrheit entspricht. Wir waren aber nicht dabei.

Trotzdem bleibt: Tacitus schildert en passant die Varusschlacht und Dio schildert die Varusschlacht. Also kann es durchaus möglich sein, aus den Schilderungen Kongruenzen und Widersprüche abzulesen. Wenn beide Autoren über drei Lager(plätze) berichten, dann liegt es schon nahe, dass sie dieselben Lager meinen.

Noch eine Anmerkung zum "ersten" Lager, das bei Tacitus erwähnt ist: Ich gehe nicht davon aus, dass die Legionen schon am ersten Tag nach ihrem Aufbruch aus dem mutmaßlichen Sommerlager angegriffen wurden. Zwischen dem Sommerlager und dem Ort, an dem die Kämpfe begannen, muss es also noch eine Reihe von Marschlagern gegeben haben. Wenn Tacitus also von einem "ersten" Lager schreibt, dann meint er nicht das erste Lager nach dem Aufbruch, sondern das erste Lager nach Beginn der Kampfhandlungen.

Was aber nun mal nicht geht, ist zu sagen: Och, öhm, das prima Vari castra ist das, was auf der Freifläche zum Ende des zweiten Tages der Schlacht errichtet wurde.
Stimmt. Das geht gar nicht. Deshalb habe ich das auch nicht behauptet. Das war wer anders. ;)

Noch ein paar Worte zu der Frage, warum die Darstellungen bei Tacitus und Dio nicht deckungsgleich sind:

Zunächst kann man davon ausgehen, dass Tacitus sich stark auf die Berichte in den Senatsarchiven gestützt haben dürfte. Dio kann durchaus sein Augenmerk stärker auf Quellen gerichtet haben, die andere und vielleicht sogar weiter gehende Informationen enthielten. Plinius zum Beispiel.

Dann ist zu sagen, dass die Art der Berichterstattung auch immer vom Zeitpunkt der Berichterstattung abhängt. Man muss nicht bei Adam und Eva anfangen, wenn man den Ereignissen noch so nah ist, dass man davon ausgehen kann, dass ein Großteil der Leser ohnehin weiß, worüber man schreibt. Deshalb werden historische Berichte typischerweise immer ausführlicher, je später nach den Ereignissen sie verfasst werden.

MfG
 
Ich gehe nicht von einer solchen Bedingung aus.
Die Möglichkeit besteht allerdings, zumal in den Quellen auch erwähnt wird, daß die Anzahl der Germanen im Laufe der Schlacht auch aus Beutegier heraus größer wurde. Es gibt zumindest Meinungen die eine solche Unterzahl für möglich halten. In einem "Guerilliakampf" ist das wohl auch nicht ungewöhnlich. Ich kann mich dunkel an einen archäologischen Vortrag erinnern, wo das zur Sprache kam.
Das mit der zahlenmäßigen Unterlegenheit halte ich auch für völlig widersinnig. Die Germanen hatten in fast jeder vorangegangenen Schlacht mit den Römern ordentlich Prügel bezogen. Warum sie ausgerechnet gegen ein Drei-Legionen-Heer mit der Hoffnung auf Erfolg in Unterzahl angetreten sein sollten, ist durch nichts zu erklären. Ganz besonders nicht dadurch, dass sie sich plötzlich zu einem "Guerillakampf" entschlossen hätten. Gerade Guerillas lassen sich nämlich nur dann auf einen Kampf ein, wenn sie sich ihrer Überlegenheit sicher sind. Das ist ein Wesensmerkmal des "asymmetrischen" Krieges. Kämpfe nur, wenn Du nicht besiegt werden kannst. Sun Tsu lässt grüßen.

Dass manche Leute das anders sehen, ist bekannt. Ich behaupte aber mal ganz elitär, dass diese Leute von Militär bestenfalls wenig Ahnung haben. Ich bezweifele nicht, dass gewisse Teile der germanischen Truppen anfangs abwartend waren und sich erst im Laufe der Gefechte zum Kampf entschlossen haben. Aber auch diese Einheiten waren von Beginn an vor Ort und auch die waren von Beginn an bereit, gegen die Römer zu kämpfen. Sie haben nur abgewartet, bis sie sich des Sieges einigermaßen sicher waren. Nachträglich hätte man diese Truppen gar nicht mobilisieren können. Die Schlacht dauerte nur drei, höchstens vier Tage. Mit den damaligen Kommunikationsmitteln war es schlechterdings unmöglich, nach Kampfbeginn bei 50 oder 100 Kilometer entfernt lebenden Stämmen noch Aufgebote zusammenzutrommeln und sie rechtzeitig zum Kriegsschauplatz zu bringen. Jeder, der an dem Kampf teilgenommen hat, war schon da, als der erste Speer geworfen wurde. Und das müssen zahlenmäßig stark überlegene Kräfte gewesen sein. Sonst hätten die Römer gewonnen.

MfG
 
... Gerade Guerillas lassen sich nämlich nur dann auf einen Kampf ein, wenn sie sich ihrer Überlegenheit sicher sind. Das ist ein Wesensmerkmal des "asymmetrischen" Krieges. ...

Ja, aber die Überlegenheit basiert dann meist auf den Faktoren "Überraschung" und/oder "Geländevorteilen".
Eine quantitative Überlegenheit liegt meist nicht vor!
 
Richtig. Tacitus stellt hier zwei Dinge einander gegenüber. Allerdings nicht Lager 1 und Lager 2, sondern das taktische Verhalten von Varus und das des Caecina. Beide waren nach ersten Gefechten schwer gebeutelt. Beide errichteten mit zwei blauen Augen ein Lager. Der große Unterschied: Caecina blieb in diesem Lager sitzen und siegte, Varus marschierte weiter und unterlag. DAS ist das Gegensatzpaar, das Tacitus hier aufmacht.

Du hast mich deutlich missverstanden. Was du schreibst ist korrekt: Auf einer mehrere Kapitel übergreifenden Makroebene wird das taktische Verhalten von Varus und Caecina gegebübergestellt. Auf der Mikroebene des Satzes aber stellt Tacitus das erste und das letzte Lager des Varus einander gegenüber: "Prima Vari castra lato ambitu et dimensis principiis trium legionum manus ostentabant, dein semiruto vallo, humili fossa accisae...
Gerade diese "dimensis principiis" sprechen dafür, dass damit ein Lager vor der Schlacht gemeint sein muss, denn wer hätte denn in der Schlachtsituation nur einen Deut auf die Größe des Hauptplatzes gegeben?


Sein Hinweis, dass das "erste" Lager noch die Existenz eines durchsetzungstarken Heeres erkennen ließ, das zweite aber nicht mehr, bedeutet doch nur, dass zwischen der ersten und der zweiten "Lagerung" Gefechte erfolgten, die dem Heer das Rückgrat brachen. Die Niederlage ist somit nicht Folge des nachlässigen Lagerbaus am Ende des zweiten Tages.
Auch hier wieder ein Missverständnis. Keinesfalls will ich so verstanden werden, dass das zweite bei Tacitus erwähnte Lager das Lager des zweiten Marschtages wäre.
Der Threaderöffner hat in einem seiner Beiträge - in der Absicht, Tacitus und Cassius Dio miteinander zu harmonisieren - die Vermutung geäußert, dass das bei Tacitus als erstes Lager bezeichnete Lager das ist, welches mit dem bei Cassius nicht explizit erwähnten zweiten Lager, was beim erwähnten Erreichen der Freifläche wohl erbaut wurde, gleichzusetzen sei. Dies habe ich in Abrede gestellt.
Wir sind uns aber wohl darin einig, dass das Erreichen der Freifläche das Ende des zweiten Marschtages einschließlich Lagerbau - trotz der nicht expliziten Erwähnung - markiert. Denn mit dem nächsten Satz beginnt der dritte Marschtag (ebenfalls nicht explizit als solcher gekennzeichnet, satzstrukturell aber nachvollziehbar und ich sehe hier auch keinen Dissens zwischen den Diskutanten) und schließlich, wiederum explizit, der vierte Marschatg.
Wenn man Cassius Dio ernst nimmt - und dafür plädiert ihr ja - dann passt sein am ersten Marschtag errichtetes Lager nicht mit dem ersten Lager, welches Tacitus beschreibt überein. Man kann diese Stellen nicht harmonisieren, es sei denn, man akzeptiert, dass das erste Lager bei Tacitus vor der Schlacht errichtet wurde und der Angriff erst nach Abmarsch hieraus erfolgte.

Was Caesar betrifft: Jetzt, da Du gefragt hast, würde ich meine Hand nicht mehr dafür ins Feuer legen, dass er sowas geschrieben hat. Ist eine eher dumpfe Erinnerung.

Wie gesagt, ich wollte da nichts in Abrede stellen...

War da nicht was von Legionen, die zwischen einer belagerten Stadt und überlegenen gallischen Entsatztruppen eingeschlossen waren und während des Kampfes kilometerlange Befestigungen bauten? War das Alesia?

Ja, das stimmt. Hier wurden die Befestigungen aber nicht während der Kampfhandlungen gebaut sondern in dem Wissen, dass ein gallisches Entsatzheer anrückte. Daher gibt es hier keine Parallele

Ich wollte Caesar sowieso jetzt nochmal lesen. Ist aber egal: Caecina ist Beweis genug, dass auch im Gefecht Lager gebaut werden konnten und gebaut wurden.

Das habe ich auch nicht in Abrede gestellt. Es geht nicht darum, dass ein Lager gebaut wurde, sondern um die Bedingungen, unter denen es gebaut wurde und dass eine bedrängte Truppe sicher nicht in der Lage ist, ein Normlager zu bauen, welches anhand der Abmessungen des Hauptplatzes die Arbeit dreier Legionen erkennen lässt.

Und genau das ist ein methodischer Fehler. Das setzt nämlich voraus, dass beide Autoren wirkliche Ereignisse berichten, die man miteinander kombinieren kann. Vielleicht kann man das, vielleicht aber auch nicht.
Das würde bedeuten, dass es schon ein methodischer Fehler ist, sich überhaupt mit Schriftquellen zu befassen. Egal was geschrieben wurde und egal von wem es geschrieben wurde: Nur wenn wir persönlich dabei waren, können wir wenigstens einigermaßen zuverlässig beurteilen, ob das Geschriebene der Wahrheit entspricht. Wir waren aber nicht dabei.

Die Schlussfolgerung verstehe ich nicht. Es gibt historische Quellen zu einem Ereignis. Diese können sich unauflöslich widersprechen. Das passiert z.B. bei Florus und Cassius Dio - Lagerschlacht vs. Marschlacht.

Es sind alle möglichen Kombinationen möglich:
1.) Zwei Quellen berichten von demselben Ereignis. Sie ergänzen sich.
2.) Zwei Quellen berichten von demselben Ereignis. Sie sind voneinander abhängig, weil Autor A Autor B benutzt hat. Sie sind nicht oder nur bedingt als Ergänzung zueinander zu verstehen, können sich aufgrund der Abhängigkeit voneinander nicht gegenseitig bekräftigen.
3.) Zwei Quellen berichten von demselben Ereignis. Sie berichten aus zwei verschiedenen Perspektiven. Sie können sich gegenseitig ergänzen, obwohl jeder der Autoren pro domo sua schreibt. Wenn sie widerspruchsfrei sind (quellenimmanente Widersprüche lasse ich der Einfachheit halber mal außen vor), sind sie ereignishistorisch von hohem Wert, da sie offenbar glaubwürdig sind. Beide Parteien berichten z.B. trotz Gegnerschaft dieselben Ereignisse in derselben Reihenfolge. Diese Quellen würden ihre Glaubwürdigkeit gegenseitig bekräftigen.
4.) Zwei Quellen berichten von demselben Ereignis. Sie berichten aus zwei verschiedenen Perspektiven. Sie widersprechen sich aber, weil jeder der Autoren pro domo sua schreibt. Insbesondere bei Schuldfragen gibt es immer wieder mal gegensätzliche, nicht zu harmoniserende Angaben.

Bei Tacitus und Cassius Dio haben wir das Problem, dass sie zunächst einmal keine großen Widersprüchen aufzeigen, aber sich auch kaum wirklich ergänzen. In der Lagerfrage allerdings, würden sie sich eindeutig widersprechen, wenn man a) annimmt, dass Cassius Dio glaubwürdig ist und b), dass das "prima Vari castra" des Tacitus das erste Lager nach der Schlacht bedeuten würde. Hier ist der Widerspruch zwischen beiden nur aufzulösen, wenn man einer der beiden Quellen Gewalt antut.


Trotzdem bleibt: Tacitus schildert en passant die Varusschlacht und Dio schildert die Varusschlacht. Also kann es durchaus möglich sein, aus den Schilderungen Kongruenzen und Widersprüche abzulesen. Wenn beide Autoren über drei Lager(plätze) berichten, dann liegt es schon nahe, dass sie dieselben Lager meinen.

Das tun sie ja nicht. Tacitus berichtet nur von zwei Lagerplätzen, Cassius Dio explizit nur von einem. Die weiteren beiden lassen sich lediglich logisch ergänzen .


Noch eine Anmerkung zum "ersten" Lager, das bei Tacitus erwähnt ist: Ich gehe nicht davon aus, dass die Legionen schon am ersten Tag nach ihrem Aufbruch aus dem mutmaßlichen Sommerlager angegriffen wurden. Zwischen dem Sommerlager und dem Ort, an dem die Kämpfe begannen, muss es also noch eine Reihe von Marschlagern gegeben haben. Wenn Tacitus also von einem "ersten" Lager schreibt, dann meint er nicht das erste Lager nach dem Aufbruch, sondern das erste Lager nach Beginn der Kampfhandlungen.

Da Tacitus ja nicht die Schlacht beschreibt, sondern das Auffinden der Reste des Varus durch Germanicus, ist das eben nicht zwingend. Die Beschreibung des Lagers - wenn man mal den Widerspruch der Lagerbeschreibung des Cassius Dio außen vor lässt - ist eher ein Lager einer intakten Armee, in Friedenszeiten errichtet.


Dann ist zu sagen, dass die Art der Berichterstattung auch immer vom Zeitpunkt der Berichterstattung abhängt. Man muss nicht bei Adam und Eva anfangen, wenn man den Ereignissen noch so nah ist, dass man davon ausgehen kann, dass ein Großteil der Leser ohnehin weiß, worüber man schreibt. Deshalb werden historische Berichte typischerweise immer ausführlicher, je später nach den Ereignissen sie verfasst werden.

Als Tacitus seine Bericht schrieb, dürften die letzten Überlebenden der Varusschlacht und auch die Teilnehmer an den Strafexpeditionen des Germanicus schon einige Jahrzehnte verschieden gewesen sein. Die Erfahrung mit historischen Quellen ist eigentlich die, dass die Informationsdichte mit Abstand zum Ereignis abnimmt. Der Bericht des Cassius Dio ist da eher eine Ausnahme und gerade das muss bei einer vernünftigen Q-Kritik mitberücksichtigt werden.
 
Du hast mich deutlich missverstanden. Was du schreibst ist korrekt: Auf einer mehrere Kapitel übergreifenden Makroebene wird das taktische Verhalten von Varus und Caecina gegebübergestellt. Auf der Mikroebene des Satzes aber stellt Tacitus das erste und das letzte Lager des Varus einander gegenüber: "Prima Vari castra lato ambitu et dimensis principiis trium legionum manus ostentabant, dein semiruto vallo, humili fossa accisae...
Eben. Hier fügt sich die von Dir benannte Mikroebene an den eigentlich von Tacitus gemeinten Gegensatz: Der Zustand des zweiten (meintehalben auch letzten) Lagers ist die logische Konsequenz daraus, dass Varus sich zum Marschieren entschlossen hat, während Caecina trotz aller Widrigkeiten im sicheren Lager ausgeharrt hat.

Gerade diese "dimensis principiis" sprechen dafür, dass damit ein Lager vor der Schlacht gemeint sein muss, denn wer hätte denn in der Schlachtsituation nur einen Deut auf die Größe des Hauptplatzes gegeben?
Am Ende des Marsches für die Nacht ein sicheres Lager zu bauen, war Standardtaktik. Das wurde immer so gemacht. Auch während des Gefechts. Und wenn man immer ein Lager baut, dann baut man es auch immer gleich. Tacitus beschreibt das erste Lager als "normgerecht", groß genug und sogar mit sauber abgestecktem Appell-Platz. Das Heer war angegriffen worden, es hat Verluste hinnehmen müssen, aber es war noch diszipliniert genug und stark genug, um "Dienst nach Vorschrift" zu machen. Es war Blut geflossen, der Krieg war ausgebrochen, aber die Legionen waren intakt - und hätten allem gewachsen sein müssen, was die Germanen aufbieten konnten. Sie HÄTTEN. Waren die Caecina-Truppen vier Jahre später ja auch. Sie waren den Germanen aber nicht gewachsen. Weil Varus den fatalen Fehler gemacht hat, weiterzumarschieren während der Feind noch um ihn rum war und auf eine Schlacht aus war. Wohin das führte, macht das zweite Lager augenfällig deutlich. Errichtet von einer Armee, die zwar noch wollte, aber nicht mehr konnte. Die schon geschlagen war.

Der Threaderöffner hat in einem seiner Beiträge - in der Absicht, Tacitus und Cassius Dio miteinander zu harmonisieren - die Vermutung geäußert, dass das bei Tacitus als erstes Lager bezeichnete Lager das ist, welches mit dem bei Cassius nicht explizit erwähnten zweiten Lager, was beim erwähnten Erreichen der Freifläche wohl erbaut wurde, gleichzusetzen sei. Dies habe ich in Abrede gestellt.
Und in der Hinsicht gebe ich Dir vollkommen Recht.

Wir sind uns aber wohl darin einig, dass das Erreichen der Freifläche das Ende des zweiten Marschtages einschließlich Lagerbau - trotz der nicht expliziten Erwähnung - markiert.
Ja, da sind wir uns einig. Dass Dio den Lagerbau nicht explizit erwähnt, erkläre ich damit, dass die Römer am Ende eines Marsches IMMER ein Lager bauten. Warum sollte man das also erwähnen? Das erste Lager erwähnt Dio auch nur deshalb, weil es schon während des Marsches, während der laufenden Kämpfe gebaut wurde, um einen sicheren Ort zu schaffen, an dem man sich "sortieren", eine einigermaßen "normale" Marschordnung herstellen und all den überflüssigen Mist verbrennen konnte, den man so mitschleppte. Ein Beleg hierfür ist auch der Hinweis Dios, dass die Römer am Ende des darauf folgenden Marschtages offenbar kein Lager mehr bauen konnten: Er schreibt, dass sie, als der Tag graute, "noch immer auf dem Marsch" waren.

Denn mit dem nächsten Satz beginnt der dritte Marschtag (ebenfalls nicht explizit als solcher gekennzeichnet, satzstrukturell aber nachvollziehbar und ich sehe hier auch keinen Dissens zwischen den Diskutanten) und schließlich, wiederum explizit, der vierte Marschatg.
Abgesehen von dem Hinweis auf den grauenden grauenhaften finalen Tag des Kampfes...

Wenn man Cassius Dio ernst nimmt - und dafür plädiert ihr ja - dann passt sein am ersten Marschtag errichtetes Lager nicht mit dem ersten Lager, welches Tacitus beschreibt überein.
Ich plädiere nicht dafür, Dios Text für die reine Wahrheit zu halten. Ich plädiere nur dagegen, seinen Text als topisches Gelaber abzutun. Abgesehen von Deinen immer wieder vorgebrachten und auch völlig angemessenen Hinweisen auf die vermeintlichen gummiüberzogenen Supergermanen schildert Dio die Vorgänge dazu zu sachlich und benennt auch offen die Fehler der römischen Kommandeure.

Man kann diese Stellen nicht harmonisieren, es sei denn, man akzeptiert, dass das erste Lager bei Tacitus vor der Schlacht errichtet wurde und der Angriff erst nach Abmarsch hieraus erfolgte.
Das ist der Punkt, den ich gar nicht nachvollziehen kann. Wo siehst Du da den Widerspruch?

Tacitus schildert die Vorgänge sehr "gerafft". Er staucht das Geschehen so sehr zusammen, dass man sich beim ersten Lesen fragen muss, ob er von verschiedenen Örtlichkeiten spricht oder nur von einem Platz. Meint er vielleicht ein Lager, das zwar groß genug für drei Legionen war und einen angemessenen Hauptplatz hatte, dessen Wälle aber schon zu niedrig und dessen Gräben schon zu flach waren? Lagen die Haufen der Gefallenen etwa mitten in diesem Lager? Vielleicht ist Florus ja wegen dieser komprimierten Schilderung im Tacitus-Text auf die absurde Idee von der Lagerschlacht gekommen.

Ich denke, wir sind uns einig, dass Tacitus von verschiedenen Örtlichkeiten sprach. Also gab es zwei Lager und einen dritten Platz, an dem die Gefallenen lagen. Meiner Ansicht nach ergibt sich das schon logisch aus der Formulierung "prima Vari Castra". Wenn es ein "erstes" Lager gab, dann muss es mindestens auch ein zweites gegeben haben. Anderenfalls hätte sich die Zählung erübrigt.

Nun stellt sich aber die Frage, warum Tacitus dieses eine Lager als das "erste" bezeichnet hat. Es war Herbst. Das Ende der Feldzug-Saison. Die Varuslegionen hatten sich monatelang in Germanien aufgehalten, waren hunderte von Kilometern marschiert und hatten mit Sicherheit Dutzende von Lagern gebaut. Warum also bezeichnet Tacitus gerade dieses eine als das "erste"?

Das kann man an dem Text ablesen: Tacitus lässt die Germanicus-Truppen das Schlachtfeld betreten, "grausig anzuschauen" und voller böser Erinnerungen, und erst dann erwähnt er das "prima Vari Castra". Er meint eindeutig das erste Lager, das im Laufe der Schlacht errichtet worden ist. Und das passt perfekt zur Schilderung Dios: Eine ungeordnet maschierende intakte Armee wird angegriffen, errichtet ein Lager und ist selbst dann noch "intakt genug", um all ihre hinderlichen Luxusgüter verbrennen zu müssen.

Die weiteren Schilderungen passen auch zueinander. Dio berichtet von der Fortsetzung des Marsches "in besserer Ordnung" und Verlusten während dieses Marsches zu einer offenen Fläche, Tacitus erzählt von einem zweiten Lager, das am Ende dieses zweiten Marschtages errichtet wurde und an seiner Gestalt die Verluste während des Tages erkennen lässt. Dio berichtet dann von der Fortsetzung des Marsches wieder in unwegsames Gelände bis zum Finalen Kampf nach dem grauenden Morgen, Tacitus erzählt von einem Ort, an dem letztlich auf offener Fläche die Haufen der Gebeine lagen.

Für mich passt das alles. Ich sehe da keinen Widerspruch.

Das habe ich auch nicht in Abrede gestellt. Es geht nicht darum, dass ein Lager gebaut wurde, sondern um die Bedingungen, unter denen es gebaut wurde und dass eine bedrängte Truppe sicher nicht in der Lage ist, ein Normlager zu bauen, welches anhand der Abmessungen des Hauptplatzes die Arbeit dreier Legionen erkennen lässt.
Das ist Spekulation. Wir alle wissen nicht, wie heftig die Kämpfe am ersten Tag waren. Wir wissen nichts über ihren Verlauf. Vielleicht flauten die Kämpfe nach dem ersten sicher massiven Angriff ab und die Römer konnten unbedrängt schanzen. Zudem war Lagerbau für die Legionen kein unangemessener Aufwand, sondern zentraler Bestandteil ihrer Taktik. Ein Lager bot Sicherheit und war überlebenswichtig. Dass solche Lager auch während massiver Kämpfe gebaut wurden, beweist - wie erwähnt - die Schlacht an den pontes longi. Ich denke, es hätten schon extrem widrige Umstände herrschen müssen, um die Römer vom Lagerbau abzuhalten. Umstände wie die am Ende des dritten Tags der Varusschlacht.

Als Tacitus seine Bericht schrieb, dürften die letzten Überlebenden der Varusschlacht und auch die Teilnehmer an den Strafexpeditionen des Germanicus schon einige Jahrzehnte verschieden gewesen sein. Die Erfahrung mit historischen Quellen ist eigentlich die, dass die Informationsdichte mit Abstand zum Ereignis abnimmt. Der Bericht des Cassius Dio ist da eher eine Ausnahme und gerade das muss bei einer vernünftigen Q-Kritik mitberücksichtigt werden.
Trotzdem war Tacitus den Ereignissen noch sehr viel näher als Dio. Die Ereignisse waren auch der "Öffentlichkeit" noch viel präsenter. Tacitus schrieb zudem zu einem Zeitpunkt, als eine späte Unterwerfung Germaniens vielen seiner Zeitgenossen noch durchaus realistisch erschien und als der unbeendete Krieg durchaus noch geeignet war, das Prinzipat in Frage zu stellen. Dio hat mit größerem Abstand berichtet. Unaufgeregter. Sein Bericht war nicht als Kritik an einem Kaiser oder am Kaisertum gedacht und konnte so auch nicht (mehr) verstanden werden.

Zudem muss man der vernünftigen Quellenkritik hier die Statistik entgegensetzen: Der Text von Dio wirkt vielleicht nur deshalb wie eine Ausnahme, weil die Masse der ursprünglich existierenden Texte verloren gegangen ist. Statistisch betrachtet ist es wahrscheinlich, dass seine Darstellung der herrschenden Meinung entsprach. Bei selten publizierten Minderheitenmeinungen ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Laufe von 2000 Jahren verloren gehen, deutlich größer als zum Beispiel bei der millionenfach verfielfältigten Bibel. :p Das war jetzt natürlich nicht so ernst gemeint wie es sich vielleicht liest.

Deinen Einwand mit der im Zeitverlauf sinkenden Informationsdichte muss ich allerdings zurückweisen. Schau Dir nur mal an, wie viel Literatur es heute über die damaligen Ereignisse gibt und wie ausgiebig zum Beispiel in diesem Forum über das Thema diskutiert wird. Das sprengt jeden Rahmen, in dem damals überhaupt hätte publiziert werden können. Wir breiten dabei auch Fakten aus, über die damals jeder den Kopf geschüttelt hätte: "Wie banal. Warum erzählst Du mir das? Das weiß doch jeder!" Und dieses "Das weiß doch jeder" verliert eben mit jedem vergehenden Tag an Bedeutung. Man sagt, dass nichts so alt ist wie die Neuigkeit von gestern. Taucht diese "Neuigkeit von gestern" dann allerdings in einem Jahresrückblick auf, sieht das schon wieder ganz anders aus: "Ach, weißt Du noch, damals..."

Übrigens: Gäbe es diesen Effekt nicht, wäre dieses Forum ein ganz öder Ort in der virtuellen Welt.;)

MfG
 
Eben. Hier fügt sich die von Dir benannte Mikroebene an den eigentlich von Tacitus gemeinten Gegensatz: Der Zustand des zweiten (meintehalben auch letzten) Lagers ist die logische Konsequenz daraus, dass Varus sich zum Marschieren entschlossen hat, während Caecina trotz aller Widrigkeiten im sicheren Lager ausgeharrt hat.

Ist das so?
Die Varuslegionen wurden auf dem Marsch vernichtet.
Genau das gleiche hatte Arninius mit Caecina vor. Seine Legionen standen ebenfalls vor der Vernichtung. Offensichtlich wollte Arminius den Aufbruch der Römer abwarten um sie dann auf dem Marsch anzugreifen (wie in der Varusschlacht). Letztlich ist dies an der Opposition im eigenen Lager gescheitert.
Hätten die Germanen abgewartet, so hätte auch Caecina früher oder später aufbrechen müssen. Und hätte wohl das Schicksal des Varus erlitten. Ein Ausharren im Lager war auf längere Zeit gesehen auch hier nicht möglich.
 
Hier meine Überlegungen noch einmal kurz zusammengefasst.

Der 1. Abend der Schlacht: absolutes Chaos. Die Römer errichten trotzdem standardmäßig ein Lager, und zwar dort, wo sie von den Germanen angegriffen wurden, also mitten im Wald. Soweit das überhaupt möglich war.

Der 2. Abend der Schlacht: die Römer haben eine Lichtung erreicht, ein geeigneter Platz, um das standardmäßige Marschlager zu errichten. Die Römer haben bis zu diesem Zeitpunkt schon einige Verluste erlitten, die genaue Anzahl ist aber unklar. Die Zeit zum Durchzählen und Neukonzipieren des Lagerumfangs auf Basis dieser Zahlen fehlt, Varus überlegt darum nicht lange und lässt ein Lager für 3 Legionen errichten, die letzte gesicherte Anzahl der Soldaten von der er weiß.

Der 3. Abend der Schlacht: die Verluste der Römer sind stark gestiegen, und die Soldaten sind erschöpft, es wird aber trotzdem standardmäßig ein Lager errichtet. Da nicht genügend Soldaten übrig sind, um Graben und Wall für ein Lager mit Normumfang anzulegen, und die Soldaten auch nicht mehr genügend Kraft haben, um einen Graben mit Normtiefe auszuheben, halten die Römer an einen halbwegs geeigneten Ort und errichten ein provisorisches Lager.
 
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