Daraus resultierte, dass Schlieffen "das Streben nach schneller Kriegsentscheidung in das Zentrum seines operativen Denkens rückte. Schlieffen wollte nicht wie seine Vorgänger [die defensive Operationsführung lange Jahre erwogen] den Zweifrontenkrieg defensiv lösen, sondern offensiv durchschneiden". (so Groß zusammenfassend zur Schlieffendiskussion, S. 74), im Sinne einer "einseitigen Fixierung auf eine offensive Operationsführung", eine "selbstbestimmte Aktion, besser als die passive, abwartende und erduldende Defensive".
Schlußbesprechung Schlieffens zur "Generalstabsreise Ost" 1901, das operative und strategische Credo Schlieffens:
"[Ausführungen zur Mittellage, dann:] ...Deutschland muß daher bestebt sein, zuerst den einen niederzuwerfen, während der andere nur beschäftigt wird; dann aber, wenn der eine Gegner besiegt ist, ... Der erste Schlag muß mit voller Kraft geführt werden, und es muß eine wirkliche entscheidungsschlacht stattfinden". (Schlieffen, Generalstabsreisen).
Die Aufmarschplanung, die Operationsstudien und die dazu korrespondierend durchgeführten Kriegsspiele 1905/13 "West" belegen diese Offensivausrichtung für "den ersten großen Schlag" hinreichend. Zur Durchführung des Zweifrontenkrieges musste einer der beiden Gegner vernichtend und vor allem sehr schnell geschlagen werden. "Dieses konnte nur offensiv erfolgen, und setzte neben einer offensiven Operationsführung eine offensive taktische Ausbildung der Truppe voraus, die in den deutschen Streitkräften gewährleistet war." (Groß, Dogma der Beweglichkeit, S. 143-166).
Warum nun der Westen? -> aufgrund der schnelleren französischen Mobilmachung und der laut Schlieffen mangenlnden Tiefe des französischen Verteidigungsraumes. "Die Operation stand von Anfang an unter gnadenlosem Zeitdruck". (Groß, S. 75). Ziel war Vernichtung(sschlacht), im Sinne der Ausschaltung des gegnerischen Heeres als Kriegsmittel. "Motiv" der Operation war Leuthen, nicht Cannae, wobei Schlieffen wie Moltke im Zuge der zeitlichen Reichweite der Operationsplanung diese Entscheidungslage als "beiläufig" eintreffend sahen. Die Marne 1914 war insoweit sogar die "erwünschte" Entscheidungslage, als sich die frz. Gegenoffensive vage abzeichnete. Das wird durch entsprechende Äußerungen aus dem Generalstab belegt.
Schlieffen übernahm von Waldersee Konzepte der offensiv geführten Defensive (kein Widerspruch: Planungsgrundlage war der
Gegenstoß in eine unterstellte französische Offensive hinein). 1894 kulminierten die Probleme in der Jahresplanung: man befürchtete französische Durchbrüche auf langer Front,
bezweifelte die Wirksamkeit einer längeren Defensive (sic!). Sollten die Franzosen wider Erwarten nicht angreifen, sollte bereits eine deutsche Offensive durch den frz. Festungsgürtel erfolgen. Da bis 1897 dieses inzwischen als unmöglich angenommen wurde, kam die nördliche Umgehung von Verdun ins Spiel. Diese
Offensive dürfte die "Verletzung der belgischen und luxemburgischen Neutralität nicht scheuen."
Von zeitkritischen Planungen bis hierhin keine Spur.
Der Kult der Offensive, ausgehend von den Aufmarschplanungen, begrenzte noch nicht das Zeitfenster politischer Entscheidungen in Krisenfällen. Obwohl auch der "Große Ostaufmarsch" weiter geübt wurde, verfestigte sich 1897/1904 die große Umfassungsidee. Der Aufmarsch "West" hatte dennoch Doppelfunktioin: "Gegenangriff, falls der Feind, sobald er seinen Aufmarsch vollendet hat, vorgeht, und Offensive, falls er hinter den Befestigungen stehen bleibt." (Schlieffen, nach Groß, S. 87).
Damit kam das fundamentale Problem auf den Punkt: Was war zu tun, wenn er stehen bleibt und auf Zeit spielt, und Russland seinen aufmarsch abschließt? Schlieffens Antwort 1905, in dieser langjährigen Entwicklung der Planungen war
die sofortige Offensive mit Abschluss des deutschen Aufmarsches. Auslöser war 1902 die Vermutung, die frz. Seite würde den deutschen Aufmarsch und den (älteren) Umfassungsplan kennen, und hätten Vorbereitungen getroffen. Der Plan von 1905
verdoppelte die Umfassung, und setzte die Gesamtoperation nun
zeitkritisch an. Die französische Offensive, mit der bis 1904 stets "gerechnet" worden ist, wurde nun aufgrund des russ.-jap. Krieges nicht mehr angenommen (Greiner, BArch RH 61/398, Folie 95). Unterstellt wurde französische
Defensive.
1892: Verlagerung Schwerpunkt von Ost nach West
1894: Aufgabe der defensiven Grundhaltung
1897ff: Umfassung nördlich Verdun
1899-1904: sukzessive immer weiter ausholende Umfassung des Festungsgürtels
1905/06: "Schlieffenplan" als Denkschrift für den "optimalen Einfrontenkrieg" (Groß), zwecks Erhöhung der Truppenstärke
1907ff.: völlige Umfassung des Festungsgürtels auch im Zweifrontenkrieg mit einem schnellen "Superleuthen" im Westen, danach Vernichtung des russischen Heeres.
Die Logik der beweglichen Umfassung in der Offensive folgte damit zweierlei: a) der
wahrgenommenen Verstärkung der Defensive, und b) der Forderung nach schneller Vernichtungsschlacht. Beide Gedanken sind damit keinesfalls ein Widerspruch, sondern b) ist in der Umfassung die Lösung von a).
Die Operationsidee wurde damit zeitkritisch zugespitzt, in der politischen Krise musste jetzt in Tagen oder Stunden der Aufmarschplanung gerechnet werden, wenn die Reaktion auf einen europäischen Krieg in Form der deutschen Operationsidee (Bewegung, Umfassung, Schwerpunkt, Zeitpunkt) überhaupt Erfolgschancen besitzen sollte. Der Erfolg wurde zeitkritisch, weil er zum logistischen Problem mutierte. Und auch dies war nicht paradox:
die gestiegene Waffenwirkung wurde problemlos in eine gestiegene "Offensivkraft" einkalkuliert (logisch stringent, da man der Ansicht war, den Schwerpunkt und damit auch die Feuerkonzentration durch die Umfassung selber bestimmen zu können) ! Der Rest der Umfassung, der Durchbruch kleinerer feindlicher Schwerpunkte auf taktischer Ebene, wurde zur reinen Willensfrage:
"[Zum offensiven Flankenangriff] gehört ein selbstbewusster Führer, ein eiserner Charakter, ein hartnäckiger Wille zum Sieg und eine Truppe, die sich über das Entweder-Oder klar ist." (Schlieffen, Briefe, S. 10).
Dieses "Entweder-Oder" aus den operativen und taktischen Kriegsspielen wurde durch die zeitkritische Operationsplanung und logistische Aufmarschplanung zunehmend auf die strategische und die politische Ebene übertragen. Damit steht auch nicht im Gegensatz, dass zB Schliefen selbst 1905 im "Kriegsspiel" (unterhalb der Denkschriften, Aufmarschplanungen und Generalstabsreisen)
die strategische Defensive an beiden Fronten zugleich (Ost und West!) plante und in bestimmten Kriegssituationen nicht ausschloss. Vielmehr kommt es allein auf die real existierende, militärisch verbindliche Aufmarschplanung 1914 an, die aufgrund der strategischen Kräfteverteilung und in dieser militärischen Logik mit Schwerpunkt West die schnelle Offensiventscheidung West
zwingend erforderte. Das wiederum ist die "Moltkeplanung", die abseits von flexiblen Kriegsspielen allein der operativen und strategischen Doktrin Schlieffens folgte:
1. Verzicht auf eine defensive und reagierende, hin zu einer offensiven und initiativen Kriegführung
2. Unter Nutzung der inneren Linie Auflösung des Zweifrontenkrieges in zwei Einfrontenkriege, die nacheinander gefochten werden sollten
3. Schwerpunktbildung mit Offensive West, Verzögerung Ost
4. Schnelle Vernichtungsschlachten mit Umfassung aus weiträumiger Bewegung heraus
5. Nach dem Vernichtungssieg West Transport nach Osten, um den zwischenzeitlich verzögernden Gegner zu schlagen.
Die Doktrin fusste auf der
zeitkritischen, schnellstmöglichen Offensive aus dem Aufmarsch heraus, unter höchstem Risiko, mit Schlachtentscheidung ohne längeren Abnutzungskrieg in der Defensive. Diese Vorgabe wurde der Politik mindestens seit 1912 für die Bestimmung der Reaktion im Krisenfall mitgeteilt. Der zeitkritische Faktor, im Kontext des Kults der Offensive, führte dazu, dass eine ausländische Mobilmachung 1914
auch nicht nur einige Tage zur Deeskalation mehr abgewartet werden konnte. Das Zeitfenster wurde in dieser Eskalationsstufe aufgrund der Aufmarschplanung und Operationsplanung zugeschlagen. Die früheren Defensivplanungen, die man mit "Zweitschlagkapazitäten" übersetzen könnte, und bei denen es auf einige Tage oder eine Woche nicht angekommen wäre, führten im Juli 1914 nicht mehr die Regie.
Hier kommt ein weiterer Faktor der Moltkeplanung ins Spiel, der ergänzend betrachtet werden muss: die Überzeugung, dass ein strategisches Zeitfenster für einen solchen erfolgreichen Offensivkrieg wegen der Rüstung der anderen Nationen nur noch mittelfristig, bis 1916/17 bestehen würde. Diese Problematik ist aber von dem "Autopiloten" der Aufmarsch-/Operationsplanung 1914 noch zu unterscheiden - er kommt ergänzend ins Spiel.
Zum Einwirken dieser Militärplanung auf den Entscheidungsablauf der letzten Julidekade 1914 ist bereits ausreichend ausgeführt worden.*
Zur gerafften Lektüre (nein, sicher nicht Münkler,
sondern):
Annika Mombauer: Helmuth von Moltke and the Origins of the First World War, 2005
Isabel V. Hull: Absolute Destruction: Military Culture and the Practices of War in Imperial Germany, 2006.
Ehlert/Epkenhans/Gross: Der Schlieffen-Plan - Analyse und Dokumente, 2006
Terence Zuber: The Real German War Plan, 1904-14, 2011
Holger H. Herwig: The Marne, 1914: The Opening of World War I and the Battle That Changed the World, 2011
Gerhard P. Groß: Mythos und Wirklichkeit. Die Geschichte des operativen Denkens im deutschen Heer von Moltke d. Ä. bis Heusinger, 2012
*Zu 3. - 8. antworte ich noch.