So schreibt Beyme: "Die Säkularisierung des Naturrechts bei Grotius und Pufendorf macht es möglich, die religiöse Argumentation durch eine Legitimationskonstruktion zu ersetzen, die auf einen Gesellschaftsvertrag rekurriert."
Ich bin so frei, dazu ein längeres Selbstzitat beizusteuern:
Ausgehend von der platonisch-aristotelischen Auffassung der Weltordnung als einer vollkommenen statischen Vernunftstruktur, die der menschliche Geist denkend entschlüsseln könne, hatten neuzeitliche Denker wie Grotius oder Pufendorf eine universale Rechtsordnung - das vernünftige Naturrecht - postuliert, die sich als Alternative für das im Verfall befindliche christlich-mittelalterliche Dogma eines von ‘Gott’ gesetzten moralischen Rechts anbot. Der Schritt führt also vom guten Recht zum vernünftigen Recht: ein Gesetz ist nicht zu befolgen, weil es die (christliche) Moral, sondern weil es die Vernunft befiehlt. Schon der Aristoteliker Thomas von Aquin unterschied zwischen göttlichem, die Vernunft übersteigendem, und natürlichem, für die Vernunft einsehbarem, Recht (lex aeterna und lex naturalis) und ebnete so ungewollt den Weg für Konzeptionen eines entmythologisierten, d.h. post-christlichen Rechtsverständnisses. Faktoren wie der Aufstieg der Naturwissenschaften (d.h. der Einsicht in eine irgendwie gesetzmäßig strukturierte Natur), der immer stärker sich formierende politisch und ökonomisch motivierte Widerstand nichtklerikaler Teile der Gesellschaft gegen die Macht klerikaler Institutionen, die Spaltung der Kirche in zwei verfeindete Konfessionen (was in the long run zur Marginalisierung der Theologie als Autorität in Rechtsfragen führt), all dies stärkt das Bedürfnis nach einer Rechtsinstanz, die dem Menschen übergeordnet ist, aber nicht bloß deswegen befolgt werden muss, weil das Recht göttlichen Ursprungs und Gottes- und damit Rechtsgehorsam etwas ‘Gutes’ ist, sondern weil der Mensch kraft seiner natürlichen Erkenntnisfähigkeit den vernünftigen Sinn der Gesetze direkt erfasst und bejaht. Ein solches Recht kann nur ein durch die allen Menschen eingeborene Vernunft einsehbares ‘natürliches’ Recht sein, welches die Maßstäbe dafür liefert, wie Menschen so miteinander umzugehen haben, dass ein friedliches Zusammenleben im Staat und zwischen Staaten möglich ist. Damit ist ein universaler Rechtsbegriff gewonnen, der die Grenzen der Konfessionen - allerdings noch nicht den Horizont der Theologie - überschreitet.
Bei Locke, dem Verfechter wirtschaftsliberalistischer Ideen, kommt ein stark utilitaristisches Motiv zum Vorschein, er anerkennt wohl die metaphysische Autorität des Christentums, insistiert jedoch auf einem irdischen Rechtsbegriff - einem Begriff des natürlichen Rechts -, der von theologischen Interventionen freizuhalten und vornehmlich dem ökonomischen Gedeihen der Gesellschaft dienlich ist. Mit einer logischen Inkonsistenz kappt Locke, seinen säkularisierenden Neigungen zum Trotz, die Theologie nicht gänzlich von seiner politischen Lehre ab. Denn das natürliche Recht mag wohl als in sich Geschlossenes und Quasi-Absolutes dastehen wie gemeißelt aus dem Marmor der Ewigkeit - nur: den Meißel geführt hat selbstredend der biblische Gott. Inkonsistent ist das deshalb, weil die Sphären des Religiös-Guten und des Irdisch-Vernünftigen hier nur zum Schein getrennt werden, kann doch das Vernunftrecht als ein Produkt des vollkommen guten Gottes selbst nur etwas durch und durch ‘Gutes’ sein. Der Fundierung des Naturrechts im biblischen Mythos wegen kann Atheismus für den ‘Menschenrechtler’ Locke (der bekanntlich in Sklavenhandel-Aktien investierte) übrigens nur gleichbedeutend sein mit der Leugnung der göttlichen Quelle des Naturrechts, Grund genug, die Atheisten als staatsfeindlich einzustufen.
Auch der Pionier des Völkerrechts, Grotius, bleibt zwei Generationen vor Locke auf halbem Wege stehen - wer weiß, in welche Verliese der Inquisition ihn der ganze Weg geführt hätte - und räumt die göttliche Herkunft des natürlichen Rechts ein; nur sei dieses Recht aus sich heraus so einleuchtend vernünftig, dass sogar die hypothetische Annahme, es gäbe keinen Gott, der Gültigkeit des Naturrechts keinen Abbruch täte. Immerhin ein klarer Wink.
Mit all diesen Projektionen, die gleichwohl wichtige Wegbereiter für eine bessere Zukunft sind - so sind die Prinzipien der Politik jetzt deutlich weniger von der Willkür der Mächtigen gezeichnet als zuvor, auch kann keine Rede mehr sein von göttlicherseits den Fürsten übertragenen Herrschaftsrechten -, räumt Rousseau auf, nicht vollkommen gründlich und manche Irrtümer bewahrend, gewiss, aber hinreichend kraftvoll und inspiriert, um eine neue Ära - die des nach Freiheit dürstenden Subjekts - mit einer Verve einzuläuten, dass es im ganzen Okzident widerhallt. Nicht mehr die vom Christengott gesetzte gerechte Weltordnung, pax et justitia, ist die Quelle, aus der die weltlichen Fürsten die Legitimation ihrer eigennützigen Politik und Gesetzgebung schöpfen - damit hatten ja schon die aufklärerischen Naturrechtler halbwegs abgerechnet - ; nicht mehr das vom Christengott auf ewig gesetzte Recht der von ihm geschaffenen Natur, das vernünftige Recht, ist das Ordnungsprinzip der Gesellschaft, welches jeder vernünftig denkende Mensch unmittelbar als solches einzusehen und nicht anders als zu akzeptieren vermag - nein: der Mensch, das Subjekt, selbst ist es, welcher aus sich heraus, in vollkommener und unmittelbarer Freiheit, die vernünftigen Gesetze schafft, nach denen das Zusammenleben im Staat geordnet ist.
Anders als der theokratische oder der naturrechtliche Staat ist der Rousseausche Staat vollkommen souverän; nicht gebunden an eine über ihm stehende Göttlichkeit oder natürliche Vernunft ist er freier, sich selbst bestimmender, also souveräner Schöpfer der vernünftigen Gesetze, die das gesellschaftliche Leben regulieren. Souverän ist dieser Staat, weil er die Hervorbringung der Gesamtheit der in ihm zusammengefassten freien Subjekte ist, das Werk eines souveränen, d.h. sich selbst bestimmenden Volkes. Er ist das Produkt ihres ‘an sich’ freien Willens, in ihm fließen die Willensentscheidungen von Natur aus vernünftiger und verantwortungsfähiger Subjekte zu organischer Einheit zusammen, und so kann er selbst gar nicht anders sein als frei. Bis dato waren und sind alle Staaten ungerecht und unfrei organisiert, sagt Rousseau, aber das ist so, weil nicht ein freier, sondern ein unfreier, ein falscher Wille sie errichtete. Partikulare, egozentrische, machtgierige Individuen hatten ihren partikularen, egozentrischen, machtgierigen Willen ausgeübt, um ein soziale Ordnung zu schaffen, die für die meisten in ihr Lebenden Unrecht und Ausbeutung, Resignation und Leiden bedeuten, Brüche in der sozialen Zirkularität. Um einen Weg aus dieser Sackgasse aufzuzeigen, führt Rousseau den Begriff der volonté générale ein. Es handelt sich dabei nicht um den Willen einer Allgemeinheit im Sinne der statistischen Mehrheit des Volkes, sondern um einen qualitativen Willensmodus, der gänzlich unbelastet von partikularen Nutzenerwägungen allein auf das Allgemeinwohl, auf das Wohl der ganzen Gesellschaft, ausgerichtet ist.