Mutmaßl. und tatsächl. röm. Streckenverläufe/Fundplätze n.d. 9-/10-Leugen-Hypothese

Eine Theorie x-mal zu modifizieren, weil die Fakten nie so gut passen, wie sie passen sollten, ist genauso wenig überzeugend.
Das würde ich in diesem Rahmen hier nicht so eng sehen. Es geht ja nicht um eine fertig formulierte und veröffentlichte These, sondern eher um ein lockeres Brainstorming, weil Divico meint, in seiner Datensammlung auffällige Muster erkannt zu haben, und jetzt Erklärungen dafür sucht. Das könnten eben regionale Besonderheiten sein. Oder spezielle Schrulligkeiten des obersten Vermussungsingenieurs einer speziellen Legion. Oder oder oder... Selbst die postulierte Wahlfreiheit zwischen 9 und 10 Leugen stört mich an dieser Stelle (noch) nicht. Was primär stört: Divico ist es bisher nicht gelungen, das auffällige Muster in seiner Datensammlung für uns nachvollziehbar zu machen. Und solange wir an diesem Schritt noch hängen, macht alles Spekulieren um mögliche Gründe hinter diesem Muster herzlich wenig Sinn.
 
Und vergiss nicht: Auch wenn zwei Legionen das gleiche System verwenden, tun sie es unabhängig voneinander, so dass verschiedene Systeme entstehen. Wie beim Hadrianswall postuliert.

Wobei die Bauinschriften die Spekulationen widerlegen.
Allein vom Kastell Onnum sind Bauinschriften aller drei Legionen (II Augusta,
VI Victrix Pia Fidelis, XX Valeria Victrix) bekannt.

Siehe David J. A. Taylor, The Forts on Hadrian's Wall - A comparative analysis of the form and construction of some buildings (Oxford 2000)
 
Das die aber auch so stolz auf ihr Werk sein mussten. So haben sie glatt sichtbar gemacht, dass sie sich nicht an den 9-/10-Leugen-Befehl hielten.
 
Kelvedon/Canonium ist wichtiger Etappenort auf der Strecke von der neuen Hauptstadt Londinium zur alten Hauptstadt Camulodunum, mithin so wichtig, dass er im Itinerarium Antonini aufgeführt wird.
Im I.A. ist er aufgeführt. Das macht den Ort aber noch nicht unbedingt wichtig. Laut Archäologie reden wir hier über eine Siedlung, die sich vermutlich aus dem vicus eines recht schnell aufgegebenen Lagers entwickelte. Das Lager selbst wurde nach Fundlage höchstwahrscheinlich erst nach Niederschlagung des Boudicca-Aufstands errichtet und war vielleicht ein Jahrzehnt lang belegt, wenn überhaupt. Der Bau des von Dir aufgeführten Straßenabschnitts wird gemeinhin in den selben zeitlichen Kontext gestellt.
Zu dem Zeitpunkt war die legio XX übrigens schon nach Burrium (Usk) in Wales verlegt.

Zum Nachlesen im Detail: K.A. Rodwell, The prehistoric and Roman settlement at Kelvedon, Essex, CBA Research Report No 63 (1988)
 
und auch wenn Legionen militärisch selbstständige Verbände dargestellt haben gabs wohl übergeordnete Stäbe die festgelegt haben welche Legion wann wo was baut.
 
und auch wenn Legionen militärisch selbstständige Verbände dargestellt haben gabs wohl übergeordnete Stäbe die festgelegt haben welche Legion wann wo was baut.

Zu verschiedenen Zwecken, darunter gerade auch Bauarbeiten, wurden Vexillationen aus Abteilungen verschiedener Legionen zusammengestellt. Aus Newcastle upon Tyne (Pons Aelius) haben wir da ein besonders schönes Beispiel, allerdings erst aus der Zeit des Antoninus Pius. Da hat sich eine Vexillation aus den drei genannten Legionen (II Augusta, VI Victrix und XX Valeria Victrix) in einer Bauinschrift verewigt:

Imp(eratori) Antoni-
no Aug(usto) Pio p(atri)
pat(riae) vexil(l)atio
leg(ioni) II Aug(ustae) et leg(ioni)
VI Vic(trici) et leg(ioni)
XX V(aleriae) V(ictrici) con(t)r(i)-
buti ex Ger(maniis) du-
obus sub Iulio Ve-
ro leg(ato) Aug(usti) pr(o) p(raetore)

https://romaninscriptionsofbritain.org/inscriptions/1322
 
Und da die Römer im allgemeinen gut Organisiert waren und das als Faktor zum Lagerhaus feststeht, verweise ich noch mal auf Scheuerbrandt, Exercitus.
 
mein ich ja, da hatt nicht jeder nach Gutdünken vor sich hingebaut,da wurde von übergeordneter stelle ein Plan gemacht und dann die Ressourcen eingeteilt
 
Hier fehlen ganz offensichtlich zwei "I" bei der Distanz Calo–Vetera.

Woraus schließt Du das so messerscharf?

Bei der Distanz Nido-Bomio, die mit 15 Meilen (= 10 Leugen) angegeben wird, hast Du gar nicht erst in Erwägung gezogen, dass es sich um einen Verschreiber bei den Zahlen handeln könnte. (Denkt man sich ein fehlendes "X" - also statt des "XV" ein "XXV", wäre die Distanz schon bereinigt.)

Da hast Du stattdessen messerscharf geschlossen, dass die Zahl richtig sein müsse und dass stattdessen eine ganze Station fehlen müsse.

Ich hatte damals auf die Möglichkeit eines Verschreibers hingewiesen und festgestellt:
"Wo der Fehler liegt, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Wir können nur feststellen, dass die überlieferten Angaben hier und da nicht stimmen können."


Du scheinst ja immer sofort zu wissen, wo der Fehler liegt ;):

- Wenn irgendwo im Itinerarium 9 oder 10 Leugen angegeben sind, dann muss die Zahl auf jeden Fall stimmen und der Fehler anderswo zu suchen sein.

- Wenn aber irgendwo im Itinerarium eine andere Zahl als 9 oder 10 Leugen angegeben ist, z. B. in diesem Fall 7 Leugen, dann muss natürlich genau diese Zahl falsch sein, woanders darf der Fehler nicht liegen.

Habe ich das richtig erkannt? Nachvollziehen kann ich Deine Methode jedenfalls nicht.

Die Annahme, dass ein Abschreiber zwei "I" vor sich hat und alle beide abzuschreiben vergisst, ist zumindest kaum wahrscheinlicher als die Annahme, dass ein Abschreiber zwei "X" vor sich hat und eines davon vergisst.

Im übrigen müssen beileibe nicht alle Unstimmigkeiten auf mittelalterliche Kopisten zurückgehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass schon in der Urfassung zahlreiche Fehler enthalten waren, da ja auch diese Angaben erst mal aus verschiedenen Vorlagen zusammengetragen werden mussten. Denn sicher hat nicht ein einzelner Autor die 70.000 km persönlich abgeklappert und die Distanzen direkt ins Manuskript eingetragen.

Und es kann sogar sein, dass vor Ort sehr sorgfältig recherchiert wurde und trotzdem falsche Angaben geliefert wurden. Wir haben ja auch im Verlauf der Diskussion gesehen, dass Angaben auf den Leugensteinen nicht stimmen oder Leugensteine nicht exakt gesetzt wurden.


Und nun zu Deiner Frage, auch wenn Du meine immer noch nicht beantwortet hast:


Wie sinnvoll ist das, wenn wir wissen dass die überlieferte Kopie voller verderbter Daten steckt?


Aus dem Itinerar gültige Schlussfolgerungen über einzelne Streckenabschnitte ziehen zu wollen (wie in Beitrag 688) ist natürlich ein völlig unsinniges Verfahren.

Bei den insgesamt ca. 3000 Streckenangaben ist es aber sehr wohl möglich, Häufungen und Durchschnittswerte zu ermitteln. Die Fehler haben ja unterschiedliche Ursachen, verteilen sich über das ganze Manuskript und gleichen sich unterm Strich mehr oder weniger aus.

Von den 111 Beispielen für die 10-Leugen-Distanz sind offensichtlich einige falsch. Dafür gibt es möglicherweise andere falsche Distanzen, die auf 10 Leugen zu korrigieren sind. Ob es dann unterm Strich statt 111 nur 105 oder vielleicht doch gar 119 sind, macht aber den Kohl nicht fett.

Denn die Verteilung der einzelnen Distanzen ist so krass, dass sie mit einer rein zufälligen Fehlerquote nicht zu erklären ist:

25: 179
24: 281
23: 39
22: 128
21: 66
20: 166
19: 33
18: 223
17: 55
16: 190
15: 111
14: 66
13: 49
12: 211
11: 22
10: 60
9: 45
8: 45
7: 21
6: 24
5: 6

Möchtest Du Dich zu dieser Verteilung denn gar nicht äußern?
 
Zuletzt bearbeitet:
Im I.A. ist er aufgeführt. Das macht den Ort aber noch nicht unbedingt wichtig. Laut Archäologie reden wir hier über eine Siedlung, die sich vermutlich aus dem vicus eines recht schnell aufgegebenen Lagers entwickelte. Das Lager selbst wurde nach Fundlage höchstwahrscheinlich erst nach Niederschlagung des Boudicca-Aufstands errichtet und war vielleicht ein Jahrzehnt lang belegt, wenn überhaupt.

Dieser zeitliche Kontext des Lagerbaus passt sehr gut zu der Annahme, dass Canonium erst angelegt wurde, nachdem Londinium Verwaltungszentrum und somit wohl auch caput viae wurde. Zuvor dürfte die Straße anders organisiert worden sein, nämlich auf die alte Hauptstadt Camulodunum ausgerichtet. Und tatsächlich liegt genau 20 km südlich von Camulodunum auf der selben Straße der römische Standort Witham.

Excavations of the Witham Lodge (Ivy Chimneys) area of the town in the 1970s unveiled remains of a Roman temple as well as a pottery kiln. This would have been alongside the main Roman road from Colchester to London and used as a stopover point on the long journey. Wikipedia

Der Bau des von Dir aufgeführten Straßenabschnitts wird gemeinhin in den selben zeitlichen Kontext gestellt.
Zu dem Zeitpunkt war die Legio XX übrigens schon nach Burrium (Usk) in Wales verlegt.

Das verwundert ein wenig. Sollte die Straße Colchester–London nicht in irgendeiner Form schon vor dem Boudica-Aufstand bestanden haben?
 
Dieser zeitliche Kontext des Lagerbaus passt sehr gut zu der Annahme, dass Canonium erst angelegt wurde, nachdem Londinium Verwaltungszentrum und somit wohl auch caput viae wurde. Zuvor dürfte die Straße anders organisiert worden sein, nämlich auf die alte Hauptstadt Camulodunum ausgerichtet. Und tatsächlich liegt genau 20 km südlich von Camulodunum auf der selben Straße der römische Standort Witham.

Excavations of the Witham Lodge (Ivy Chimneys) area of the town in the 1970s unveiled remains of a Roman temple as well as a pottery kiln. This would have been alongside the main Roman road from Colchester to London and used as a stopover point on the long journey. Wikipedia
Na, ein bißchen mehr Recherche zur Stützung Deiner hypothetischen Straßenorganisation wäre schon angebracht. Gleich der zweite Treffer in Google nach dem zitierten Wikipedia-Eintrag sagt's dann nämlich genauer:
The earliest Roman pottery found dates from 70-96 AD.
Da fehlen uns also mindestens zwei Jahrzehnte, um Witham Lodge vor Kelvedon zu schieben.
 
Woraus schließt Du das so messerscharf?

Das hatte ich oben eigentlich erklärt. Also noch einmal Schritt für Schritt.

Wir kennen die genauen Orte der drei Kastelle Novaesium, Gelduba und Vetera und können die Distanzen zwischen diesen messen:
  • Novaesium–Gelduba 20km
  • Gelduba–Vetera 40 km
Laut Itinerarium Antonini betragen die Distanzen in Leugen
  • Novaesium–Gelduba VIIII
  • Gelduba–Calo VIIII
  • Calo–Vetera VII
Verifizieren können wir hier zunächst nur die Strecke Novaesium–Gelduba (20 km entsprechen 9 Leugen).

Da wir durch Messung wissen, dass die Gesamtstrecke 60 km lang ist und aus Gründen der Geometrie nicht kürzer sein kann, muss mindestens eine der beiden unteren Angaben im I.A. falsch sein, denn es fehlen zwei Leugen.

Würde auch nur eine dieser fehlenden Leugen auf die Strecke Gelduba–Calo fallen, so würde aus der VIIII eine X. Weil es nun aber ganz unwahrscheinlich ist, dass eine X im Original zu einer VIIII verderbt wurde, müssen wir annehmen, dass die verloren gegangenen zwei Leugen im I.A. der Strecke Calo–Vetera zugeschlagen werden müssen, mithin VII korrekt als VIIII gelesen werden muss.

Bei der Distanz Nido-Bomio, die mit 15 Meilen (= 10 Leugen) angegeben wird, hast Du gar nicht erst in Erwägung gezogen, dass es sich um einen Verschreiber bei den Zahlen handeln könnte. (Denkt man sich ein fehlendes "X" - also statt des "XV" ein "XXV", wäre die Distanz schon bereinigt.)

Es müssten bei real ca. 40 km Wegdistanz zwar eher XXVII m.p. sein, aber sonst stimme ich Dir zu.

Trotzdem tendiere ich stark zu der Annahme, dass auf einer 40-km-Strecke noch ein Zwischenposten gelegen haben sollte.

Lass uns doch, @Carolus' Vorschlag folgend, je eine Wanderwoche organisieren und schauen, wer lieber mit Dir oder mit mir auf Tour geht. Ich garantiere meinen Teilnehmern gleichmäßige Tagesetappen von 20–22 km, während Du wechselnde Etappen anbietest, einmal 7 km, am anderen Tag 40, dann wieder vielleicht 12 und am nächsten Tag 32 km.

Möchtest Du Dich zu dieser Verteilung denn gar nicht äußern?

Nein. Statistiken die auf ungeprüften und ungefilterten Zahlen beruhen kommentiere ich nicht.
 
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Gemäß deiner Theorie musst du aber lagerplätze nach exakt 9 oder 10 leugen bieten, egal wie der Platz dann aussieht. Da lauf ich lieber mit sepiola.
 
Da fehlen uns also mindestens zwei Jahrzehnte, um Witham Lodge vor Kelvedon zu schieben.

Das ist schon richtig. Aber immerhin liegt Witham exakt 20 km von Camulodunum entfernt, weitere 20 km entlang der Straße folgt wieder ein römischer Fundort (Handley Green), und nach noch einmal 20 km landet man in Romford, wo manche Durolitum vermuten. Von dort sind es wiederum 20 km bis direkt vor das alte Kastell Londinium.

Das beweist natürlich nichts, aber es ist ein weiteres Indiz.
 
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Gemäß deiner Theorie musst du aber lagerplätze nach exakt 9 oder 10 leugen bieten, egal wie der Platz dann aussieht. Da lauf ich lieber mit sepiola.

Die Hotels in Hofstetten, Interlaken, Spiez, Oberwil und St. Stephan sind schnell gebucht. ;)
[Edit] Unverzeihlich, den letzten Punkt der Route nicht zu erwähnen, den Iffigsee.

Oder ist Euch die flachere Strecke über Winterthur, Pfyn, Sulgen, Arbon nach St. Margrethen lieber? Es gäbe noch hunderte andere mögliche Routen in halb Europa – jeweils von einem historischen Ort zum anderen.
 
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Wir wandern wie die Römer erst mal durch die wildnis, z.b. die berge und zelten. Du exakt alle 9 oder 10 leugen, wir da, wo ein guter Zeltplatz ist. Dann entspricht es dem, was du uns erzählen willst. Ohne Abweichungen.
 
Wir wandern wie die Römer erst mal durch die wildnis, z.b. die berge und zelten. Du exakt alle 9 oder 10 leugen, wir da, wo ein guter Zeltplatz ist. Dann entspricht es dem, was du uns erzählen willst. Ohne Abweichungen.

Dann mache Dich aber darauf gefasst, dass Du wie @Sepiolas alte oder genauer gesagt augustäische Römer dann auch einmal eine 40-km-Etappe einlegen musst, hoffentlich nicht mit schwerem Gepäck.

Wie oft werden die Legionäre damals geflucht haben auf dem Weg von Gelduba nach Vetera, bevor dann endlich einer ein Einsehen hatte und den Befehl zur Errichtung von Calo erteilte. Da hätte man auch früher drauf kommen können, wird so mancher gedacht haben...
 
Wir wandern wie die Römer erst mal durch die wildnis, z.b. die berge und zelten. Du exakt alle 9 oder 10 leugen, wir da, wo ein guter Zeltplatz ist. Dann entspricht es dem, was du uns erzählen willst. Ohne Abweichungen.

Im Gegensatz zu den bewirtschafteten Ebenen sah es dazwischen entlang der Altstraßen vor 2000 Jahren in Mitteleuropa nach Leuge 9 genau wie nach Leuge 10 genau wie nach Leuge 12,37 genau so aus wie es heute hier aussieht:

https://www.google.de/maps/@59.6139371,91.0471426,10332m/data=!3m1!1e3

Es ist also egal ob du dich Team Sepiola oder Team Divico anschließt, es stehen abends fast immer Bäume im Weg rum.

Apropos Leuge 12,37, die Entfernungsangaben in den antiken Büchern waren ja wohl alle gerundet, oder? Gab es da Regeln für das Auf- oder Abrunden? Weil wenn nur auf- oder nur abgerundet worden wäre hätten sich bei der Berechnung der Gesamtdistanz über mehrere Orte ja Fehler von einem wenn nicht von mehreren Tagesmärschen ergeben. Es sei denn die Entfernungen wären auf die Millileuge genau gewesen.
 
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