Shinigami:
Meiner Meinung nach überschätzte die deutsche Politik ihren Handlungsspielraum: Man war doch "wer". Musste man dann noch wie Protz und Neureich auftreten? Allerdings gab es in der deutschen Gesellschaft auch Strömungen, die für eine "Weltpolitik" plädierten. Meinte nicht der Soziologe Max Weber (eigentlich habilitierter Jurist) 1894, das Reich dürfte sich mit dem Erreichten nicht zufrieden geben? Man müsste expandieren oder die Reichsgründung hätte ihren Sinn verloren. Ob Weber damit eine "Weltpolitik" Marke Bülow meinte, kann ich nicht beurteilen.
Natürlich war die Politik, die man im Kaiserreich für letztendlich ein Desaster, das wird man angesichts des Ergebnisses nicht anders konstatieren können, aber wie gesagt, meiner Meinung nach musste es so nicht kommen.
Ich würde meinen, es gab zwei Möglichkeiten an die Sache heran zu gehen:
1. Akzeptieren, dass man saturiert ist und versuchen auf dem Weg der Kooperation irgendwie weiter zu kommen. Das wäre der moralisch wünschenserte Gang der Dinge gewesen.
2. Es nicht akzeptieren und Konfrontation in Kauf nehmen, aber wenn man diesen Weg hätte gehen wollen, hätte man ihn zu einem Zeitpunkt gehen müssen, in dem man so etwas wie militärische Überlegenheit besaß, die man in politisches und ökonomisches Kapital umschlagen konnte, was 1905 sicher noch möglich gewesen wäre, 1914 aber definitiv nicht mehr.
Bismarck soll 1871 bemerkt haben, das Kaiserreich sei in außenpolitischer Hinsicht "saturiert". Seine Nachfolger waren da weniger vorsichtig.
Ich hatte es in einem anderen Threat schon einmal angesprochen. Ich halte es für Falsch Bismarck in dieser Sache zum Vorbild zu stilisieren. Die zweite Hälfte seiner Amtszeit, war sicherlich auf Vorsicht bedacht (trotzdem ging sie mehr oder minder in einem diplomatischen Scherbenhaufen zu Ende), die erste Hälfte seiner Amtszeit, war allerdings von einer Politik ziemlich unkalkulierten Risikos geprägt.
Hätte im Krieg von 1866/1867 Frankreich nicht die Füße still gehalten und sich auf seiten Österreichs beteiligt um sich als Lohn dafür die Rheingrenze zu holen - ein Szenario, dass in keinem Moment wirklich auszuschließen war -, würden wir heute über Bismarck als den Totengräber Preußens reden und einen wahnwitzigen Risiko-Politiker, der einem Bülow oder Bethmann-Holweg in nichts nachgestanden hätte.
Auch war seine Politik als Initialzündung für die europäische Blockbildung, nicht ganz unschuldig an dem Dilemma, in dem sich die wilhelminische Außenpolitik dann später wiederfand.
Wenn man mit Bismarck in diese Richtung argumentiert, sollte man hinterfragen, ob es seinen Nachfolgern möglich war im selben Modus weiter zu arbeiten.
Meiner Meinung nach nicht. Meiner Meinung nach hat Bismarck, etwa im Rahmen der Kongo-Konferenz durchaus ebenfalls weltpolitisch agiert, nur eben in dem Sinne, dass er versucht hat durch Nachgiebigkeit in Übersee Gewaltpotentiale aus Europa abzuleiten.
Aber auch das konnte nur so lange funktionieren, wie es in der Welt noch etwas zu verteilen gab. Heißt Bismarck hat den Mechanismus, mit dem er Revanchismus und Gewaltpotentiale aus Europa heraus hielt mit seinem Politikstil auch schön verschlissen, denn ein zweites mal, konnte man Afrika eben nicht aufteilen.
Allerdings wäre die immer stärker werdende Industriemacht Deutschland irgendwann mit England in Konflikt geraten - was sich aber friedlich hätte lösen lassen.
Mittelfristig, hätte Deutschland für Großbritannien mit einiger Wahrscheinlichkeit eine eher nachgeordnete Rolle als Gegner gespielt. Das Deutschland das Flottenpotential Großbritanniens niemals auch nur annähernd erreichen konnte, war schon deswegen klar, weil Deutschland wegen der Problematik Frankreich-Russland im Gegensatz zu Großbritannien eben auch ein großes Landheer unterhalten musste.
Kommt hinzu, dass die Briten in ihren Kolonien über diverse Rohstoffe verfügte, die Deutschland nicht hatte. Was hatte denn das Kaiserreich außer reichlich Steinkohle und einigen Erzvorkommen in Lothringen an Schlüsselrohstoffen für die Industrien so aufzubieten?
Eigentlich nichts. Kein Öl, kein Kautschuk, auch diverse andere Chemikalien nicht, alles Dinge auf die Großbritannien mittels seiner Kolonien und der Kotrolle der Seewege die Hand hatte, so dass es zwischen den beiden Wirtschaften durchaus auch einige Abhängigkeitsverhältnisse gab.
Die drei Player, die GB aus der Perspektive der 1910er Jahre heraus potentiell in Zukunft am meisten Ärger machen konnten, waren Russland, Japan und die USA.
Russland war mindestens potentiell in der Lage eine veritable militärische Bedrohung für Britisch-Indien darzustellen. Nun hatten sich die Briten mit St. Petersburg arrangiert, aber wie tragfähig war das am Ende und wie lange hätte das letztlich überdauert?
Japan besaß bis 1910 keine größeren Flächenkolnien in Ostasien, zudem hatte der Krieg von 1904/1905 gezeigt, dass die russischen Eisenbahnkapazitäten in den fernen Osten nicht hinreichend waren um Japan dort erfolgreich bekämpfen zu können. Bedeutet, weder Japan, noch die Vereinigten Staaten mussten sich zu diesem Zeitpunkt für die eigene Sicherheit ein wirklich großes Landheer leisten, wie das bei Deutschland der Fall war.
Potentiell (und das zeigte sich dann ja auch sukzessive bis zum 2. Weltkrieg), waren deren maritime Potentiale weit größer, als es die Deutschen jemals hätten sein können.
Insofern musste auch klar sein, dass populäre ideologische Figuren, wie der "two-power-standart", mittelfristig keinen Bestand haben konnten und da kam die größte potentielle Bedrohung durchaus nicht aus deutscher Richtung, da Deutschland mit seiner relativ kurzen Küstenlinie und seinen vergleichsweise kleinen Werftkapazitäten, wie der Notwendigkeit des Landheeres, da zwangsweise limitiert war.
Wirtschaftlich war Großbritannen von Deutschland zwar überholt worden, nur angesichts der noch rasanteren Entwicklung der USA hätte auch eine Aussschaltung Deutschlands den Briten ihre industrielle und wirtschaftliche Überlegenheit nicht zurück gebracht, die Zeiten waren einfach vorbei.
Mit dem Bau der Flotte lieferte das Reich den Kräften in England einen Grund, die schon aufgrund der Überdehnung des Empires sich mit den Franzosen und Russen verständigen wollten.
Einen Grund zu was?
Um das Empire sichern und sich mit den Franzosen und Russen verständigen zu wollen, brachte es keine deutsche Bedrohung. Dazu reichte der technologische Fortschritt.
Im 19. Jahrhundert stellte die französische Kanalküste für die Briten kein Problem da, weil sie die See beherrschten und französische maritime Opertionen unterbinden konnten.
Mit Aufkommen der U-Boot-Waffe, ist die französische Kanalküste eo ipso eine strategische Bedrohung für den britischen Handel und die Verbindung mit den Kolonien, so das man Frankreich nicht mehr, wie im 18. Jahrhundert in Europa abrigeln und aus den Kolonien herauswerfen kann.
Baut Russland Bahnlinien an die afghanische Grenze, liegt Indien wie auf dem Präsentierteller und kann durch mraitime Überlegenheit nicht mehr abgeschirmt werden, wie das noch 50 Jahre vorher der Fall war.
Um daraus die Konsequenz zu ziehen, dass es Abkommen braucht um das zu regeln, brauchte es lediglich etwas gesunden Menschenverstand, aber keine deutsche Bedrohung, sofern diese von den britischen Regierungskreisen im Sinne maritimer Politik denn überhaupt als tatsächliche Bedrohung empfunden wurde, was angesichts der tatsächliche Leistungsfähigkeit der beiden Flotten zu jeder Zeit im Übrigen völliger Humbug gewesen wäre.