@Brissotin & allgemein
Alle drei Kapitel sind mit "The truth according to [Name]" übertitelt – die Wahrheit laut [Name].
Im 1. Teil gibt Jean de Carrouges das ritterliche Ideal des Ehemannes, der sogar seine misshandelte Frau bittet, ihm zu verzeihen, weil er nicht zugegen sein konnte, um sie zu beschützen. Und Jacques le Gris ist derjenige, der Jean zu hintergehen beginnt, dessen Motive hingegen stets lauter sind.
Im 2. Teil erleben wir die Wahrheit Jacques’, des Womanisers, der vielleicht wirklich an die Liebe oder zumindest gegenseitige Anziehung glaubte, aber allenfalls Marguerites Signale missverstanden haben will. Die Feindseligkeit geht von Jean aus, aus Neid auf den (mit unendlicher Langmut gesegneten) Jacques.
Der 3. Teil schildert die Ereignisse aus der Perspektive Marguerites, die sich als bloßer Spielball der Rivalität der beiden Männer wahrnimmt. Hier ist es nicht ganz so eindeutig, ob Jean oder Jacques mehr Schuld daran trägt, dass ihre Freundschaft sich in bittere Feindschaft wandelt.
Oberflächlich betrachtet, ergreift der Film bis auf die zusätzliche Einblendung "The Truth" keine Partei und kann es eigentlich auch nicht, weil niemand weiß, was wirklich geschah.
Unterschwellig fällt jedoch das eine oder andere auf. Im klassischen Argumentationsschema wird das schwächste Argument zuerst genannt, das stärkste zuletzt, damit es besser im Gedächtnis bleibt. Demnach wäre Marguerites Version wirklich die glaubwürdigste.
Interessant ist auch, dass Jean in allen Teilen lediglich in der Eigenwahrnehmung eine positive Figur ist und von seiner Frau geliebt wird, wogegen er bei Jacques, Marguerite und für Pierre de Alencon ein tumber, hitzköpfiger Klotz ist. Demnach wäre er wirklich der unzuverlässigste Erzähler.
Was der Film nicht hergibt, wohl aber die erhaltenen Quellen:
Jacques Le Gris Fall galt als wackelig. Sein Alibi stammte von jemandem, der noch während des Prozesses wegen Vergewaltigung eingesperrt wurde. Sein eigener Anwalt notierte in seinem Tagebuch Zweifel an seiner Unschuld. Karl VI. hätte ihn wohl verurteilt, wollte sich aber das Spektakel des Duells nicht entgehen lassen.
Le Gris hat anscheinend wirklich unmittelbar vor seinem Tod auf seine unsterbliche Seele seine Unschuld beschworen, keine Kleinigkeit nach den Glaubensgrundsätzen der damaligen Zeit. Es würde darauf hindeuten, dass er sich wirklich für unschuldig hielt – wenigstens für schuldlos im Sinne der Anklage.
Marguerites Beharren auf seine Bestrafung war in der Tat Rebellion, wobei der Blickwinkel des Drehbuchs zu sehr in Richtung Sexismus-Kritik geht. Natürlich wurde dieser Frau (und allen Frauen) von ihrer Zeit großes Unrecht angetan. Ihr Fall war aber beileibe keine bloße "Sachbeschädigung" zu Lasten des Jean de Carrouges.
Nach dem damaligen Rechtsverständnis führte die Ehe eine vollständige rechtliche Union der Eheleute herbei, in der der Mann als die biologisch stärkere Partei sozusagen die Geschäfte mit Außenwirkung führte, doch galten beide als eine Person. Jede Verletzung eines Ehepartners galt als Verletzung des anderen.
Es sind etliche Beispiele überliefert für (offizielle wie inoffizielle) Fehden, in denen Brüder, Vettern oder Väter auf Betreiben und im Namen ihrer Schwestern, Basen oder Töchter Kränkungen rächen mussten, die der Gegner dem (meist getöteten oder eingekerkerten) Ehemann zugefügt hatte, und die die Frau auf sich bezog.
Eine feministische Vorkämpferin für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung war Marguerite gewiss nicht. Eher rebellierte sie gegen eine Justiz, in der Macht und Gewalt über Recht und Unrecht entschieden.
Was die drei Versionen angeht, liegt die Wirklichkeit wohl in der Mitte.
Nach allem, was über ihn nachzulesen ist, war der echte Carrouges ein Hitzkopf und unbedachter Politiker, genoss aber mehr Ansehen, als ihm der Film zubilligt – explizit für seinen Gerechtigkeitssinn. Die Ehe mit einem solchen, älteren Mann war für Marguerite sicher kein Rosenbett, wie Scott es sich Jean vorstellen lässt.
Andererseits riskierte Carrouges mehr für seine Frau, als der Film nahelegt: Reichtum, Einfluss, Reputation, die Aussicht darauf, von Le Gris und Alencon übertrumpft zu werden und, natürlich, das Ende seines Hauses, seines Lebens und des Lebens seiner Frau. Diese Entscheidung haben sie mit Sicherheit gemeinsam getroffen.
Denn wie gesagt, es ist unglaubwürdig, dass Marguerite nicht gewusst haben soll, was ihr blühte. Sie war eine gebildete Frau von Stand und wird die Strafe für Meineid genauso gekannt haben, wie sie die für Mord kannte.
Le Gris' Anwalt baute ihr sogar eine goldene Brücke, indem er vorschlug, ihr Mann habe sie mit Gewalt zu der Anschuldigung gezwungen. Sie hätte die ganze Geschichte zu Fall bringen können.
Der Ausgang des Prozesses hing von ihr ab, nicht von Jean.
Nebenbei, laut den im Wikipedia-Artikel zu Jean de Carrouges verlinkten Quellen ließ dessen Mutter Marguerite tatsächlich ohne Diener zurück, um Einkäufe zu erledigen. Nach den Usancen der ständischen Gesellschaft muss das nicht heißen, dass überhaupt niemand mehr auf dem Herrensitz zugegen war; so werden Ausübende unehrlicher Berufe in zeitgenössischen Quellen oft ignoriert; aber es ist dennoch seltsam.
Wäre dies ein gewöhnlicher Kriminalfilm gewesen, hätte meine erste Vermutung gelautet, dass Nicole de Carrouges entweder von Jacques Le Gris bestochen wurde, um ihm Zugang zu Maguerite zu verschaffen (das Motiv der derart bösen Schwiegermutter findet sich z.B. in einem Roman Jakob Wassermanns), oder dass sie zwei Liebhabern ein diskretes Stelldichein ermöglichte.