Pardon - ein kleiner, quasi kunsthistorischer Exkurs:
die 10.hat Mahler leider nicht geschafft zu vollenden.
ja, aber immerhin haben wir im (nahezu fertig komponierten) Adagio (erster Satz) die maximale Jugendstilkulmination tristanesker Harmonik, Expression und Polyphonie - ein ebenso berührendes wie faszinierendes orchestrales Sehnsuchts-Lamento. (geradezu überirdisch die Aufnahme von Sinopoli!) Zeitlich ebenfalls passend Debussys tristaneske Jugendstil-Oper Pelleas et Melisande, zwar schon 1902 uraufgeführt, aber bis 1918 mehrmals umgearbeitet; 1912 Debussys Martyrium des heiligen Sebastian (auf einen fin de ciecle Text von d´Annuncio), dito ein Jugendstil-Werk.
Aber ich will die Musik des Zeitraums hier nicht in den Vordergrund stellen, wo sie auch nicht hingehört - vielmehr möchte ich auf die Diskrepanz zwischen künstlerischer, ästhetischer, ja allgemein kultureller Verfeinerung und der teilweise völlig unreflektierten Kriegsbegeisterung und industriellen Massenrüstung hinweisen. Was ich für besonders bestürzend halte:
zivile Bauwerke sowie industrielle Zweckbauten erhielten - völlig selbstverständlich - ästhetische Gestaltung, stilisierte Fassaden. Diese waren nicht nur Zeitgeschmack*) (sie verteuerten das bauen erheblich) verkürzt gesagt. Beispiele von kunsthistorischem Rang**) lassen sich nahezu endlos aufzählen (später Jugendstilbahnhof Worms, Metrostationen Paris, Maschinenhalle Zeche Zollern, Zigarrenfabrik Dresden) Auch der Militär-Zweckbau der ersten Jahrzehnte nach der Brisanzkrise, also 1885 bis ca 1900/08 ist zumindest in der Gestaltung der rückwärtigen***) Fassaden von Kehlkasernen, Schutzräumen (Untertreträume), Magazinen noch ästhetisch gestaltet, zumeist in historistischem Stil (die Kehlkasernen der Kölner Forts, rückwärtige Fassaden Fort Kugelbake Cuxhaven u.v.a.)
Aber um 1900-1914 (je nach Region) setzt sowohl bei der Modernisierung von militärischen Zweckbauten als auch beim Neubau eine völlig andere, nun gänzlich schmucklose, rein klotzartig geometrische und im Verständnis der Militäringenieure und -architekten (Geniekorps) rein zweckorientierte neue Bauweise ein! Diese hat absolut nichts mit Idee und Formgebung des späteren (erst ab 1919) Bauhausstils und der neuen Sachlichkeit zu tun, auch stammt keiner der Bauhausarchitekten aus der Militärarchitektur. Die dann späteren Bunker etc der Maginotlinie und des noch späteren Atlantikwalls bauen stilistisch auf den Erfahrungen von Bauhaus und neuer Sachlichkeit auf, entwickelten durchaus sehr ästhetische Proportionen und geometrische Formgebung -
die "Bunker" bzw. Fortifikationsbauten aus Stahlbeton von 1900/08-1914/18 weisen diese formale Ästhetik nicht auf. Innerhalb der Architektur des Zeitraums, die ansonsten überall ästhetisierend gestaltet, wirken diese Bauten wie außerirdische Fremdkörper - kaum zu glauben, dass der Impressionist/Symbolist/Jugendstil-Komponist Debussy diese sehr schätzte.
Ebenso fremdartig wie die "Bunker"/Festungsbauten von 1900-14 ist die nun massive Rüstung & Militarisierung, accompagniert von einer geradezu idiotischen patriotischen Kriegsbegeisterung in Teilen der Bevölkerung (in Kaiserreich, Russland, Frankreich) am Vorabend des Ersten Weltkriegs, einer Epoche oder Zeit des zunehmenden Wohlstands, der Verbesserung der Lebensbedingungen, der ästhetischen Verfeinerung in zahlreichen Lebensbereichen, der Bäderarchitektur, des mondänen Lebensstils (zumindest der upper class), der kulturellen Europäisierung. In die mit Lalique-Schmuck behängte Zauberbergmondänität bricht das Schrapnell, der Bunker...
Ich habe seit nun fast 20 Jahren in der Militärarchitektur von a) 1985-1900 und b) 1900-14/18 nach Jugendstilelementen gesucht. Im Fall von a) bin ich ab und zu fündig geworden (wobei hier historistische Fassadengestaltung weit überwiegt), bei b) eher nicht. Einzig in der Formgebung von drei 1908-12 gebauten Kontereskarpen-Grabenstreichen russischer Festungen (zwei Forts von Modlin, Hauptfeste von Zegrze) konnte ich ornamentale Jugendstilschwünge finden... das ist wenig, bestätigt aber die oben genannte Fremdartigkeit.
--- genug Kunstgeschichte! Nochmals Pardon für diesen Ausflug abseits der Ereignis-, Politik- und Diplomatiegeschichte.
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*) die Militärarchitektur von 1818-1900 lässt sich stilistisch einordnen (Klassizismus & Romantik: Ulm, Koblenz, Verona, Brixen. Historismus Köln, Mainz usw) und hatte durchaus repräsentativen Charakter, sollte Stärke und Macht versinnbildlichen (vgl.
Franz von Scholl – Wikipedia )
**) natürlich ist da nicht alles architektonischer Jugendstil, es überwiegen Gründerzeit-Klassizismus und Historismus - allerdings geht das gerne bzgl. der ornamentalen Gestaltung ineinander über
***) feindwärts gerichtete Bauteile sind erdgedeckt, versteckt, verschwinden quasi und werden leicht hügelig eins mit der Landschaft