"Der Faschismus konnte nur dort ohne äußere Intervention an die Macht kommen, wo mindestens folgende Bedingungen erfüllt waren: Erstens: eine vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich aus den ländlichen und städtischen Mittelschichten sich rekrutierende Massenbewegung, die sich primär gegen die kommunistische und reformistische Arbeiterbewegung, sekundär gegen das liberal-parlamentarische System richtete, das seinerseits die freie Entfaltung der Arbeiterbewegung erlaubte; zweitens: starke vorindustrielle Führungsgruppen aus Feudalaristokratie, Militär und Bürokratie, die sich sowohl konservativen Industriekreisen als auch der faschistischen Bewegung als Bundesgenossen im Kampf gegen das parlamentarische System zur Verfügung stellten; drittens: eine schwere, unter Umstanden bis zur Funktionsunfähigkeit gehende Krise das parlamentarischen Regierungssystems; viertens: eine aus sozialen Unruhen erwachsende allgemeine Krisenstimmung; fünftens: abrufbare Reminiszenzen an ein vor-demokratisches Regime, das die politische Gleichberechtigung der Arbeiterschaft verweigert hatte; sechstens: ein Gefühl nationaler Demütigung -sei es durch einen verlorenen Krieg oder einen ,verlorenen' Sieg -, das den Boden für extremen Nationalismus schuf; siebtens: eine Militarisierung des öffentlichen Lebens durch ehemalige Kriegsteilnehmer, die die ,Rückkehr zur Normalität' verweigerten. Diese Voraussetzungen waren in Deutschland und Italien erfüllt, nicht jedoch in den Vereinigten Staaten, in England und Frankreich - um nur einige Beispiele kapitalistischer Industriegesellschaften zu nennen. In Ländern, die schon vor der industriellen Revolution mit ihren absolutistischen und feudalen Verhältnissen gebrochen hatten, gab es weder die Chance der sozialen Rückversicherung bei vorindustriellen Führungsschichten, noch ein Massenreservoir der Demokratiefeindschaft. Das klassische Beispiel hierfür bieten die USA. Obwohl die Weltwirtschaftskrise in den Vereinigten Staaten - bei vergleichbarer Schärfe -sehr viel langer andauerte als in Deutschland, gab es dort weder in der ,middle class' noch in der ,business elite' einen ,Faschisierungsprozess'. Gewiss hatte sich in Amerika auch keine sozialistische Fundamentalopposition gegen das kapitalistische Wirtschaftssystem entwickelt, so dass einer rechten Massenbewegung in gewisser Weise der Gegner fehlte. Aber auch in England und Frankreich, wo es durchaus eine sozialistische Arbeiterklasse gab, führte die Krise nicht zur Herausbildung einer breiten faschistischen Massenbewegung. Die demokratischen Traditionen in den Mittel- schichten waren zu stark, um, eine Entwicklung nach deutschem oder italienischem Muster zuzulassen, und autoritären Kräften im Unternehmerlager fehlte neben der Massenbasis auch der feudale Verbündete. Die Gründe dafür, warum im Verlauf der Weltwirtschaftskrise die Demokratie in Deutschland liquidiert wurde, in den anderen entwickelten Industriegesellschaften aber erhalten blieb, liegen nicht so sehr im Verlauf der Krise selbst als vielmehr in der unterschiedlichen vorindustriellen Vergangenheit dieser Länder. Die Entstehungsbedingungen des Faschismus haben mit Feudalismus und Absolutismus mindestens ebensoviel zu tun wie mit dem Kapitalismus."
Heinrich-August Wink1er, Die "neue" Linke und der Faschismus. Zur Kritik der neomarxistischen Theorien über den Nationa1sozialismus, in: Ders., Revolution, Staat, Faschismus
Heinrich-August Wink1er, Die "neue" Linke und der Faschismus. Zur Kritik der neomarxistischen Theorien über den Nationa1sozialismus, in: Ders., Revolution, Staat, Faschismus