Die Unterwerfungstheorie

Einspruch,Dieter.
Da muß man dauerhafte Unterwerfung mit Veränderung der Herrschaftsstrukturen von kurzfristigen Raids ,also Raubzügen unterscheiden,die die politischen Strukturen der betroffenen Völker unangetastet lassen. Die Raids der Awaren,Ungarn und Hunnen nach Mittel-und Westeuropa gehören datzu , wobei die Hunnen zudem noch teilweise als römische Söldner unterwegs waren.
Bei den Bulgaren handelt es sich m.E. zum Zeitpunkt der Reichsgründung eher um eine Bauernkultur die den Germanenvölkern der Völkerwanderungszeit vergleichbar ist.
Die Goldene Horde gehört zweifellos in die zweite Phase des Mongolenreiches, die nach der Eroberung des Tangutenreichs und des Kinreiches ,nicht mehr von einer echten Nomaden- und Hirtenkultur geprägt ist sondern von einer Multikultigesellschaft mit unterschiedlicher nomadischen,bäuerlichen und städtischen Traditionen.

DogSoup,ein interessanter Hinweis auf Ursprung und Intention der Theorie.Vor diesem Hintergrund stellt sich natürlich erst recht die Frage der historischen Verifizierung der Theorie




s
 
Ich muss zaphodB. Recht geben, Dieter: Da hast du das Modell pauschal über so unterschiedliche Geschichten und Kontexte gestülpt, dass es sehr schwer fällt, dir zuzustimmen.

Ich denke, dass man die Unterwerfungstheorie durchaus auf jeden der von dir vorgeschlagenen Kontexte anwenden könnte, um zu prüfen, ob hier ein entsprechendes Phänomen mit einer entsprechenden Dynamik vorliegt. Man könnte das tun, weil man bei einem solchen Vorgehen nicht nur die geschichtlichen Quellen nach dem Modell prüfen würde, sondern auch andersrum prüfen würde, ob das Modell den geschichtlichen Fakten in diesem Fall eigentlich standhält. Modelle sind ja dazu da, um mit dem Denken über einen Zusammenhang erstmal anzufangen - und um dann, je nachdem was der Zusammenhang dann hergibt, modifiziert, abgeschwächt, umgedacht zu werden.

So wie du die Unterwerfungstheorie aber in deiner Aufzählung präsentierst - als passende Generalkeule für jeden beliebigen Zusammenhang nämlich - kann man aus jedem Kontext das Passende raussuchen, ohne sich mit dem eigentlich Spannenden, dem Unpassenden nämlich, herumschlagen zu müssen. Und das hat auch nichts mit "nur ein Aspekt von vielen" zu tun, weil so eine Formulierung ja immer noch voraussetzt, dass die pauschale Verallgemeinerung des Modells richtig und problemlos möglich ist. Das aber hat zaphodB. schon sehr zu recht als fragwürdige Annahme kritisiert.

Jedes Modell, auch die Unterwerfungstheorie, bietet eine Perspektive an und ist kein quasi-faktischer geschichtlicher "Aspekt". Ich find's einfach keinen sonderlich hilfreichen Ansatz, die Geschichte nach Bestätigungen für so ein Modell abzuklopfen. Ziel von Modellen muss es doch vielmehr sein, sich einer bestimmten, spezifischen Geschichte mit einer Fragestellung zu nähern. Nur dann haben sie überhaupt etwas Spannendes beizutragen.
 
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Mir ging es zunächst darum, aufzuzeigen, dass es im Verlauf der Weltgeschichte durchaus nomadische Hirten- oder Reitervölker gab, die bäuerliche Bevölkerungen unterwarfen. Diese Tatsache lässt sich nicht in Abrede stellen und hat sich vielfach abgespielt. Die Dauer der von Nomadenvölkern ausgeübten Herrschaft ist durchaus unterschiedlich und endet meist in zwei hauptsächlichen Varianten: Entweder ist die Herrschaft nach relativer kurzer Zeit vorbei und der Nomadenstamm zieht sich zurück oder aber die nomadische Bevölkerungsgruppe bleibt und verschmilzt nach gewisser Zeit mit der altansässigen Bevölkerung.

Insbesondere die Goldene Horde ist ein gutes Beispiel für die Ausübung einer längerfristigen Herrschaft durch ein nomadisches Reitervolk. Nachdem die turko-mongolische Horde den Raum zwischen Südrussland und dem Ural in den Jahren 1237-40 unter ihrem Anführer Batu erobert hatte, konnte sie ihre Herrschaft bis Ende des 15. Jh. aufrecht erhalten. In dieser Zeit übte sie die Oberherrschaft über die meisten altrussischen Fürstentümer aus. Ihre Existent sicherte die nomadische Goldene Horde durch Tributleistungen der russischen Fürstentümer, gehandelt wurde ferner mit Sklaven, Pelzen, Fischen und Getreide. Religiös war die Goldene Horde tolerant und gewährte der orthodoxen russischen Kirche eine Vielzahl von Privilegien.

Die Goldene Horde lebte also weiterhin nomadisch und beutete faktisch die bäuerliche russische Bevölkerung aus. Seit 1328 hatten die Großfürsten von Moskau für die korreklte Ablieferung der Tribute einzustehen. Verweigerung wurde mit verheerenden Raub- und Plünderungszügen bestraft.

Ende des 15. Jh. endete die in inzwischen in mehrere Khanate (Khanat Kasan, Khanat Astrachan, Khanat der Krim, Khanat Sibir) zerfallene Herrschaft der Goldenen Horde. Zu einer Verschmelzung mit der russischen Bevölkerung kam es allerdings nicht. Die türkisch überformte nomadische Bevölkerung bewahrte - bis heute - ihre ethnische Identität, ihre Turksprache und ihren muslimischen Glauben.
 
Wenn das so ist, lohnt es sich zum Abgleich bestimmt, Boulainvilliers zu lesen. Der geht ja genau von den gleichen Konstellationen aus, die du jetzt für die goldene Horde herausgearbeitet hast. Das kannst du also sicher gut als theoretischen Rahmen nutzen, für dieses Problem. Eine Überbetonung der Theorie kann ich aber nach wie vor nicht empfehlen, und ich erzähle dir auch warum.

Ich persönlich bin ja ein großer Fan von Rechtsgeschichte. Einmal war ich bei einer Konferenz, und da hat eine ein Paper vorgetragen über zwischenstaatliche Arbeitsmigration, wo die Typen im Nachbarstaat arbeiteten und Geld heimschickten um ihre Familien zu versorgen, aber vor Ort fast alle eine einheimische Geliebte hatten - und die Familienbeziehungen zwischen den Männern (die alle kollektiv da arbeiteten, ganze Dörfer) trotzdem nicht litten, selbst wenn der Bruder der Ehefrau alles mitkriegte. Und das Paper war dann dazu da, das zu analysieren.

Ich Checker im Publikum so in Gedanken schon mal meine altbekannten Modelle abgeklappert, na klar ey, normative Grenzziehung, Außenbereich des Rechts, Familienvertrag endet mit Rechtsbereich, internationale Verschwörung des Schweinepatriarchats... jetzt mal extrem vergrobt ausgedrückt. :joker:

Und dann kam aber die Analyse, die Frau hatte sich nämlich mal tatsächlich die Quellen ganz genau angeschaut. Die Schwager und Väter usw hatten, wie sich herausstellte, überhaupt keine Möglichkeit, die untreuen Ehegatten zu sanktionieren und empfangen das selbst als Riesenproblem - sie waren alle zusammen in einem fremden Land und hatten nur einander, so dass sie sich gegenseitig wesentlich mehr durchgehen lassen mussten, als sie zuhause jemals getan hätten. Der springende Punkt war also nicht die Entfernung von den Frauen, sondern der extreme Druck sozialer Unsicherheit, der im Gastland selbst auf dieser Arbeitsgemeinschaft lastete. In meinem Ansatz kam sowas gar nicht vor.

Während ich also sicherlich einen Ansatz hatte, der durchaus zu Ergebnissen geführt hätte - und auch sicher zu keinen völlig unrichtigen - hätte ich doch diesen ganz wesentlichen Punkt erstmal übersehen, einfach weil er nicht dem Ansatz entsprach, von dem ich da ausgegangen war und den ich, ohne den Sachverhalt untersucht zu haben, einfach schon über die Sache drübergestülpt hatte. Diese Diskrepanz hat mich bei der Konferenz schon sehr beeindruckt.

Von daher, die Unterwerfungstheorie sei dir definitiv gegönnt. Aber meine Erfahrung ist, dass Theorien ebenso viel verbauen wie erleuchten können, wenn man nicht parallel heftigste Arbeit an der Primärquelle leistet. Mehr will ich gar nicht sagen.

Dass ich die Unterwerfungstheorie selber für so'n bisschen problematisch halte (weil Foucaults Analyse von Boulainvilliers mich eigentlich überzeugt hat) ist nochmal was anderes. Aber wir müssen uns wahrscheinlich noch entscheiden, ob wir jetzt über die Anwendbarkeit der Theorie auf Quellen oder über die Geschichte der Theorie selber reden wollen. ;)
 
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Dieter ,daß die Goldene Horde ein gutes Beispiel für die Ausübung einer längerfristigen Herrschaft durch ein nomadisches Reitervolk ist bestreite ich .
Die Zentren des Staates bildeten die Städte Sarai , Neu-Sarai, Bolgar,Kasan und Asow, die Verwaltungsaufgaben wurden durch Emire und Wesire wahrgenommen,es gab Vorschriften ,die die Landeigentümer und Pächter schützten, es gab weitreichende Handelsbeziehung mit Ägypten,Italien,Indien.Das alles stellt sich als im Grunde städtische Kultur dar, auch wenn noch lange bestimmte nomadische Traditionen wie die Sommerlager der Khane beibehalten wurden.
im Prinzip haben wir also ein ein multikulturelles Konglomerat ,wie es sich nach der Eroberung des Kinreiches in llen Mobgolenstaaten bildete, aber keine Nomadenkultur mehr..
 
Was mir an der Theorie nicht gefällt, ist die stereotype Aufteilung in Hirten und Bauern. Und der daraus folgende Gedankenweg zu Nomaden.
Mein Ansatz wäre eher die Frage nach dem Entstehen des Kriegertums - unabhängig von der ursprünglichen Wirtschaftsform.

Ob es nun Hirten- oder Bauernkulturen waren, zu allen Zeiten bildeten sich, vor allem in Zeiten wirtschaftlicher Probleme, Gruppen heraus, denen die bäuerliche Wirtschaftsform nicht mehr genügte, bzw. die durch diese nicht mehr ausreichend ernährt wurden.

Man kann sich dann durchaus ein Szenario ausmalen, in dem die Ernten der Bauern - oder der Ertrag der Viehherden - nicht mehr genügte, und sich ein Teil der Bevölkerung lieber davon ernährte, sich Waffen zu besorgen und raubend und plündernd durch die Lande zu ziehen. Das macht man vorzugsweise nicht zu Hause - man überfällt ja nicht die eigene Sippe, sondern man muss eine gewisse Mobilität entwickeln.

Einhergehend damit wird es möglich, sich durch die hohen Gewinne immer bessere Waffen zu besorgen, und damit die Überlegenheit auszubauen. Ein gutes Schwert, eine Rüstung oder ein guter Bogen erforderten wochen- und monatelange Arbeit, waren also entsprechend teuer, und für einen Bauern oder Hirten normalerweise unerschwinglich.

Im Hinterkopf habe ich dabei z.B. die Enstehung der germanischen Kriegertrupps in der Peripherie des römischen Reiches. Ursprünglich Bauern, sahen immer mehr der jungen Leute die Lukrativität des Kriegswesens, entweder durch Verdingen in der römischen Armee, oder durch Bilden von Kriegergefolgschaften, die von Überfällen auf die Randgebiete des Reiches lebten und es dabei zu großem Reichtum und hohem Prestige brachten.

Hier entstand durchaus ein dem von Ketzer97 beschriebenen ähnliches Szenario. Irgendwann erschien es sinnvoller, in dem bis dahin überfallenen Gebiet feste Strukturen zu etablieren und von Raubzügen zum Eintreiben von Tributen überzugehen. Es entstanden zweigeteilte Gesellschaften, in denen die herrschende Klasse feste Plätze - Burgen - errichtete, und die beherschten Bauern dort ihre Tribute/Steuern ablieferten, dafür aber dann den Schutz vor den benachbarten "Warlords" beanspruchen konnten, und nicht mehr direkt an Leib und Leben bedroht waren.

Ich denke aber, dass es kaum möglich ist, hier zwingende Rückschlüsse auf die Herkunft der Kriegerkaste zu ziehen. Nomadenvölker hatten wegen ihrer schon vorhandenen hohen Mobilität zunächst gewisse Vorteile, scheiterten dann aber meist an der Etablierung eines ihnen fremd gebliebenen ortsgebundenen Systems. Längerfristig erfolgreicher waren daher z.B. die germanischen Kriegsgefolgschaften, denen die sesshafte Lebensweise nicht fremd war, die dabei selbst ursprünglich aus einem bäuerlichen Hintergrund entstammten.
 
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Du hast dich hier (wenn ich das richtig verstanden habe) vor allem auf die Entwicklung des Feudalsystems bezogen. Das würde aber heißen, dass das mittelalterliche Rittertum von germanischen Straßenräubern an der Grenze des römischen Imperiums abstammt? Ich glaube, mal gehört zu haben, dass diese Adelsfamilien weitgehend identisch waren mit alten Häuptlingssippen, die wohl kaum blind römische Händler ausraubten, oder?
 
Ich glaube, mal gehört zu haben, dass diese Adelsfamilien weitgehend identisch waren mit alten Häuptlingssippen, die wohl kaum blind römische Händler ausraubten, oder?

Wenn man sich zum Beispiel die alemannischen Kleinkönige anschaut, so kann man die zunächst guten Gewissens als Warlords oder Straßenräuber bezeichnen, die immer wieder römische Strafaktionen provozierten, aber auch teilweise zur Grenzsicherung in römischen Dienst genommen wurden.
Die Alemannen waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen verschiedenster Abstammung, da kann es kaum eine Zurückführung auf alte Häuptlingssippen geben.
 
Du hast dich hier (wenn ich das richtig verstanden habe) vor allem auf die Entwicklung des Feudalsystems bezogen. Das würde aber heißen, dass das mittelalterliche Rittertum von germanischen Straßenräubern an der Grenze des römischen Imperiums abstammt? Ich glaube, mal gehört zu haben, dass diese Adelsfamilien weitgehend identisch waren mit alten Häuptlingssippen, die wohl kaum blind römische Händler ausraubten, oder?

Das ist der springende Punkt.

Man landet bei der Entwicklung einer Kriegergesellschaft (bzw einer kriegerischen Kaste) sofort beim Adel, der anscheinend systemimmanent ist. Von Anfang an finden wir Häuptlinge, Herzöge oder andere Adelssippen, die das militärische Aufgebot stellten und organisierten. Schon bald kommen wir dann zum Lehnswesen bzw. zum Feudalsystem, wo eine Kriegerkaste - die Ritter bzw. der Adel - den Militärdienst "beruflich" betrieb.

Das passt dann nur teiweise zur Unterwerfungstheorie ? Wikipedia , die davon ausgeht, dass

1. kriegerische Hirten die bäuerliche Bevölkerung unterwerfen,

2. die Bauern an die Eroberer Tribut zahlen und dafür Schutz erhalten,

3. Eroberer und Eroberte - Hirten und Bauern - allmählich miteinander verschmelzen, eine "staatliche Organisation" bilden, wobei sich eine herrschende Schicht ausdifferenziert.

Betrachtet man die Entwicklung des Lehnswesens seit Karl dem Großen, so gab es schon zu seiner Zeit eine adlige Schicht von Vasallen. Allerdings stiegen besonders wohlhabende freie Bauern, die sich kriegerische Ausrüstung und das Fernbleiben vom Hof bei Kriegszügen leisten konnten, ebenfalls in den ritterlichen Adel auf. Die große Mehrzahl der Freien sank allerdings in den Stand der Hörigkeit hinab, sodass es am Ende dieser Entwicklung kein freies Bauerntum mehr gab.

Aber wo ist der Anfang dieses überall zu findenden Uradels? Ist er identisch mit den nach der Unterwerfungstheorie ehemals kriegerischen Hirten, die sich über die bäuerliche Bevölkerung setzten?

Falls das so ist, würden diese Verhältnisse allerdings in aschgraue Urzeiten zurückreichen, denn so weit wir das einigermaßen realistisch verfolgen können, treffen wir den Uradel nicht als "Hirtenschicht" an. Es ist somit bloße Spekulation, ob man diese Hirtenschicht postuliert, die sich erst über die Bauern setzte, und dann mit ihnen einen "Staat" gründete. Um das zu untersuchen, müsste man vermutlich bis ins späte Neolithikum und den Beginn der Bronzezeit zurückgehen. Ob da allerdings noch stichhaltige Aussagen zur "Unterwerfungstheorie" möglich sind, ist zweifelhaft. Sicher hat es die dort geschilderten Prozesse gegeben, aber verallgemeinern lässt sich das wohl kaum.
 
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Man landet bei der Entwicklung einer Kriegergesellschaft (bzw einer kriegerischen Kaste) sofort beim Adel, der anscheinend systemimmanent ist. Von Anfang an finden wir Häuptlinge, Herzöge oder andere Adelssippen, die das militärische Aufgebot stellten und organisierten. Schon bald kommen wir dann zum Lehnswesen bzw. zum Feudalsystem, wo eine Kriegerkaste - die Ritter bzw. der Adel - den Militärdienst "beruflich" betrieb.

Ich würde mal davon ausgehen, dass dieses Gleichnis Militär = Adel so selbstverständlich nicht ist - und übrigens auch gar nicht "nur teilweise" mit der Unterwerfungstheorie zusammengeht. Im Gegenteil, wenn man das jetzt von Boulainvilliers her liest, dann ist dieser generische Zusammenhang ("wo ein nomadisches Kriegervolk beginnt sesshafte Bauern zu beherrschen, da entsteht automatisch Adel, ergo ist jeder Adel irgendwie immer auf ein kriegerisches Nomadenvolk zurückzuführen, das sich nie ganz mit den Beherrschten vermischte") die fundamentale Grundannahme der Unterwerfungstheorie nach Boulainvilliers.

Stilicho spricht mir aus dem Herzen, wenn er sagt, dass die Kategorien zu grob sind, und vor allem essenzialisierend. Ich würde außerdem sagen, sie sind fundamental retrospektiv gedacht. Wie du bereits selbst anmerkst, Dieter: Das Volk will ich sehen, das es tatsächlich in natura schafft, sich aus zwei Völkern zusammenzusetzen und sich dabei nicht so sehr zu vermischen, dass am Ende in jedem Stand Vertreter beider Welten zu finden wären. Das Volk will ich außerdem sehen, das nach hundert Jahren noch auseinanderhalten kann, zu wieviel Prozent jetzt eine bestimmte Person nochmal aus welchem Ursprungsvolk hervorgegangen ist.

Hier ist echt ganz interessant Foucaults Kritik an Boulainvilliers. Foucault sagt nämlich, dass aus dieser historischen Anschauung heraus (wieder mal: Perspektive!) das europäische Rassenverständnis erwachsen ist. Das lief (laut Foucault) so: Statt generische Reihen von Prinzen, die einander - immer mal wieder unterbrochen von Kriegen - gegenseitig die Klinke in die Hand gaben und damit die Geschichte ihres Reiches schrieben, setzt Boulainvilliers diesem langen ruhigen Fluss ein Modell entgegen, das von zwei *aus ihrer Natur heraus* unterschiedlichen Völkern ausgeht, die ein und demselben Reich zwei unterschiedliche, nie ganz vermischbare und miteinander um Vorherrschaft ringende historische Vergangenheiten geben.

Ab jetzt streiten also diese Historien miteinander: wer kann sich durchsetzen und seine Geschichtsschreibung normativ als die des Staates festschreiben: der Sesshafte oder der Nomade? Der Bürger oder der Adelige? Wer definiert den Staat? Laut Foucault ist der Witz am Ende, dass keines der beiden "Völker" am Ende den Staat nach dem eigenen Bild neu zu definieren vermag, sondern sie definieren 1) sich selbst im Gegensatz zu anderen Gruppen innerhalb des Staates, und 2) den Staat als ein Produkt des Konflikts.

Und genau darum ging es letztendlich in der Entwicklung der Theorie auch: um eine Neupositionierung des Adels in einer Gesellschaft, die nicht mehr so richtig auf den Adel angewiesen war. Da hat man sich dann halt selbst als "kriegerisches Nomadenvolk" hochstilisiert, das seine eigene Geschichte hat. Und dann kamen noch viele andere Gruppen darauf, dass man ja seine eigene Geschichte im Gegensatz zu anderen schreiben könnte... mit allen guten und schlechten Konsequenzen.

Spaßeshalber zum Abschluss:

Es ist somit bloße Spekulation, ob man diese Hirtenschicht postuliert, die sich erst über die Bauern setzte, und dann mit ihnen einen "Staat" gründete. Um das zu untersuchen, müsste man vermutlich bis ins späte Neolithikum und den Beginn der Bronzezeit zurückgehen.

Aus Sicht Boulainvilliers' wäre das nicht der Fall. Sein Hauptbeispiel ist die Eroberung Galliens durch die Franken, aber laut ihm kann eigentlich jede "feindliche Übernahme" von Gebiet, die dann in einer Sesshaftigkeit der Angreifer im besetzten Gebiet endet, in der obrigens Konstellation enden. Es braucht also nicht den Anfang der Geschichte, sondern bloß mal ne anständige Völkerwanderung. Und die muss auch nicht flächendeckend sein, sondern einfach eine militärisch überlegene Führungsschicht stellen, die sich in dem Land einnistet. Hauptsache, die bleiben da wohnen.

Also, theoretisch könnte man nach Boulainvilliers das britische Empire mit seinen militärisch orientierten Kontinentalstützpunkten als ein Hirtenvolk in Indien bezeichnen.

=)
 
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Also, theoretisch könnte man nach Boulainvilliers das britische Empire mit seinen militärisch orientierten Kontinentalstützpunkten als ein Hirtenvolk in Indien bezeichnen.

Eigentlich ein schönes Beispiel. Ignorieren wir mal, dass die Engländer noch so eine Insel im Atlantik ihre Heimat nannten, was wäre mit der Zeit passiert?

Die militärisch überlegenen Briten hatten zunächst einmal die Oberschicht gestellt, aber daneben hätten auch genügend einheimische Potentaten es verstanden, sich zu arrangieren, ihre Position zu halten oder gar auszubauen. Andererseits wären einfache englische Soldaten nicht in die Führungsschicht aufgestiegen.
Es hätte sich eine neue, gemischte Gesellschaft ergeben, mit einer herrschenden Klasse aus beiden Gruppen, auch wenn die Briten hier zunächst Vorteile gehabt hätten.

Anders ist die Situation in Nordamerika gewesen, wo die Überlegenheit der Eroberer so groß war, dass sie - auch als Folge der mitgebrachten Krankheiten - die Urbevölkerung völlig an den Rand drängen konnten.

Hieran sieht man auch, dass allgemeingültige Aussagen kaum möglich sind.
 
Ignorieren wir mal, dass die Engländer noch so eine Insel im Atlantik ihre Heimat nannten...

lol, besser ist das.

Aber ich denke auch, dass man allein anhand der Vielfalt der Kolonialismusformen bereits sehr gut ableiten kann, wie facettenreich das Thema Unterwerfung in der geschichtlichen Praxis eigentlich ist. Und wie viel komplexer als eigentlich jedes verfügbare Modell, nicht nur die Unterwerfungstheorie.
 
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Alles sehr gute Überlegungen,die Ihr da gepostet habt,aber mir vom Ansatz her etwas zu theoretisch.Gehen wir nochmal zurück zur Verifizierung derThese anhand historischer Beispiele:
Dem Beispiel England könnte man natürlich entgegenhalten,daß sich dessen Eroberung Indiens in der Neuzeit und damit unter vollig anderen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen als in der Frühzeit oder der Antike stattfand und die Unterwerfungstheorie deshalb nicht anwendbar sei
Suchen wir jedoch Beispiele früher Gesellschaften,die andere unterwarfen, so fallen mir in erster Linie Römer,Ägypter,Inka,Chinesen ein und dass sind alles keine Nomaden sondern Bauernkulturen , die aufgrund sozialer Organosation landwirtschaftliche Überschüsse produzieren konnten , und mittels der dadurch möglichen arbeitsteiligen Rohstoffverwertung und dem überproportionalen Bevölkerungswachstum militärische Stärke gewannen.
Die Unterwerfung durch Nomdenkulturen stellt also eher die Ausnahme in der Geschichte dar und ist auch von weiteren Determinanten wie inneren Krisen der okkupierten Gesellschaften abhängig.
 
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Alles sehr gute Überlegungen,die Ihr da gepostet habt,aber mir vom Ansatz her etwas zu theoretisch.Gehen wir nochmal zurück zur Verifizierung derThese anhand historischer Beispiele:
Dem Beispiel England könnte man natürlich entgegenhalten,daß sich dessen Eroberung Indiens in der Neuzeit und damit unter vollig anderen gesellschaftlichen und ökonomischen Bedingungen als in der Frühzeit oder der Antike stattfand und die Unterwerfungstheorie deshalb nicht anwendbar sei
Suchen wir jedoch Beispiele früher Gesellschaften,die andere unterwarfen, so fallen mir in erster Linie Römer,Ägypter,Inka,Chinesen ein und dass sind alles keine Nomaden sondern Bauernkulturen , die aufgrund sozialer Organosation landwirtschaftliche Überschüsse produzieren konnten , und mittels der dadurch möglichen arbeitsteiligen Rohstoffverwertung und dem überproportionalen Bevölkerungswachstum militärische Stärke gewannen.
Die Unterwerfung durch Nomdenkulturen stellt also eher die Ausnahme in der Geschichte dar und ist auch von weiteren Determinanten wie inneren Krisen der okkupierten Gesellschaften abhängig.

Sehr gute Anmerkung, zaphodB., das ist wichtig im Auge zu behalten. Aber was du gerade gesagt hast, macht unsere theorerische Diskussion ja eigentlich nur noch interessanter, denn jetzt können wir uns (wenn wir lustig sind) auch die Frage stellen: Wenn du recht hast und die von der Unterwerfungstheorie als allgemeine Regeln postulierten Voraussetzungen eigentlich mehr so historische Randerscheinungen sind, dann stellt sich die Frage: Was ist das für ein historischer Kontext, in dem so eine krasse Verschiebung überhaupt plausibel sein kann? Was muss da los gewesen sein, dass das so ein erfolgreicher Gedanke werden konnte - auch gegenüber ziemlich guten Argumenten zum Gegenteil?

Da wäre dann vielleicht ein Ausflug ins Frankreich des 17. Jahrhunderts interessant, um sowas zu erklären.
 
Nun ob die Theorie so erfolgreich war wage ich doch eher zu bezweifeln, aber Du hast Recht,was den Blick auf Entstehungszeit und -ort betrifft und auch die Person des Urhebers Henri de Boulainvilliers sollte man dabei nicht unbeachtet lassen.
Boulainvilliers war Mitglied des alten Adels Frankreichs,der durch das absolutistische System marginalisiert und durch Merkantilismus und Geldwirtschaft auch wirtschaftlich ins Abseits gedrängt war. Die Stütze des Absolutismus war im wesentlichen der neue Brief-und Geldadel.Die Privilgien des alten Feudaladels wurden einerseits zugunsten des absolutistischen Hofes vehement beschnitten und andererseits von Seiten des Bürgertums und der neuadligen Aufsteiger relativiert.
Die Folge war ein erheblicher Widerstand dieser Kreise gegen das absolutistische Königtum,der sich u.a. in der Fronde äußerte.
Boulainvilliers Unterwerfungstheorie lieferte hierzu den ideologischen Unterbau.
Wenn man sie abstrahiert betrachtet,geht es im Prinzip um eine kleine ,dominante Herrschaftsschicht die eine Majorität aufgrund ihres Status und ihrer Rechte beherrscht,wobei beide Gesellschaften streng separiert sind und vertikale Mobilität ausgeschlossen ist.Begründet wird das mit vorgeblichen historischen Gesetzmäßigkeiten,wobei der dominierende Nomade (=Reiter=Ritter) dem Bauern gegenüber gestellt wird.
Das Problem war,daß zum einen eine solche historischen Gesetzmäßigkeit der realen Überprüfung nicht standhielt und zum anderen das zugrunde gelegte Gesellschaftsmodell bereits zum Zeitpunkt der Entstehung der Theorie in Europa so nicht mehr bestanden hat und auch nicht mehr durchsetzbar gewesen wäre.
Vermutlich wäre die Theorie daher längst in der Mottenkiste verschwunden, hätte man sie nicht auf den beginnenden Kolonialismus transferiert,um dort die Vorherrschaft über die kolonisierten Völker zu legitimieren.
 
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Vermutlich wäre die Theorie daher längst in der Mottenkiste verschwunden, hätte man sie nicht auf den beginnenden Kolonialismus transferiert,um dort die Vorherrschaft über die kolonisierten Völker zu legitimieren.

Ich denke auch, darauf läuft es letztendlich hinaus. So lässt sich wohl auch dieser Rassenidee-Link erklären, den Foucault mit der Idee in Verbindung bringt; die wäre ja auch nicht in dieser alldefinierenden Weise entstanden, wenn der Kolonialismus nicht gewesen wäre. Das muss man wahrscheinlich alles zusammendenken. Weswegen ich dir auch hier...

Nun ob die Theorie so erfolgreich war wage ich doch eher zu bezweifeln,

...nicht so ohne weiteres zustimmen würde. Zwar ist die Unterwerfungstheorie nicht unbedingt die bekannteste Theorie ever, zumal nicht heute, aber ihre Prämissen sind doch verbreitet und einflussreich genug. Wenn sie hier schon teilweise als Mit-Entstehungsmoment der Rassenlehre gehandelt wird, hat sie auf jeden Fall im französischen Raum eine bedeutende Stellung.
 
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Müssen wir also letztendlich die Unterwerfungstheorie, die ja eigentlich den Anspruch auf Universalität erhebt, als zu wenig allgemeingültiges und ihren eigenen Anforderungen nicht genügendendes Konstrukt einer bestimmten politischen Gesinnung abtun? Es zeigt sich ja wirklich, dass in den meisten Fällen herrschaftlich organisierte Gesellschaften ohnehin eher aus sesshaften Bauernkulturen erwachsen sind, und nicht aus umherstreunenden Räuberbanden...
 
Es zeigt sich ja wirklich, dass in den meisten Fällen herrschaftlich organisierte Gesellschaften ohnehin eher aus sesshaften Bauernkulturen erwachsen sind, und nicht aus umherstreunenden Räuberbanden...

Da wäre ich allerdings auch vorsichtig. Denn meist führt die Betrachtung in Zeiten zurück, über die wir nur wenig wissen. Herrschaftlich organisierte Gesellschaften waren meist auch kriegerisch. Das heißt, es gab schon eine Diversifizierung in eine Krieger- und eine Bauernkaste. Fragt sich, wann und wodurch.
 
Denn meist führt die Betrachtung in Zeiten zurück, über die wir nur wenig wissen.
Und um wieviel weniger wußten dann erst die Erschaffer dieser Theorie über diese Zeiten :D
Gerade in diesen frühen Zeiten würde ich aber eine Diversifizierung in eine Krieger- und eine Bauernkaste eher verneinen. Wie wir wissen wurden nicht umsonst Kriege oft in der erntefreiwn Zeit geführt,weil nur dann geügend Soldaten vorhanden waren.

.Außerdem geht es in der Theorie nicht um arbeitsteilige Kasten in einer Gesellschaft sondern um die Unterwerfung einer Bauerngesellschaft durch eine Kriegergesellschaft.
Wenn man die weiteren Schriften Boulainvilliers liest weiß man auch worauf er hinaus will. Er geht von zwei Gesellschaften innerhalb Frankreichs aus-der keltoromanischen Bauerngesellschaft,der das Volk angehört und der sie unterwerfenden germanischen (!) Kriegergesellschaft,die die Herrschaftsschicht stellt-und er leitet daraus ab , daß die Misere des französischen Uradels der dieser Schicht angehört dadurch entstanden ist,daß man sich mit den Galloromanen (aus denen der Beamten- und Briefadel sowie das aufstrebende Bürgertum stammt ) vermischt habe.Er konstruiert also eine Art rassistisches Kastensystem. als Idealzustand und abstrahiert diese Theorie auch noch,indem er unterschiedliche Kulturstufen gegeneinander stellt.
 
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Danke mal wieder für die hilfreiche Ergänzung, zaphodB.

Ich denke, wir müssen uns die Unterwerfungstheorie zu einem Gutteil als zeitgebundene politische Theorie eher denn als geschichtliches Modell vorstellen, dann ergibt hier vieles auch mehr Sinn.

Wie zaphodB. ja nochmal konkreter geklärt hat, zog Boulainvilliers damals sehr gegenwartsbezogene Schlüsse aus seiner Theorie. Er tat in einem Klima, in dem per Kolonialismus tatsächlich mobile, verhältnismäßig kleine aber hochaggressive Bevölkerungssegmente aus Europa systematisch dabei waren, die ganze Welt zu unterwerfen. So etwas muss man erstmal theoretisch erklären können.

Dass Boulainvilliers sich vor allem auf den Bedeutungsverlust des Adels im Inland konzentriert, bedeutet nicht, dass der Kolonialismus für seine Theorieentwicklung unerheblich gewesen ist. Im Gegenteil, gerade die scharfe Trennung von "Wir, Zivilisation" und "Die anderen, Wilde" wird da erst richtig relevant, und zwar sowohl im Inland als auch im Ausland. Das geht ziemlich fließend ineinander über.
 
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