Man landet bei der Entwicklung einer Kriegergesellschaft (bzw einer kriegerischen Kaste) sofort beim Adel, der anscheinend systemimmanent ist. Von Anfang an finden wir Häuptlinge, Herzöge oder andere Adelssippen, die das militärische Aufgebot stellten und organisierten. Schon bald kommen wir dann zum Lehnswesen bzw. zum Feudalsystem, wo eine Kriegerkaste - die Ritter bzw. der Adel - den Militärdienst "beruflich" betrieb.
Ich würde mal davon ausgehen, dass dieses Gleichnis Militär = Adel so selbstverständlich nicht ist - und übrigens auch gar nicht "nur teilweise" mit der Unterwerfungstheorie zusammengeht. Im Gegenteil, wenn man das jetzt von Boulainvilliers her liest, dann ist dieser generische Zusammenhang ("wo ein nomadisches Kriegervolk beginnt sesshafte Bauern zu beherrschen, da entsteht automatisch Adel, ergo ist jeder Adel irgendwie immer auf ein kriegerisches Nomadenvolk zurückzuführen, das sich nie ganz mit den Beherrschten vermischte") die fundamentale Grundannahme der Unterwerfungstheorie nach Boulainvilliers.
Stilicho spricht mir aus dem Herzen, wenn er sagt, dass die Kategorien zu grob sind, und vor allem essenzialisierend. Ich würde außerdem sagen, sie sind fundamental retrospektiv gedacht. Wie du bereits selbst anmerkst, Dieter: Das Volk will ich sehen, das es tatsächlich in natura schafft, sich aus zwei Völkern zusammenzusetzen und sich dabei
nicht so sehr zu vermischen, dass am Ende in jedem Stand Vertreter beider Welten zu finden wären. Das Volk will ich außerdem sehen, das nach hundert Jahren noch auseinanderhalten kann, zu wieviel Prozent jetzt eine bestimmte Person nochmal aus welchem Ursprungsvolk hervorgegangen ist.
Hier ist echt ganz interessant Foucaults Kritik an Boulainvilliers. Foucault sagt nämlich, dass aus dieser historischen Anschauung heraus (wieder mal:
Perspektive!) das europäische Rassenverständnis erwachsen ist. Das lief (laut Foucault) so: Statt generische Reihen von Prinzen, die einander - immer mal wieder unterbrochen von Kriegen - gegenseitig die Klinke in die Hand gaben und damit die Geschichte ihres Reiches schrieben, setzt Boulainvilliers diesem langen ruhigen Fluss ein Modell entgegen, das von zwei *aus ihrer Natur heraus* unterschiedlichen Völkern ausgeht, die ein und demselben Reich
zwei unterschiedliche, nie ganz vermischbare und miteinander um Vorherrschaft ringende historische Vergangenheiten geben.
Ab jetzt streiten also diese Historien miteinander: wer kann sich durchsetzen und seine Geschichtsschreibung normativ als die des Staates festschreiben: der Sesshafte oder der Nomade? Der Bürger oder der Adelige? Wer definiert den Staat? Laut Foucault ist der Witz am Ende, dass keines der beiden "Völker" am Ende den Staat nach dem eigenen Bild neu zu definieren vermag, sondern sie definieren 1) sich selbst im Gegensatz zu anderen Gruppen innerhalb des Staates, und 2) den Staat als ein Produkt des Konflikts.
Und genau darum ging es letztendlich in der Entwicklung der Theorie auch: um eine Neupositionierung des Adels in einer Gesellschaft, die nicht mehr so richtig auf den Adel angewiesen war. Da hat man sich dann halt selbst als "kriegerisches Nomadenvolk" hochstilisiert, das seine eigene Geschichte hat. Und dann kamen noch viele andere Gruppen darauf, dass man ja seine eigene Geschichte im Gegensatz zu anderen schreiben könnte... mit allen
guten und
schlechten Konsequenzen.
Spaßeshalber zum Abschluss:
Es ist somit bloße Spekulation, ob man diese Hirtenschicht postuliert, die sich erst über die Bauern setzte, und dann mit ihnen einen "Staat" gründete. Um das zu untersuchen, müsste man vermutlich bis ins späte Neolithikum und den Beginn der Bronzezeit zurückgehen.
Aus Sicht Boulainvilliers' wäre das nicht der Fall. Sein Hauptbeispiel ist die Eroberung Galliens durch die Franken, aber laut ihm kann eigentlich jede "feindliche Übernahme" von Gebiet, die dann in einer Sesshaftigkeit der Angreifer im besetzten Gebiet endet, in der obrigens Konstellation enden. Es braucht also nicht den Anfang der Geschichte, sondern bloß mal ne anständige Völkerwanderung. Und die muss auch nicht flächendeckend sein, sondern einfach eine militärisch überlegene Führungsschicht stellen, die sich in dem Land einnistet. Hauptsache, die bleiben da wohnen.
Also, theoretisch könnte man nach Boulainvilliers das britische Empire mit seinen militärisch orientierten Kontinentalstützpunkten als ein Hirtenvolk in Indien bezeichnen.
=)