Warum holt Hannibal, da er Verstärkungen braucht, jetzt nicht die nutzlos gewordenen Kontigente zu sich? Weil er für Hasdrubal den Weg offen halten will (Seibert)?
Zum einen führte Hasdrubal selbst ein starkes Heer mit sich, war also wohl kaum darauf angewiesen, dass ihm irgendwelche Kontingente den Weg offenhalten.
Vor allem aber setzt diese Argumentation voraus, dass Hannibal wollte, dass Hasdrubal in absehbarer Zeit folgt. Das glaube ich aber nicht. Er hatte ihn schließlich in Spanien zurückgelassen, um Spanien zu sichern, und auch später wandte er sich mit Verstärkungsgesuchen an Karthago, nicht an Hasdrubal. Hasdrubal zog auch nicht etwa nach Italien, als er die Situation in Spanien einigermaßen bereinigt hatte (z. B. nach dem Tod der beiden älteren Scipionen), sondern erst als ihm die Lage dort immer mehr entglitt und er wohl kaum noch eine Chance sah, mit dem jüngeren Scipio fertig zu werden, sondern hoffte, seinem Bruder in Italien mehr nützen zu können.
Im Falle der Alpenüberquerung nennt er sie Scipio Familie. Deren innenpolitische Gegner hätten diese massiv angegriffen, weil diese nichts gegen Hannibals Zug über die Alpen unternommen hätten. (Dabei geht es nicht darum, was die Scipios tatsächlich hätten tun können, sondern um die Diffamierung des im Nordabschnitt befehlshabenden Konsuls).
Daher hätten die Scipios Hannibals Verluste übertrieben und den Alpenzug als Unternehmen eines Hasardeurs dargestellt, der bereit ist, die Hälfte seiner Armee zu opfern. Das hätte Konsul Scipio nicht voraussehen können und er wäre daher unschuldig.
Massive Geschichtsfälschungen in ihrem Interesse hätten vorausgesetzt, dass die Scipionen die Informations- und Deutungshoheit über den Krieg besessen hätten. Das war aber keineswegs der Fall, es nahmen viele Römer am Krieg teil, und einige davon schrieben auch darüber. Zu nennen wäre insbesondere Quintus Fabius Pictor, und die Fabier standen mit den Scipionen nicht im besten Einvernehmen, also wird sich Fabius Pictor wohl kaum nach deren Wünschen gerichtet haben. Zu nennen wäre weiters Lucius Cincius Alimentus, der in karthagische Kriegsgefangenschaft geriet und Hannibal persönlich kennenlernte. Er berichtete, Hannibal habe ihm selbst erzählt, beim Alpenübergang 36.000 Mann verloren zu haben. Beider Werke überdauerten und wurden noch von Livius benützt. Daneben gab es in der Antike aber sogar noch von den Römern unabhängige Quellen griechischer Autoren. Zwei griechische Historiker namens Silenos und Sosylos befanden sich in Hannibals Gefolge und konnten somit aus erster Hand berichten.
Es wäre den Scipionen also unmöglich gewesen, dafür zu sorgen, dass nur ein von ihnen geformtes Geschichtsbild in Umlauf kommt.
Ein mögliches Argument fällt mir noch ein.
Hannibals Stärke bei der Schlacht am Trasimerischen See wird von den Quellen mit 35 000 inclusive Gallier angegeben. Bei Cannae berichten die Quellen von 50 000. Hat Hannibal, als er 217 in den Süden ging, zurückgelassene Kontingente nachgezogen?
Du schreibst es selbst: inkl. Gallier. Man muss also keine zurückgelassenen Kontingente bemühen, um das Wachsen von Hannibals Armee zu erklären.
Außerdem muss man bedenken, dass die Römer, als sie von Fabius Maximus Cunctator geführt wurden, nur vor Angriffen auf Hannibal selbst zurückschreckten, nicht auch auf kleinere feindliche Verbände. Ich finde es schon fraglich, ob es zurückgelassenen Kontingenten von ein paar tausend Mann gelungen wäre, sich von den Alpen bis nach Süditalien durchzuschlagen, um sich dort mit Hannibal zu vereinigen.