Na, ich glaube schon, dass es diverse römische "Tugenden" gab, welche eine besondere Entwicklung bevorzugten - und die in den konkurrierenden Staaten nicht gegeben waren.
Diese Tugenden waren m. E. weder Tapferkeit, Standhaftigkeit, Stärke oder gar Treue (spätestens hier würden mich die Senatoren zur Tür rausschmeissen) sondern Adaptivität, bürgerliche Teilhabe, Technokratie und Opportunismus.
Ich kann mich immer noch nicht mit der Annahme einer Besonderheit Roms anfreunden. Über die inneren Verhältnisse der Städte Latiums und Etruriens wissen wir wenig, über die der sonstigen Nachbarn wie der Volsker, Sabiner, Aequer oder Herniker so gut wie gar nichts. Somit halte ich es für unmöglich zu sagen, dass die Römer in ihrer Frühzeit anders als ihre Konkurrenten waren; es spricht auch nichts dafür. Später, als sie die Herrschaft über Italien erlangt hatten, waren sie eigentlich kaum noch zu stoppen, da sie über ein wesentlich höheres Rekrutenpotential als ihre meisten Konkurrenten verfügten und daher auch Niederlagen leichter wegstecken konnten.
Insofern gab es meiner Meinung nach höchstens zwei römische "Tugenden", welche eine besondere Entwicklung bevorzugten: Der Wille auch nach Niederlagen immer noch weiter zu machen, bis man letztlich doch noch siegte, und der Trend, Italien mit einem Netz von Siedlungskolonien zu überziehen, die einen entsprechenden Bevölkerungszuwachs ermöglichten und auch als Stützpunkte zur Gefügighaltung der unterworfenen Völkerschaften dienen konnten.
Ersteres konnten sie sich allerdings nur leisten, weil sie über die entsprechende Mannschaftsstärke verfügten, was die "Tugend" relativiert. Andere Nationen wären vielleicht auch dazu bereit gewesen, nur gingen ihnen die Soldaten oder das Geld zum Anheuern von Söldnern aus.
Adaptivität in der Gabe, sich auf veränderte Verhältnisse mit geändertem Verhalten einzustellen: Notstandsgesetze, Zwangslagen führen nicht zum Zerbrechen des Staates und Übernahme durch "Warlords" sondern selbst die Dictatoren wurden kontrolliert und befristet ermächtigt. Und hatten den Anstand, danach wieder in die zweiten Reihen zurückzutreten (in einer morbiden Version machte das sogar Sulla noch als "Pensionär").
Das hatte allerdings wohl kaum mit "Anstand" zu tun, sondern eher damit, dass ihnen wohl nichts anderes übrigblieb: Es bestand einfach keine hinreichende Bindung der Bürgersoldaten an den Dictator, als dass er sie auch gegen die republikanische Ordnung hätte führen können. Generell führten die befristeten militärischen Kommandos der Konsuln und Dictatoren sowie ihre Aufteilung auf mehrere Feldherrn - so nachteilig die Befristung und Aufteilung aus militärischer Sicht mitunter waren - dazu, dass keine Warlords heranwachsen konnten.
Das war in Karthago allerdings lange Zeit auch nicht viel anders. Zwar gab es oft nur einen Feldherrn für einen großen Feldzug, der oft auch längere Zeit sein Kommando behielt, aber im Fall eines Misserfolgs war er trotzdem erledigt und wurde mitunter sogar hingerichtet. Bomilkars Putschversuch 308 v. Chr. scheiterte ebenso wie diverse legendenumwobene Putschversuche in der frühen römischen Republik.
Die Barkiden hingegen lassen sich durchaus mit Römern wie Sertorius oder Caesar vergleichen, denen es gelang, sich durch den Aufbau einer eigenen territorialen Machtgrundlage Hilfsmittel und die Loyalität ihrer Truppen zu sichern. In Karthago setzte diese Entwicklung nur früher ein.
Ansonsten war das Einstellen auf geänderte Verhältnisse auch in Rom ein langwieriger Prozess: Allein bis zur weitgehenden Gleichstellung der Plebejer brauchte man über zweihundert Jahre.
Zu Teilhabe und Technokratie habe ich schonmal geschrieben; Opportunismus insofern als dass ein exzellentes Geschick darin bestand, Zwangslagen der Gegner und/oder potentiellen Opfer zu erkennen und auszunutzen. Siehe Annektion Sardiniens während sich Hamilkar Barkas mit seinen Ex-Söldnern herumprügelte.
Ich glaube aber nicht, dass das eine römische Besonderheit war.
Noch eins ist mir aufgefallen: der römische Senat hatte 300 Mitglieder, bei einem relativ hohen politischen Gewicht des Einzelnen. Ich habe nicht allzuviele Hinweise auf die Größe der karthagischen Gerusia gefunden, es scheinen ebenfalls 300 gewesen zu sein, aus denen sich aber ein wichtigerer Kreis von 104 rekrutierte; d. h. 2/3 weniger Gehirnmasse und weniger Sozialkontrolle, dafür mehr persönliche Bereicherungsmöglichkeit als in Rom. Das kann eine Nebensache sein, aber trotzdem interessant.
Woraus schließt Du auf ein relativ hohes politisches Gewicht des einzelnen Senators? In der späten Republik waren die meisten Senatoren halb-gescheiterte Politiker, die es über die Quaestur oder allenfalls das Volkstribunat bzw. die Aedilität nicht hinausgebracht hatten. U. a. in Ciceros "Philippica" sieht man eigentlich sehr schön, dass nur maximal ein paar Dutzend Senatoren im Senat wirklich aktiv waren; der Rest waren wohl Hinterbänkler.
Für die frühere, für diesen Thread relevante, Zeit ist zwar unklar, wie man konkret zum Senator bestellt wurde, allerdings waren die Senatoren zumindest relativ hilflos den Censoren ausgeliefert. Ansonsten wissen wir über die Vorgänge im Senat, insbesondere das Rede- und Abstimmungsverhalten, recht wenig. Einen authentischen lebendigen Einblick in den Senatsalltag ihrer Zeit bieten uns eigentlich nur Cicero und Plinius der Jüngere.