Rücksichtnahme wegen verwandtschaftlicher Verhältnisse in mittelalterlicher Kriegsführung?

dekumatland

Aktives Mitglied
In der Ukraine haben sie keine Bindungen, in Afghanistan mussten sie vielleicht auch auf die weitläufige Verwandtschaft Rücksicht nehmen.
dieser Gedanke von @El Quijote bezieht sich auf aktuelle (personelle) Ereignisse der "Spezialoperation", aber mir ist dabei sofort das europäische Mittelalter in den Sinn gekommen.
Die verwandtschaftlichen Verbindungen der Adelsfamilien konnten sehr weit verzweigt sein, ebenso der Besitz solcher Adelssippen; ebenfalls konnten die Besitzverhältnisse großer Klöster sehr weit (!) verstreut sein (man denke an den gut dokumentierten Besitz des Klosters Hersfeld) - im Konfliktfall hatte der Adel im Mittelalter die Pflicht der Kriegsfolge, d.h. hatte z.B. dem König Truppen zu stellen. Wenn Graf Y mit der Königsherrschaft unzufrieden ist und sein eigenes Püppchen kochen will, König X das aber für abtrünnigen Verrat hält, und wenn sich dann keine friedliche Verhandlungslösung abzeichnet, werden die Streitrösser gesattelt und die Schwerter gezogen. Nun kann es sein, dass einige der beteiligten "Ritter" (Adelssippen) Verwandschaft im Gebiet des abtrünnigen Grafen Y haben, sie selber aber König X verpflichtet sind. Ein Dilemma?
Gab es in vergleichbaren Fällen "Rücksichten" in der Kriegführung?
 
Für einen Teil des Problems gab es Regelungen, welche Verpflichtungen Vorrang haben. Aber es wurde eben nicht persönlich gegen die Verwandtschaft vorgegangen. Das konnte eben nicht verlangt werden, solange die Form eingehalten wurde, da es gegen das Recht verstieß.

Hier in der Gegend gab es die Herren von Hörde (Ministeriale, ursprünglich Freiherren), die von Dortmund nach Osten gezogen waren und die Herren von Störmede, eine Nebenlinie der Edelherren zur Lippe, beerbten. Sie hatten Lehen von Köln, Paderborn, Lippe und Corvey, die ein sehr verdichtetes und zusammenhängendes Herrschaftsgebiet ergaben. Sie zerfielen in eine Linie zu Störmede im Herzogtum Westfalen und eine zu Boke im Fürstbistum Paderborn. Dadurch gab es hier bei Konflikten weniger Auswirkungen, weil z.B. die Herren von Hörde zu Boke nur nur die Stadt Geseke befehdeten. Es gab aber durchaus Irritationen der verschiedenen Linien untereinander, bis beide sich ganz modern auf eine feste Grenze einigten, die dann auch zur Grenze zwischen Paderborn und Köln wurde und zumeist heute noch politische Grenze ist.

Es wurden also Lösungen gefunden, wenn es solche Probleme gab und sie waren oft, wie hier, dynastischer Natur. Auch die Edelherren von Büren teilten sich in mehrere Linien. Eine bekam den Besitz im Münsterland. Zuvor hatte aber der Paderborner Bischof zur Territorienbildung ausgenutzt, dass die Bürener Lehnsgrafen der Grafen von Arnsberg waren, aber gleichzeitig Paderborner Lehnsleute und sie zudem Lehen von Arnsberg besaßen, bei denen der Paderborner Bischof (direkt nach dem Kaiser) Oberlehnsherr war.

Solche Lösungen waren natürlich nicht immer rational, sondern funktionell gedacht.

Oft konnten diese Fragen schon bei der Erstbelehnung berücksichtigt werden.
 
Interessante Frage. Spontan fällt mir kein Beispiel für eine solche "Rücksichtnahme" ein – was natürlich nichts heißen muss –, dafür aber sehr viele Beispiele für jedwedes Fehlen von Rücksichtnahme. Einige der blutigsten Konflikte des Mittelalters waren letztlich Familienstreitigkeiten.
 
@muck ja, so gesehen erscheint es paradox: einerseits die Möglichkeit, bei Kriegszügen die eigene weitverzweigte Verwandtschaft womöglich schonen zu können (Rücksichtnahme), andererseits die Tatsache, dass solche Kriegszüge verheerend für alles waren, was an ihrem Weg lag (besonders im Frühmittelalter: die Merowinger und Karolinger mussten ihre Heere daran hindern, schon im eigenen Aufmarschgebiet alles zu plündern)
 
Ihr wisst ja, was ich immer sage: Das Mittelalter war aus moderner Warte voll von Widersprüchen, die aber oft nicht so wahrgenommen wurden.

Femegerichte kannten nur eine Strafe: Tod am Strang. Doch sobald die Quellen nicht nur besonderes darüber berichten gibt es immer mehr Vergleiche zwischen Angeklagtem und Kläger / Geschädigter Partei. Das wurde dann als Niedergang dieser Gerichte und Entartung gewertet. Dabei basierte das germanische Recht doch auf dem Ausgleich. Die Strafe war nur da nötig, wo es zu keinem Ausgleich kam.

Problematischer war, dass es zu Missbräuchen durch Schöffen und Richter kam.

Auch bei deiner Frage, dekumatland, stehen sich Prinzipien gegenüber. Entweder wird durch Sonderregelungen oder 'Rücksichtnahme' ein gerecht erscheinender Zustand angestrebt, oder das gerade günstiger erscheinende Recht missbraucht.
 
seid nachsichtig mit mir. Ich habe mich nie in das Thema eingelesen.

Nur eine Laienfrage: wurde manchmal nicht auch ein Streit angezettelt, um die unliebsame Verwandtschaft zu beseitigen, oder zu mindest enorm zu schwächen?
 
@dekumatland

In 'The Tudor Discovery of Ireland' von Maginn bin ich auf ein Beispiel für Rücksichtnahme im Krieg zwischen Verwandten gestoßen, das Dich interessieren könnte, auch wenn es Mitte des 16. Jahrhunderts stattfand (andererseits überdauerten mittelalterliche Strukturen auf Irland länger als sonst in Westeuropa).

In Munster tobte um die Jahrhundertmitte ein jahrzehntelanger Kleinkrieg zwischen den Häusern FitzGerald (Grafen von Desmond), O'Connor und O'Brien auf der einen Seite, sowie den Häusern Butler (Grafen von Ormonde), O'Kennedy, Gillapatrick und Burke auf der anderen Seite.

1560 heiratete Joan, die 41-järhige Mutter von Thomas Butler, Graf von Ormonde, dessen 17-jährigen Rivalen Gerald FitzGerald, Graf von Desmond, offenbar aus eigenem Antrieb und in der Absicht, die Fehde zu beenden. Während der Dauer dieser Ehe beschränkte sich der Konflikt tatsächlich auf die kleineren verbündeten Häuser; Ormondes Güter wurden von der FitzGerald-Partei nicht angetastet.

Joan verstarb um die Jahreswende 1564/65, und sofort nahm Desmond mit Scharmützeln und Raubzügen die Fehde gegen seinen vormaligen Schwiegersohn wieder auf. Im Februar versuchte er dann, nach altem irischen Recht Abgaben von einem Verbündeten Ormondes einzutreiben, was jenen zum Eingreifen provozierte. Bei Affane kam es zur Schlacht, Desmond wurde besiegt und verlor ungefähr 300 Mann.

Danach machte Elisabeth I. ihre Autorität geltend und erzwang einen Frieden.

Noch eine Anekdote, die zu amüsant ist, um sie auszulassen: Bei Affane erlitt Desmond eine Schusswunde und musste von den siegreichen Butlers vom Feld getragen werden – und zwar in Ermangelung einer Trage auf den Schultern eines Soldaten. Als Ormondes Bruder höhnisch fragte: "Na, was ist jetzt mit dem großen Lord Desmond?", antwortete dieser: "Die Butlers sind seine Laufburschen, wie es sich gehört."

:D
 
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Vor der Schlacht von Lincoln 1217 im ersten Krieg der Barone hatte der Pateiführer der Königstreuen William Marshal sen. seinem Befehlshaber der Bogenschützen die Weisung gegeben, auf die Pferde der rebellischen Barone zu zielen. Die Frontlinie in diesen englischen Bruderkrieg verlief durch die Familien der anglo-normannischen Aristokratie hindurch und auf den Gegenseiten fanden sich manchmal Brüder oder Väter und Söhne gegenüberstehend. In der Schlacht wurde mit dem französischen Graf von Le Perche dann auch nur ein namentlich prominenter Akteur getötet.

Das Gros der in der Schlacht bei Bouvines 1214 Gefallenen waren namenslose gemeine Männer der Kommunalmilizen, während unter den Rittern nur eine Hand voll Namen bekannt sind, die getötet wurden. Dafür sind seitenweise Listen mit Abrechnungen von Lösegeldzahlungen gefangen genommener Ritter überliefert. Zwar ist aus den Überlieferungen keine explizite Weisung zur Schonung bekannt (die Tötung des französischen Königs sei von den Gegnern billigend in Kauf genommen wurden), doch wird die Schlacht häufig als Musterbeispiel eines nach ritterlichen Regeln geführten Kampfes genannt, in dem der unterlegene Ritter seine Aufgabe anzeigte und auch gefangen genommen wurde. Auch hier standen sich Franzosen auf beiden Seiten gegenüber. Graf Peter von Nevers (später Kaiser von Konstantinopel) stand seinem Sohn Graf Philipp II. von Namur gegenüber.
 
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