Ich will hier auf die Problematik des Fakten-Begriffs (und seine Beziehung zum Konsens-Begriff) eingehen, die Usern, die mit moderner und zeitgenössischer Philosophie und Wissenschaftstheorie nicht vertraut sind, nicht wirklich bewusst ist. Einen gründlicheren Überblick über das Thema gebe ich in Bälde in einem philosophiegeschichtlichen Thread ("Eine kurze Geschichte der Wahrheit") im Kulturwissenschafts-Bereich.
Für das Thema des Threads ("Thesen") ist das insofern relevant, als Thesen - wie ich schon schrieb - nur Sinn machen, wenn sie vom Konsens divergieren. Thesen müssen ein kontroverses Potential haben, also ganz anders als ein Konsens ein Pro und ein Contra implizieren (was mir im Fall der These (1) des UP nicht gegeben scheint). In diesem Zusammenhang ist eine Explikation von ´Faktum´ und ´Konsens´, wie ich sie nachfolgend unternehme, eigentlich unverzichtbar.
Ein Fakten-Begriff, wie er in Riothamus´ Behauptung, dass Konsens "keine Tatsachen schafft", durchzuleuchten scheint, spiegelt einen Fakten-Platonismus wider, wie er typisch für das Alltagsverständnis von Wirklichkeit ist, d.h. Fakten werden als etwas angesehen, das unabhängig von seiner Erkenntnis durch urteilende Subjekte existiert. Das entspricht nicht dem Fakten-Verständnis der heutigen Wissenschaftstheorie.
Zunächst einmal ist ein Missverständnis zu klären: ´Faktisch´ ist gemäß aktueller Wissenschaftstheorie nicht bedeutungsgleich mit ´wahr´ im Sinne von absoluter Wahrheit. ´Faktisch´ im wissenschaftlichen Sinne bedeutet nur, (1) dass ein überwiegender Konsens über die Richtigkeit einer Aussage über ein Objekt (Ding/Ereignis/Sachverhalt) besteht, und (2) dass die Aussage NICHT widerlegt ist, was aber theoretisch jederzeit eintreten könnte (siehe dazu unten die Passage über den Fallibilismus von Karl Popper). Der die Aussage tätigende Wissenschaftler muss sich dieser Differenzierung nicht bewusst sein, ist es aber in vielen Fällen, weil ein guter Wissenschaftler sich über die Erkenntnisbedingungen und -grenzen seines Fachgebietes im klaren ist (oder sein sollte). Deswegen wird in vielen Dissertationen ein Kapitel über die verwendete Untersuchungsmethodik dem Hauptteil vorangestellt.
(Im folgenden verwende ich ´perzipieren/Perzeption´ statt ´wahrnehmen/Wahrnehmung´, da ´Wahrnehmungen´ täuschen können, was dem Begriff des Wahr-Nehmens widerspricht)
Zu unterscheiden sind drei Bereiche der Fakten-Erkenntnis:
(1) Intra-subjektiv: Dies ist der Objektbereich der sog. Philosophie des Geistes (philosophy of mind). Es geht hier um subjekt-interne Objekte wie Gefühle, Gedanken, Phantasien usw., die nur für das Subjekt unmittelbar perzipierbar sind.
(2) Subjektiv: Dies ist ein Objektbereich, der außerhalb des Subjektes liegt, aber nur von diesem perzipiert wird. Es geht also um Objektperzeptionen (Objekt = Ding, Ereignis, Sachverhalt), die von keinem anderen Subjekt geteilt und ggf. bestätigt werden können, einfach deswegen, weil kein anderes Subjekt während der Objektwahrnehmung zugegen ist.
(3) Inter-subjektiv: Der von Jürgen Habermas eingeführte Begriff der Intersubjektivität entspricht dem Begriff der ´Objektivität´ und hat dem gegenüber den Vorteil, die Rolle der Subjekte für das Objektivitäts-Urteil deutlicher herauszustellen. Hier geht es um Perzeptionen, die von einer Mehrzahl von Subjekten geteilt werden und wechselseitig bestätigt werden können (was man dann ´Konsens´ nennt).
Dementsprechend gibt es drei Arten von Fakten: (1) intra-subjektive Fakten, die für unsere aktuelle Thematik keine Rolle spielen, (2) subjektive Fakten, die nur für ein individuelles Subjekt gelten können, und (3) inter-subjektive Fakten, die für eine Mehrzahl von Subjekten gelten, d.h. es besteht intersubjektiver Konsens über ihre Faktizität.
Hinsichtlich des wissenschaftlichen Wertes besteht ein gravierender Unterschied zwischen (2) = subjektiv und (3) = inter-subjektiv.
Zu (2):
Die subjektive Perzeption eines Objekts (Ding/Ereignis/Sachverhalt) ist für die Wissenschaft von geringer Bedeutung. Ausnahme: Die Perzeption kann auf eine Weise belegt oder bewiesen werden, welche sie intersubjektiv nachprüfbar macht, z.B. durch Film- oder Tonaufnahmen eines Dinges oder Ereignisses. Die Möglichkeit der Täuschung bzw. des Betrugs durch diese Mittel ist hinlänglich bekannt. Abgesehen von dieser Methode kann das Subjekt die Tatsächlichkeit seiner Perzeption anderen Subjekten gegenüber durch seine persönliche Glaubwürdigkeit zu vermitteln versuchen, was aber eine noch unsicherere Methode ist als die vorgenannte durch technische Dokumentation. Deshalb spielt die subjektive Bezeugung von Dingen/Ereignissen/Sachverhalten in der Wissenschaft, anders als in der Rechtsprechung (Zeugenaussage = juristisches ´Beweismittel´), kaum eine Rolle. Natürlich ist aus Sicht des Subjekts ein von ihm perzipiertes Objekt real und damit faktisch, weshalb es anderen Subjekten gegenüber das Objekt bzw. die Perzeption des Objektes als ein Faktum berichten wird. Aus Sicht dieser Subjekte stellt sich allerdings die Frage nach der Glaubwürdigkeit oder Zuverlässigkeit des Berichts. Selbst im günstigsten Fall kann über die Faktizität eines fremd-berichteten Objektes (Ding/Ereignis/Sachverhalt) bei anderen Subjekten kein vollkommener Konsens entstehen, außer es besteht blindes Vertrauen in die Glaubwürdigkeit, wie in religiösen Kontexten oft zu beobachten.
Für den geschichtswissenschaftlichen Bereich ist das insofern relevant, als manche Objekte (Dinge/Ereignisse/Sachverhalte) oft nur in einer singulären Quelle Erwähnung finden (z.B. Homer, Herodot, Tacitus), was in der Regel zu dem wissenschaftlichen Urteil führt, dass die Faktizität des Objekts nicht völlig gesichert, sondern, je nach Reputation der Quelle, nur mehr oder minder wahrscheinlich ist, was viele Historiker aber nicht davon abhält, das Objekt als quasi-faktisch zu behandeln, was im Fall von Homer/Troja zur Bestätigung der Faktizität geführt hat, in anderen Fällen aber die Gefahr einer wissenschaftlich maskierten Selbst- und Fremdtäuschung birgt.
Zu (3);
Intersubjektiver Konsens ist, wissenschaftstheoretisch gesehen, das einzig brauchbare Medium der Etablierung von wissenschaftlich relevanter Faktizität. Das Kriterium für die Geltung von Faktizität ist also die Bestätigung der Faktizität eines Objekts (D/E/S) durch eine Mehrzahl von Subjekten. Das kann auf zweierlei Weise geschehen:
a) Durch gleichzeitige Perzeption des Objekts durch mehrere Subjekte, welche sich die Faktizität dann wechselseitig bestätigen können.
b) Durch Überprüfung der Faktizität an anderen Orten und zu anderen Zeiten. Das ist vor allem in der Naturwissenschaft eine gängige Praxis (gleiche Situation oder Versuchsanordnung --> gleiche Resultate). Bedingung ist, dass es um reguläre Fakten geht (die sich unter gleichen Bedingungen regelmäßig ereignen) und nicht um singuläre Fakten (die nur einmalig vorkommen).
Natürlich ist auch intersubjektiver Konsens über wissenschaftliche Faktizität nicht in Stein gemeißelt, da es zu Perzeptionen kommen kann, die am Konsens rütteln und ihn sogar zum Einsturz bringen können. Ein dramatisches Beispiel ist in der Naturwissenschaft die Relativätstheorie (neue Sicht auf physikalische Sachverhalte) und ein weniger dramatisches in der Geschichtswissenschaft die Neubewertung der Rolle Neros beim Brand von Rom (dramatischere Beispiele will ich an dieser Stelle vermeiden).
Dass wissenschaftliche Erkenntnis nie abgeschlossen sein kann und ständig offen für Revision sein muss, hat in Anlehnung an Ch.S. Peirce vor allem Karl Popper mit seiner Theorie des Fallibilismus herausgestellt. Faktizität ist für Popper immer relativ zum fallibilistischen Prinzip, d.h. ein Faktum gilt als Faktum, weil und solange es nicht widerlegt ist, und NICHT, weil es ´wahr´ ist. Steht eine Widerlegung zweifelsfrei fest, hat die Wissenschaft ihre bisherige Auffassung zu revidieren. Das gilt grundsätzlich für alle Wissenschaftsbereiche, auch im extremen Fall der naturwissenschaftlichen ´Naturgesetze´: Ein sog. Naturgesetz ist aus Sicht des Fallibilismus kein ´Gesetz´, sondern eine Ereignis-Regelmäßigkeit, die nicht per se auf ewig gelten muss, d.h. rein theoretisch könnte ab morgen Gravitation umgekehrt funktionieren oder auch gar nicht. Das hat schon David Hume im 18. Jh. geahnt, als er in seiner Kritik des Kausalgesetzes postulierte, dass der Stein heiß wird UND die Sonne scheint, statt dass der Stein heiß wird, WEIL die Sonne scheint. Immanuel Kant hat dem zugestimmt und das Kausalgesetz entnaturalisiert und als Denkmodus in den menschlichen Verstand hineingelegt.
Das alles bedeutet für die Konsens-Thematik, dass intersubjektive Faktizität abhängig vom wissenschaftlichen Konsens ist und durch diesen überhaupt erst etabliert wird. Es gibt aus wissenschaftlicher Sicht kein platonisches Eigensein des Faktischen unabhängig vom Konsens.