Vom klassischen zum wilhelminischen Bildungsbegriff

NathanderWeise

Neues Mitglied
hallo zusammen,
ich halte ein referat über die entwicklung des bildungsbegriffs im 19. jahrhundert und über den einfluss dieser auf das leben der deutschen juden.

was ich bisher in erfahrung gebracht habe ist, dass der klassische, von humboldt geprägte bildungsbegriff, der vor allem an die schlagworte der französischen revolution anlehnt, durch den im deutschen kaiserreich aufkeimenden antisemitismus eine für die jüdische bevölkerung dramatische wendung genommen hat. allerdings habe ich bisher nicht herausfinden können, was genau jetzt der neue wilhelminische bildungsbegriff besagt hat. gut, er war durch nationalismus geprägt, aber was genau waren die werte und ziele, die bildung im kaiserreich verfolgte? war sie darauf bedacht, dem volk einen einheitlichen nationalen charakter zu geben? spielt paternalismus eine rolle? hilfeee!
 
Eine erste allgemeine Antwort, oder vielmehr Denkanregungen (noch nicht zur Judenfrage) bietet folgender Link
Campe Gymnasium Holzminden - Unsere Schule um 1900

Wenn man nun weiß, wie wichtig Bildung für Juden war, und dass sie sich diese viel kosten liessen, ja vom Munde absparten, kann man bereits einige Rückschlüsse ziehen, zumal Wilhelm sinngemäß sagte, man müsse junge, nationale Deutsche erziehen, nicht nur Griechen und Römer.
 
vielen dank, der text hilft mir schon sehr viel weiter! mir fehlte einfach die information über den zeitgeist damals. es ist aber auch sehr interessant zu sehen, dass sich trotz allem immer noch am humboldtschen ideal orientiert wurde...
 
vielen dank, der text hilft mir schon sehr viel weiter! mir fehlte einfach die information über den zeitgeist damals. es ist aber auch sehr interessant zu sehen, dass sich trotz allem immer noch am humboldtschen ideal orientiert wurde...

Was mich hier allerdings besonders erstaunt hat, war Hebräisch als mögliches Wahlfach zur 5. Sprache!
 
...referat über die entwicklung des bildungsbegriffs im 19. jahrhundert und über den einfluss dieser auf das leben der deutschen juden
Der Bildungsbegriff im 19. Jh. ist eine Schimäre, weil das Bildungssystem äußerst vielgestaltig war. Am zweckmäßigsten wäre wohl die Konzentration auf Bildungsziele und -inhalte der "höheren Knabenschulen", d.h. der Gymnasien, die sich am Ende des Jh. stärker in "Typen" ausdifferenzierten.

...der klassische, von humboldt geprägte bildungsbegriff, der vor allem an die schlagworte der französischen revolution anlehnt...
Anlehnung des Humboldtschen Bildungsbegriffs an Schlagworte der Revolution - könnte das ein Missverständnis sein?

was genau jetzt der neue wilhelminische bildungsbegriff besagt hat. gut, er war durch nationalismus geprägt, aber was genau waren die werte und ziele, die bildung im kaiserreich verfolgte? war sie darauf bedacht, dem volk einen einheitlichen nationalen charakter zu geben?
Was soll unter dem "wilhelminischen Bildungsbegriff" verstanden werden? Eine Möglichkeit ist es, darunter jene Vorstellungen zu fassen, die Wilhelm II. anläßlich der beiden großen Schulkonferenzen 1890 und 1900 geäußert hat. Die liefen im Wesentlichen darauf hinaus, (a) die Schulen zu "modernisieren", d.h. an die ökonomischen Verhältnisse - Stichwort: Bedürfnisse des Beschäftigungssystems - anzupassen, und (b) sie noch stärker auf den national-vaterländischen Aspekt zu verpflichten. Letzteres fand seinen Ausdruck im wachsenden Einfluss von "Militär und Militarisierung" [1] auf die gesamte Erziehung.

... einfluss auf das leben der deutschen juden ... eine für die jüdische bevölkerung dramatische wendung...
Der zuletzt genannte Aspekt der Militarisierung könnte langfristig tatsächlich als verhängnisvoll gedeutet werden.

Das darf aber nicht den Blick dafür versperren, dass während des gesamten Jh. die Deutschen jüdischen Glaubens an der steigenden Bildungsbeteiligung teilhatten, auch im Kaiserreich, und zwar weit überproportional [2]:

  • In Preußen erhielten 1906/07 59% aller jüdischen Kinder einen über den Abschluß der Volksschule hinausgehenden Unterricht (Durchschnitt: 8%!)
  • Auf den preußischen Gymnasien waren jüdische Schüler etwa sechsfach überrepräsentiert, auf den Universitäten fünffach.
Dass nach 1879/80, also seit dem Auftreten von Stoecker, Treitschke, Marr usw., das "Klima" im Bildungsbereich sich insgesamt zum Nachteil veränderte und dass diese Veränderung "dramatisch" war, dürfte nicht leicht nachzuweisen sein. [3]


[1] Siehe das gleichnamige Kapitel von Christa Berg in: Deutsche Bildungsgeschichte. Band IV. München 1991, S. 501-527
[2] Angaben nach Lowenstein u.a. (Hg.): Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit. Band 3. München 2000, S. 57 f.
[3] Dazu im gleichen Band das Kapitel VIII "Die Wiederkehr des alten Hasses" (S. 193 ff.), worin bezeichnenderweise aufs Schulsystem nur an einer Stelle (S. 237 f.) Bezug genommen wird.
 
Das darf aber nicht den Blick dafür versperren, dass während des gesamten Jh. die Deutschen jüdischen Glaubens an der steigenden Bildungsbeteiligung teilhatten, auch im Kaiserreich, und zwar weit überproportional [2]:

  • In Preußen erhielten 1906/07 59% aller jüdischen Kinder einen über den Abschluß der Volksschule hinausgehenden Unterricht (Durchschnitt: 8%!)
  • Auf den preußischen Gymnasien waren jüdische Schüler etwa sechsfach überrepräsentiert, auf den Universitäten fünffach.

Danke dafür! Damit hat sich meine Verwunderung (hebräisch) gelegt ... :winke:
 
Das darf aber nicht den Blick dafür versperren, dass während des gesamten Jh. die Deutschen jüdischen Glaubens an der steigenden Bildungsbeteiligung teilhatten, auch im Kaiserreich, und zwar weit überproportional [2]:

  • In Preußen erhielten 1906/07 59% aller jüdischen Kinder einen über den Abschluß der Volksschule hinausgehenden Unterricht (Durchschnitt: 8%!)
  • Auf den preußischen Gymnasien waren jüdische Schüler etwa sechsfach überrepräsentiert, auf den Universitäten fünffach.
Um das mal zu untermauern, eine Liste der deutschen Nobelpreisträger jüdischer Herkunft vor 1933 (nach W. Keller):
Adolf von Baeyer ? Wikipedia (1905 Chemie)
Paul Ehrlich ? Wikipedia (1908 Medizin)
Paul Heyse ? Wikipedia (1910 Literatur)
Otto Wallach ? Wikipedia (1910 Chemie)
Richard Willstätter ? Wikipedia (1915 Chemie)
Fritz Haber ? Wikipedia (1918 Chemie)
Albert Einstein ? Wikipedia (1921 Physik)
Otto Fritz Meyerhof ? Wikipedia (1922 Medizin)
Gustav Hertz ? Wikipedia (1925 Physik)
James Franck ? Wikipedia (1925 Physik)
http://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Heinrich_Warburg (1931 Medizin)
Dazu kamen später noch einige Leute, die ihre Ausbildung im wilhelminischen Deutschland erhielten, den Nobelpreis aber als US-Bürger bekamen, weil sie emigriert waren.
 
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