Wahlen in der DDR

collo

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nachdem an anderer stelle sehr viel über die wahlen in der ddr geschrieben wurde...

als eröffnungsbeitrag mal zwei zitate aus wahlgesetzen der ddr

§ 1. Wahlgrundsätze. (1) In der Deutschen Demokratischen Republik wählt die Bevölkerung ihre Machtorgane, die Volkskammer und die örtlichen Volksvertretungen, in allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahlen auf die Dauer von 4 Jahren.
Gesetz über die Wahlen zu den Volksvertretungen der Deutschen Demokratischen Republik (Wahlgesetz) vom 31. Juli 1963 (GBl. I S. 97)

und

§ 1. (1) Die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik wählen in Verwirklichung des Grundrechtes auf Mitbestimmung und Mitgestaltung ihre Volksvertretungen. Dabei sind unverzichtbare sozialistische Wahlprinzipien die Leitung der Wahlen durch demokratisch gebildete Wahlkommissionen, die Volksaussprache über die Grundfragen der Politik und die Aufstellung und Prüfung der Kandidaten durch die Wähler.
Gesetz über die Wahlen zu den Volksvertretungen der Deutschen Demokratischen Republik (Wahlgesetz) vom 24. Juni 1976

man beachte den wegfall von "allgemein", "gleich", und "unmittelbar" (auf das wahlgeheimnis wird im gesetzt von 76 an anderer stelle verwiesen.

das attribut "frei" fehlte schon 1963!

übrigens, auf wahlfälschung standen in der ddr bis zu 3 jahren haft (§211 stgb-ddr), zwei jahre weniger als nach westdeutschem stgb (§107a).
 
man beachte den wegfall von "allgemein", "gleich", und "unmittelbar" ...das attribut "frei" fehlte schon 1963!
Aus dem zweiten link (1976):
§ 2. (1) Die Volkskammer und die Volksvertretungen in den Bezirken, Kreisen, Städten, Stadtbezirken und Gemeinden werden von den Bürgern in freien, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen auf die Dauer von 5 Jahren gewählt.
"Frei" wurde also nicht weggelassen, sondern ist 1976 hinzugekommen...
 
Danke für die Veröffentlichung der Paragraphen.
An erster Stelle stehen 1976 "...unverzichtbare sozialistische Wahlprinzipien die Leitung der Wahlen durch demokratisch gebildete Wahlkommissionen...".
Erst im §2 erscheint "frei".

Die "demokratisch gebildeten Wahlkomissionen" sind lt. Wahlgesetz von frei, geheim und gleich entbunden.
Dann ist §211 StGB-DDR für diese Komissionen nicht anwendbar. Wahlfälschung hieß im DDR-Jura: man raubte die Wahlurne vor Auszählung und verbrannte sie.
 
Die "demokratisch gebildeten Wahlkomissionen" sind lt. Wahlgesetz von frei, geheim und gleich entbunden.
Dann ist §211 StGB-DDR für diese Komissionen nicht anwendbar. Wahlfälschung hieß im DDR-Jura: man raubte die Wahlurne vor Auszählung und verbrannte sie.


Die Korsen schmeißen sie ins Meer....:D

Grüße Repo
 
Na, wie frei die Wahlen waren, haben wir doch in dem anderen Pfad bereits erörtert, so wie es mit dem Wort "frei" überhaupt gehalten wurde - wie z. B. bei der "FDJ" und beim "FDGB" auch. In einer Diktatur ist nichts wirklich frei.
 
Na, wie frei die Wahlen waren, haben wir doch in dem anderen Pfad bereits erörtert, so wie es mit dem Wort "frei" überhaupt gehalten wurde - wie z. B. bei der "FDJ" und beim "FDGB" auch. In einer Diktatur ist nichts wirklich frei.

Da fällt mir ein: Doch wenn wir Ausfall von Unterricht an der Schule hatten, dann gab es "frei" und wir kosteten das auch aus. Wenn über Mittag eine Ausfallstunde war, gingen wir Biertrinken.
 
Erst im §2 erscheint "frei".
Das war jetzt argumentativ schwach. Seit wann ist ein nachfolgender Paragraph weniger wert als der davorstehende? Im § 1 des Versammlungsgesetzes steht z. B., daß sich jeder versammeln darf. Im § 2, daß man dazu keine Waffen mitführen darf. Soll man das im § 2 jetzt nicht so eng sehn? :autsch:
 
Beim Volksbegehren am 15. Mai 1949 wurde schon mit Einheitsliste abgestimmt.
Die Wahlkabinen wurden aber letztmalig benutzt.
Ergebnis: 66% dafür, 33% dagegen 7% ungültig.
Berlin (Ost-Berlin) 41% dagegen.

Grüße Repo
 
Man muss sich stets vor Augen halten, dass der Begriff "Wahlen" im Osten und Westen ganz unterschiedliche Bedeutungsinhalte hat.

Nach marxistischem Verständnis sind "die politischen und sozialen Wurzeln der Macht ... nicht im Wahlsystem, sondern in den Klassenverhältnissen der Gesellschaft begründet". Die Legitimität der Macht der Arbeiterklasse sei demnach auf die historische Mission der Arbeiterklasse und auf die objektiven Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung gegründet.

Eine legitimatorische Wirkung von Wahlen verneint der Marxismus-Leninismus also ausdrücklich. Einmal errungen, gilt die Vormachtstellung der Partei der Arbeiterklasse als unanfechtbar, sie kann somit auch nicht durch einen empirisch festgestellten Volkswillen widerrufen werden.

"Sozialistische Wahlen" dienten also ausschließlich der Machtsicherung der herrschenden Staatspartei SED. Somit lassen sich folgende Funktionen unterscheiden:

- Propagandafunktion: Die "Wahlen" genannten Akklamationsabstimmungen dienten der Verschleierung der faktischen Allmacht der SED. Sie sollten dem Regime international demokratische Respektibilität und darüber indirekt auch innenpolitische Stabilität verleihen.

- Integrationsfunktion: Während sie Teilhabe verweigerte, unternahm die SED große Anstrengungen, um Teilnahme zu maximieren und die Bevölkerung umfassend einzubinden. Durch die mit großem propagandistischem Aufwand vorbereiteten Wahlen sollte die "gesellschaftliche Tätigkeit" der Bürger - etwa bei der Kandidatenaufstellung oder als Wahlhelfer - aktiviert und ihre Kooperationsbereitschaft gestärkt werden.

- Legitimierungsfunktion: Indirekt rechtfertigte die SED durch die Wahlen ostentativ ihren "demokratischen" Legitimationsanspruch, indem sie als Beweis für die behauptete "objektive" Übereinstimmung ihrer Politik mit den gesellschaftlichen Interessen auf die regelmäßigen 99%-Ergebnisse verwies.
 
Die Wahlen in der DDR stellten so etwas dar, wie der moderne Geßler-Hut in Schillers "Wilhelm Tell". Man musste der Autorität seine Ehrerbietung erweisen. Wehe, wenn man sich nicht der Obrigkeit unterwarf!
 
Beim Volksbegehren am 15. Mai 1949 wurde schon mit Einheitsliste abgestimmt.
Die Wahlkabinen wurden aber letztmalig benutzt.
Ergebnis: 66% dafür, 33% dagegen 7% ungültig.
Berlin (Ost-Berlin) 41% dagegen.

Grüße Repo
Die Wahlkabinen konnten auch danach noch benutzt werden, nur mußte man damit rechnen, daß diese Handlung dann notiert wurde.
Gandolf schrieb:
Die Wahlen in der DDR stellten so etwas dar, wie der moderne Geßler-Hut in Schillers "Wilhelm Tell". Man musste der Autorität seine Ehrerbietung erweisen. Wehe, wenn man sich nicht der Obrigkeit unterwarf!
So habe ich es auch immer empfunden - als eine Art Unterwürfigkeitsbezeugung, mehr nicht. :(
 
Das war jetzt argumentativ schwach. Seit wann ist ein nachfolgender Paragraph weniger wert als der davorstehende? Im § 1 des Versammlungsgesetzes steht z. B., daß sich jeder versammeln darf. Im § 2, daß man dazu keine Waffen mitführen darf. Soll man das im § 2 jetzt nicht so eng sehn? :autsch:
Wenn ich Hurvinek richtig verstanden habe, ist nicht ein weiter vorn stehender Paragraph mehr wert, aber im Zweifelsfalle wird zuerst nach ihm gehandelt und er ist von nachfolgendem unabhängig. Beispiel
§1: Jeden 2. Samstag wird nciht gearbeitet
§2: Dei ARbeit für Samstag lautet Äpfel pflücken
--> Nur an jedem 2. Samstag werden Äpfel gepflückt, weil §1 den Wirkungsbereich von §2 einschränkt (bitte nicht am Sinngehalt der Paragraphen herummeckern)
 
Ich bin ja in der "DDR" aufgewachsen, in der die "Wahlen" der reinste Hohn waren, da man keine Auswahl hatte:
Es wurde lediglich eine "Einheitsliste" ausgehändigt, auf der ausschließlich eine Reihe von Namen standen, ohne die Möglichkeit irgendwo ein Kreuz dahinter oder davor zu setzen. Der Wahlschein wurde dann einfach gefaltet und in die Urne gesteckt. An zwei oder drei (weiß nicht mehr genau) solcher "Wahlen" habe ich auch noch teilgenommen.
Ich glaube, eine direkte Wahlpflicht gab es nicht, aber um die "Norm" von 99,nochwas % zu erfüllen, gingen die Wahlhelfer schon um 15 Uhr auf "Stimmenfang" zu Leuten, die bis dahin noch nicht im Wahllokal waren - jedenfalls war das bei meinem Onkel und meiner Großmutter so.

Frage: Gab es tatsächlich keine offizielle "Wahlpflicht"?
:grübel:
 
Zuletzt bearbeitet:
Frage: Gab es tatsächlich keine offizielle "Wahlpflicht"?
:grübel:
Hab mir gerade die Verfassung noch mal angeschaut - in der Fassung vom 7. Oktober 1974 steht nicht von einer Wahlpflicht - oder(?):
Artikel 22
1 Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik, der am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet hat, ist wahlberechtigt.
2 Jeder Bürger kann in die Volkskammer und in die örtlichen Volksvertretungen gewählt werden, wenn er am Wahltag das 18. Lebensjahr vollendet hat.
3 Die Leitung der Wahlen durch demokratisch gebildete Wahlkommissionen, die Volksaussprache über die Grundfragen der Politik und die Aufstellung und Prüfung der Kandidaten durch die Wähler sind unverzichtbare sozialistische Wahlprinzipien.
documentArchiv.de - DDR-Verfassung (06.04.1968/14.10.1974)
 
Hab mir gerade die Verfassung noch mal angeschaut - in der Fassung vom 7. Oktober 1974 steht nicht von einer Wahlpflicht - oder(?)

Das war formaljuristisch richtig! Man muss allerdings den Art. 22 im Kontext lesen, insbesondere mit Art. 21 Abs. 3, wonach die Verwirklichung des "Rechts der Mitbestimmung und Mitgestaltung (...) zugleich eine hohe moralische Verpflichtung für jeden Bürger (ist)."

Mampel (Die sozialistische Verfassung der DDR, 1982) weist in seinem Kommentar darauf hin, dass "Hausgemeinschaften und andere Gruppen" von SED und Nationaler Front dazu verpflichtet wurden, "gemeinsam zur Wahl zu gehen und ihre Stimme öffentlich abzugeben. Wer sich diesem sozialen Druck entzieht, macht sich verdächtig, der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung feindlich gegenüberzustehen [...]" (S. 638).

Dass dieses den Tatsachen entspricht, haben mir Verwandte und Bekannte in den 70er und 80er Jahren auch persönlich bestätigt; es war für sie halt "Teil der gesellschaftlichen Praxis".
 
Das war formaljuristisch richtig! Man muss allerdings den Art. 22 im Kontext lesen, insbesondere mit Art. 21 Abs. 3, wonach die Verwirklichung des "Rechts der Mitbestimmung und Mitgestaltung (...) zugleich eine hohe moralische Verpflichtung für jeden Bürger (ist)."...
Ah - ja, danke.
Also eine Art >argumentative Wahlpflicht durch die Hintertür<. Das habe ich so noch nicht gehört oder gelesen.
 
Mampel (Die sozialistische Verfassung der DDR, 1982) weist in seinem Kommentar darauf hin, dass "Hausgemeinschaften und andere Gruppen" von SED und Nationaler Front dazu verpflichtet wurden, "gemeinsam zur Wahl zu gehen und ihre Stimme öffentlich abzugeben. Wer sich diesem sozialen Druck entzieht, macht sich verdächtig, der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung feindlich gegenüberzustehen [...]" (S. 638).

Dass dieses den Tatsachen entspricht, haben mir Verwandte und Bekannte in den 70er und 80er Jahren auch persönlich bestätigt; es war für sie halt "Teil der gesellschaftlichen Praxis".

Dort wo ein besonders eifriger Parteiheld oder Stasi-IM in einem Hausaufgang wohnte konnte das vorkommen. Insgesamt war es nicht wirklich wichtig, denn Wahlfälschungen wurden vor der Wahl eingeplant.
In der DDR war jeder DDR-Staatsbürger verdächtig, der sozialistischen Gesellschafts- und Staatsordnung feindlich gesinnt zu sein. Sonst hätte man nicht einen derart überdimensionierten Inlandsspionagedienst aufgebaut.

Ich hatte 1986 und April 1989 das Recht zur Wahl zu gehen. 1986 ging ich ab 17:00 Uhr außer Haus um der fliegenden Wahlurne zu entgehen, 1989 hatte ich 12-Stunden-Schichtdienst.
 
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