Das Thema ist schion in Ordnung. Nur die Diskutanten halten sich nicht daran. Wenn als Gegenbeispiel Afganistan genannt wird, eines der ärmsten Länder, dann ist das dafür Beleg genug.
Wenn die islamische Welt heute aufgefordert wird, sich zu reformieren (und Luther zum Vorbild genannt wird), um wieder an den wissenschaftlichen und zivilisatorischen Standard der westlichen Welt aufschließen zu können, dann setzt das ja voraus, dass diese islamische Welt hinterherhinkt. Einen islamischen Nobelpreisträger in den Wissenschaftsdisziplinen gibt es nicht. In den Frühzeiten des Islam war das nicht so (man denke an die Medizin), sondern das Verhältnis ungefähr gleich. Dann ist die Frage nach den historischen Ursachen dafür durchaus legitim.
Ich verorte mal eine Ursache ungeschützt und aus dem Bauch heraus im Koran. Als unmittelbares Diktat Gottes ist er jedem Diskurs unzugänglich. In der westlichen Zivilisation haben wir Vergleichbares nur bei den Zeugen Jehovas und den Mormonen und anderen biblizistischen Kreisen. Die Christenheit geht aber an sonsten davon aus, dass die Bibel als "Gottes Wort in Menschenmund" hinterfragt werden darf, also diskursfähig ist. Welche Bedeutung die Diskursfähigkeit hat, sieht man an dem biblizistischen Kreationismus. Diesen Kreisen bleibt z.B. die Paläanthropologie und die Suche nach dem "missing link" dogmatisch verschlossen. Aus dem Kreise der Amischen wird eine Fortentwicklung der Kernspintomographie nicht zu erwarten sein. So lange es sich um extreme Minderheiten handelt, wird die Gesamtpopulation davon nicht betroffen, insbesondere, wenn das Christentum nicht Staatsreligion wird.
Im Islam sieht die Lage anders aus. Dort ist eine Trennung von Religion und Staat an sich nicht vorgesehen. Einen Diskurs über den Koran ist nicht möglich. Die längst überfällige Erarbeitung einer textkritischen Ausgabe des Korans, so etwa wie der Nestle-Aland für das Neue Testament, wird in Deutschland erarbeitet. Dieser Text wird zumindest für lange Zeit in den muslimischen Ländern nicht verbreitet werden dürfen. Damit entfällt für weite Bereiche die Möglichkeit des Diskurses. Im Mittelalter hat der Diskurs über die Dreifaltigkeit und der Göttlichkeit Jesu trotz aller Spitzfindigkeiten eine Diskussionskultur entwickelt, von der wir heute noch zehren, die der islamischen Welt des vorderen Orients aber weitgehend fehlt (in Singapur und Malaysia mag das etwas anders sein).
Gerade der theologische Diskurs ist ein hervorragendes Feld, gedankliche Disziplin und Unterscheidungsvermögen zu entwickeln. Thomas v. Aquin beginnt viele seiner Antworten auf von ihm selbst gestellte Fragen mit dem Wort "distinguo" = Ich unterscheide ...
Unsere Jurisprudenz hat sich in ihren Auslegungsmethoden weitgehend aus der Scholastik entwickelt. Und bis ins 20. Jh. hinein galten Juristen in Deutschland als für alle Aufgaben in Staat und Verwaltung geeignet. In Island sind es die Theologen, so dass jetzt ein eigener theologischer Studiengang für Theologen eingerichtet wird, die nicht Geistliche werden wollen (so dass die Pastoralausbildung wegfallen kann). Da im Islam aber der theologische Diskurs unterbleibt und die Ausbildung der Geistlichen sich im Wesentlichen auf das Auswendiglernen des Korans, dessen Harmonisierung, und die Kenntnis der Sunna, der Sammlung der Aussprüche des Propheten, beschränkt, sind die so ausgebildeten Geistlichen zwar auch an den Schalthebeln der Macht, aber ihnen fehlt teils das Training im Diskurs über die Instrumente und Methoden der Gesellschaftsführung, teils aber wegen der ehernen Grenzen des Korans auch die Möglichkeit, sachgerecht zu reagieren. Es bedurfte einer hochkomplizierten Argumentation der Universität von Kairo, um Muslimen in der Nähe des Polarkreises eine Möglichkeit des Überlebens zu eröffnen, wenn der Ramadan in den Sommer fiel, wo die Sonne praktisch nicht untergeht. Auch kann man dies gegenwärtig (Mods, mal ein paar Zeilen überspringen!:winke
an der Aufforderung des iranischen Präsidenten, der Papst möge die Verbindung zwischen Islam und Gewalt zurücknehmen, erkennen. Mit keiner Silbe ist er in der Lage (obgleich er frommer Muslim ist), die Bedeutung der vom Papst zitierten Sure 9, 29 friedlich auszulegen - auch kein anderer muslimische Geistliche konnte das bislang. Selbst die ultraorthodoxen Juden lehnen eine gewaltsame Rückeroberung des Heiligen Landes ab (anders als die Zionisten), indem sie die betreffenden Stellen des Alten Testamentes eben anders verstehen (können und dürfen). Insofern sind die Juden in ihrem Diskurs noch freier als die Christen, was sich auch in ihren wissenschaftlichen Leistungen niederschlägt.
Ich denke, dass die Ausgangssituation im frühen Mittelalter in der islamischen Welt und im christlichen Abendland ungefaähr gleich war. Aber dann hat die prinzipielle Diskursfreiheit im Abendland (trotz der Widerstände der Inquisition in manchen Bereichen) eben doch den Fortschritt ermöglicht, während das islamische Morgenland dort stehen blieb.