Entstehung der Sowjetunion - Befreiung von Not und Unterdrückung?

1917 revolutionierten die Russen unter anderem aus Kriegsmüdigkeit gegen den Zaren. Es folgte schließlich der Russische Bürgerkrieg zwischen Roten und Weißen. Der Wunsch der Russen nach Frieden wurde jedoch nicht erfüllt. Der Bürgerkrieg dauerte noch länger als der 1. Weltkrieg und forderte auch mehr Opfer auf russischer Seite als dieser.
Ende 1922 wurde schließlich die Sowjet-Union gegründet. Vor gab es nur die Russische Sowjetrepublik. Den quasi frisch zurückeroberten Gebieten des ehemaligen Russischen Reiches wurde somit eine Art Scheinautonomie gegeben. Im Grunde ist die Gründung der Sowjet-Union nur ein bedeutungsloser Verwaltungsakt.
 
1. Es wäre interessant, diese - sehr stark in der Literatur vertretene Meinung, Harrison, Wheatcraft, Allen etc. - zu diskutieren. Die Protagonisten der empirischen Forschung zur Ökonomie der Sowjetunion vor 1941 stehen wohl überwiegend auf dem Standpunkt, dass sich das wirtschaftliche Niveau bis 1928 der Vorkriegszeit angenähert habe oder es ungefähr erreicht habe.

2. Fakt ist auch, dass die NEP 1928 zu solchen Problemen geführt haben soll, die in die Kollektivierung mündeten. Entweder sind diese Probleme "vorgeschoben", oder sie waren real in der Versorgung vorhanden, und es wäre nach den Ursachen zu forschen.

zu 1. Diese Position vertritt, in expliziter Anlehnung an obige Autoren, auch Leonard (vgl. S. 66/67) und mit dieser Erkenntnis ist im wesentlichen auch eine gewisse "Anerkennung" der wirtschaftlichen Erholung durch NEP verbunden.

Agrarian Reform in Russia: The Road from Serfdom - Carol S. Leonard, Carol Scott Leonard - Google Books

zu 2. Zur Frage, warum Stalin in ca. 1928 das NEP als Wirtschaftssystem beendet, kommt Leonard zu dem m.E. relevanten Schluss: "The collectivation was, ..., a dramatic intensification of a policy already being put in place by the late NEP government to force greater savings from the rural center for more rapid industrialization (s.o. S.69).

Diese Sichtweise war allerdings auch nicht besonders neu, sondern im wesentlichen durch die Arbeit von Preobrazhenskii formuliert worden. In diesem Sinne schreibt Cohen: "His solution for rapid industrialization was a massive preliminary transfer of surplus value from the peasant industrial sector." (S. 163). Diese Sichtweise wurde entwickelt, da die Sowjetunion einen erheblichen Kapitalbedarf hatte, um den Aufbau und die Industrialisierung zu finanzieren. Eine umfangreiche Finanzierung durch externe Geldgeber schied aus, sodass die Schöpfung des notwenigen Kapitals aus der Allokation in der Sowjetunion zu erfolgen hatte.

Dieser Sichtweise zum erzwungenen Kapitaltranser wurde von Bukharin widersprochen: "A proletarian dictatorship which is in a state of war with the peasantry ...can in no way be strong." (s. o. S. 165).

Und zeigt damit die gegensätzlich Polarisierung bzw. Flügelbildung der Bolschewiki in Wirtschaftsfragen im Vorfeld der Beendigung des NEP-Experiments auf. Und es ist auch anzumerken, dass Stalin durchaus im Sinne eine politischen Taktierens sich dem linken bzw. auch dem rechten Flügel der Partei zuneigte.

Bukharin and the Bolshevik Revolution: A Political Biography, 1888-1938 - Stephen F. Cohen - Google Books

Neben diesen wirtschaftspolitischen Entscheidungen für eine erzwungene Industrialisierung ergeben sich auf der politischen Ebene zusätzliche Friktionen.

Eine grundsätzliche Kritik an NEP war immer vorhanden und fand seinen Ausdruck in der Vorstellung, entweder eliminieren die Bolschewiken den Kapitalismus, oder der Kapitalismus assimiliert die Bolschewiken. Eine reale Möglichkeit, mit der Lenin durchaus gerechnet hat und auch E.H. Carr als wahrscheinliche Entwicklung der Sowjetunion im Rahmen eines über 1928 hinaus fortgesetzten NEP für durchaus denkbar gehalten hat.

Rosenberg weist in seiner Zusammenfassung zu "Russia in the Era of NEP" jedoch auch darauf hin, (vgl. S. 312), dass die entstandenen Netzwerke, die den Warenaustausch erst ermöglicht haben und vor der Partei teilweise auch aktiv gefördert wurden, von der gleichen Partei, auch von Bukharin, zunehmend als oppositionelle Gruppierung begriffen wurden und man darin eine Bedrohung der zentralen politischen Macht sahen. Zumal sie als sogenannte "Sel`kor Partei" die Distanz bzw. Feindschaft des ländlichen Bereichs organisierte und eine institutionelle Plattform bildete.

Russia in the Era of Nep: Explorations in Soviet Society and Culture - Sheila Fizpatrick, Alexander Rabinowitz, Richard Stites - Google Books

Neben diesen innenpolitischen Aspekte sollte man nie die außenpolitische Sicht vergessen. Und unter dieser Perspektive sah man die Welt aus der "Festungsperspektive" und fühlte sich von aggressiven kapitalistischen Mächten "eingekreist". Auch wenn diese Vorstellung im instrumentellen Sinne wichtig war für die Mobilisierung der sowjetischen Gesellschaft, griff sie dennoch auch die reale Angst der Russen auf, dass erneut ein Krieg auf russischem Boden stattfindet. Und auch vor diesem Hintergrund ergab sich durchaus eine selektive gesellschaftliche Zustimmung, auch aus dem Militär, zur Industrialisierung der Sowjetunion.
 
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zu 1. Diese Position vertritt, in expliziter Anlehnung an obige Autoren, auch Leonard (vgl. S. 66/67) und mit dieser Erkenntnis ist im wesentlichen auch eine gewisse "Anerkennung" der wirtschaftlichen Erholung durch NEP verbunden.

Leonard habe ich ja oben zitiert, #18.

Er bietet hier keine überzeugende Darstellung auf S. 66-67, auf einem halben Dutzend Absätzen zu NEP bis 1928. Überdies ist aus der kurzen Darstellung zum Agrarsektor die ökonomisch völlig deplatzierte Ausführung zum Staatsbudget vor 1928 zu streichen. Schließlich ist die Darstellung rein deskriptiv, er wählt lediglich einige Aussagen von Wheatcroft, Harrison und Davies aus und stellt diese aneinander gereiht dar.

Damit übernimmt er implizit die älteren "Kalibrierungsversuche" zu den sowjetischen Statistiken, die es auf Plausibilität zu überprüfen gilt. Um es einmal polemisch darzustellen: wenn jemand Tuberkolose-Statistiken, Wetterstatistiken und Mortalitätsraten zum Adjustment von sowjetischen Produktionsmeldungen verwendet, ist er in der Beweispflicht, das "fraud and error" statistisch übertragbar bzw. die Datenreihen insoweit kohärent sind. Den Nachweis sehe ich nicht. Wenn der Nachweis nicht geführt wird, können wir auch Geburtenstatistiken mit Storchenpopulation zusammenführen.:D

Aber wieder ernsthaft: welche ökonomischen Erwartungen kann man (mit welchen Fehlerrisken bzw. inhärenten Risiken) an die "recovery" des russischen Agrarsektors stellen? Nehmen wir auch dazu ein paar in der Literatur weitgehend unumstrittene Aussagen:

- der Sektor umfasste vor dem Krieg mindestens 80% der Wirtschaftskraft, seine Entwicklung wird demnach (logischerweise) prägend für die unmittelbare Nachkriegsentwicklung sein

- die Ernten 1920 und 1921 lagen etwa beim hältigen Vorkriegsniveau: das ist der Startpunkt!

- 1922 soll eine gute Ernte dazu geführt haben, dass (1923) 90% der Vorkriegsflächen wieder bewirtschaftet wurden. Mit welchen Hektarerträgen?

- der landwirtschaftliche Tierbestand soll 1925 das Vorkriegsniveau erreicht haben (Vorsicht: Kalibrierung!), was in den Vorjahren erhebliche Abzweigungen zum Aufbau der Population erfordert hätte, bei halbierter (!) Ernte für die Bevölkerung.

- bei sehr guten Wetterbedingungen 1925/26 (nach den vorherigen Prämissen müssten die Vorkriegsflächen mindestens erreicht worden sein) sollen ca. 6 - 12 % Unterschreitung der Vorkriegsernten gegeben sein (Harrison). Das wären - um die Toleranzen zu zeigen - zwischen 5 und 10 Millionen Tonnen. Daraus eribt sich zwingend, dass die Hektarerträge gesunken sein müssen.

Das Datenmaterial ist nun bekanntlich "adjustiert", die Belastbarkeit ist unbekannt. Was hier aber im Kern beschrieben wird, ist die Erneuerung des Agrarsektors, wie sie in der Tendenz nach dem Krieg erwartbar ist. Die ländliche Bevölkerung bestellt wieder die Felder, weitet die bewirtschafteten Flächen aus, und päppelt den Viehbestand wieder hoch. Der "systemische Faktor" ist dabei vernachlässigbar: Mit NEP hat das nur soweit zu tun, als die Menschen (vom Plan oder Markt) in Ruhe gelassen werden, was zB in der frühen Experimentalphase (Geld abschaffen etc.) nicht der Fall war.

"Ohne Kalibrierung" ergibt das folgende Schlüsse:
- die Erholung hat stattgefunden, mit hohen Zuwachsraten aufgrund des abgesunkenen Niveaus
- das Vorkriegsniveau muss annähernd erreicht worden sein (der Grad der Annäherung , ob nun 80 oder 95%, oder 105% ist unbekannt)
- die ländliche Versorgung war 1923/28 kein Problem

Eine völlig andere Diskussionsebene ist die der Versorgung der städtischen Bevölkerung und der Abgaben an den Staat zwecks Export. Hier steht die (zutreffende?) Aussage Stalins im Raum, dass man 1928 das Vorkriegsniveau in der agraischen Produktion erreicht habe, die "Abgaben" für die städtische Versorgung und die Exporte aber 10 bis 15% unter Vorkriegsniveau lagen, was der NEP in die Schuhe geschoben worden ist. Um dieses politische Schlachtfeld (richtig oder falsch) über angebliche ökonomische Fehler, Ineffizienzen oder Distributionsprobleme geht es mir aber nicht bei der Betrachtung der ökonomischen Fakten.

Mit geht es um die Datenbasis und den daraus abgeleitenten Vorkriegsvergleich. Weitere ökonomische These: Kapitalfragen waren für diese binnenwirtschaftliche Entwicklung irrelevant (1920/28).
 
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1. Leonard habe ich ja oben zitiert, #18.

2. Er bietet hier keine überzeugende Darstellung auf S. 66-67, auf einem halben Dutzend Absätzen zu NEP bis 1928. Überdies ist aus der kurzen Darstellung zum Agrarsektor die ökonomisch völlig deplatzierte Ausführung zum Staatsbudget vor 1928 zu streichen. Schließlich ist die Darstellung rein deskriptiv, er wählt lediglich einige Aussagen von Wheatcroft, Harrison und Davies aus und stellt diese aneinander gereiht dar.

3. Damit übernimmt er implizit die älteren "Kalibrierungsversuche" zu den sowjetischen Statistiken, die es auf Plausibilität zu überprüfen gilt. Um es einmal polemisch darzustellen: wenn jemand Tuberkolose-Statistiken, Wetterstatistiken und Mortalitätsraten zum Adjustment von sowjetischen Produktionsmeldungen verwendet, ist er in der Beweispflicht, das "fraud and error" statistisch übertragbar bzw. die Datenreihen insoweit kohärent sind. Den Nachweis sehe ich nicht. Wenn der Nachweis nicht geführt wird, können wir auch Geburtenstatistiken mit Storchenpopulation zusammenführen.:D

4. Mit geht es um die Datenbasis und den daraus abgeleitenten Vorkriegsvergleich. Weitere ökonomische These: Kapitalfragen waren für diese binnenwirtschaftliche Entwicklung irrelevant.

zu 1: Und deswegen hatte ich mich ja auch auf ihn bezogen, um den Hinweis aufzunehmen

zu 2: Er bietet bestenfalls eine Zusammenfassung der bisherigen Ergebnisse zum NEP. Und somit stellt Deine Kritik primär die bisherigen Darstellungen in Frage, auf die er sich selber bezieht. Ich folge Dir gerne in Deiner Kritik, allerdings sehe ich keine Ansätze / Literatur, die dieses Problem grundsätzlich besser gelöst haben. Und bis es keine bessere Darstellung gibt wird man wohl mit dieser Darstellung leben müssen.

zu 3. Ich sehe mich nicht in der Lage, die methodischen Probleme der sowjetischen Statistiken wirklich beurteilen zu können. Ob "ältere" Kalibrierungsversuche angemessen waren, oder nicht muss im Bereich der jeweiligen Fachwissenschaft entschieden werden. Dass es Brüche in der Logik gab, würde ich nicht anzweifeln, allerdings kann ich sowas lediglich anhand von Literatur nachvollziehen. Welche alternativen Autoren würdest Du vorschlagen als bessere Grundlage?

zu 4. Ob das objektiv für die volkswirtschaftliche Entwicklung so war, sei dahingestellt. In der politischen Diskussion spielte dieses Problem eine durchaus wichtige Rolle wie Cohen m.E. ausreichend belegt. Und diese Diskussion hatte einen Einfluss auf die damalige Wirtschaftspolitik.
 
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Mein Anliegen war, auf die Problematik der Darstellungen zur frühen Sowjetunion hinzuweisen, soweit makroökonomische Daten als Urteilsgrundlage herangezogen werden.

Leider ist nicht übersehbar, ob sich daran etwas ändern wird. Es gibt auch keine Darstellungen, die ersatzweise plausible Darstellungen bieten, sozusagen von höherer Güte.

Was Du richtig ansprichst, ist das mehrschichtige Problem:

- die (ökonomische) Ereignisgeschichte
- die frühe Rezeptionsgeschichte, die daraus resultierenden Kontroversen und politischen Folgen in der SU

Auf der zweiten Ebene ist die Rezeption insoweit Fakt, als die NEP aufgrund ihrer unzureichenden Resultate beendet wurde. Insoweit bin ich bei Dir, als sie Gegenstand von Kontroversen bzw. politischen Kämpfen war. Diese Analysen sind nmM aber davon zu trennen, wie die wirtschaftliche Entwicklung verlaufen ist. Eine gesicherte Antwort auf die Themenstellung, in einer Bewertung der frühen wirtschaftlichen Entwicklung der SU und dem sozialistischen "Beitrag" dazu ist derzeit nicht möglich.
 
Die bpb bietet eine interessante Sammlung an, die auf den Versuch hinweisen, in der stalinistischen UdSSR einen neuen "sozialistischen" Menschen zu "formen".

Der Neue Mensch | bpb

Dazu eine Reihe wichtiger Publikationen zum neuen - sozialistischen - Menschenbild und der Realität im Stalinismus.

Bauer, Raymond A.; Inkeles, Alex (1959): The Soviet Citizen. Daily Life in a Totalitarian Society. Unter Mitarbeit von David Gleicher und Irving Rosow. Harvard University Press
Hoffmann, David L. (2003): Stalinist values. The cultural norms of Soviet modernity, 1917 - 1941. Ithaca [u.a.]: Cornell Univ. Press.
Hoffmann, David L. (2011): Cultivating the masses. Modern state practices and Soviet socialism 1914 - 1939. 1. publ. Ithaca, NY: Cornell Univ. Press.
Kotkin, Stephen (1997): Magnetic mountain. Stalinism as a civilization. Berkeley, Calif. University of California press.
Stites, Richard (1991): Revolutionary dreams. Utopian vision and experimental life in the Russian revolution. 1. issued as an pbk., 1. print. New York : Oxford Univ. Press.
 
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