Ich sehe das genau anders herum. Wenn Geschichte für die Gegenwart noch von Bedeutung ist, dann weil sie erklärt, wieso unsere heutige Welt so ist, wie sie ist, und viele heutige Probleme und Verhaltensmuster verständlicher macht, weil sie ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben. Je mehr man über die Vergangenheit weiß, umso eher kann man z. B. eventuell heutige Konflikte und die Motive der Handelnden verstehen und eine Lösung finden.
Weißt Du, ich glaube gar nicht unbedingt, daß es so "anders herum" ist. Die Gegenwart spiegelt sich in der Vergangenheit, daß ist richtig, oder, so muß man wohl eher sagen, jede historische Betrachtung ist in gewissem Maße eine Selbstreflektion, sei es von einem Einzelnen oder von einer Gesellschaft.
Ob man das immer linear sehen kann und sagen, jedes Ereignis ist eine folgerichtige Entwicklung eines vorhergehenden Ereignisses, das kann im Einzelfall problematisch sein. Ich würde also nicht unbedingt soweit gehen und sagen, Geschichte erklärt die Gegenwart, aber natürlich ist das Interesse der Gegenwart an der Geschichte zu einem wesentlichen Teil dadurch motiviert, Erklärungen zu suchen. Daß sich heutige Konflikte durch die Kenntnis der Vergangenheit lösen ließen, scheint sich leider nicht zu bewahrheiten, denn welche Erfahrung bräuchte die Welt nach dem 2. Weltkrieg noch, um mal von dieser Unsitte zu lassen.
Aber, und ich möchte hier nicht pedantischer erscheinen, als es nötig ist, Geschichte
erklärt nicht, sondern sie muß
erklärt werden. Geschichte ist immer ein Konstrukt, daß nie für sich selbst spricht. Und damit zum zweiten Teil:
Die Bewertung von Geschichte hingegen ist eine höchst subjektive Angelegenheit, bei der man nie zu einem allgemein akzeptierten Ergebnis gelangen wird. Insofern sind der Wissenschaftlichkeit da ohnehin Grenzen gesetzt. Außerdem führt der Versuch einer Bewertung oft erst recht zu Streit, insbesondere wenn sie moralinsauer mit erhobenem Zeigefinger vorgetragen wird. (z. B. "Ihr dürft auf Euren Nationalhelden X nicht mehr stolz sein, weil er ein brutaler Schlächter war."), außerdem wird die Bewertung von Ereignissen und Personen oft genug zur politischen Agitation missbraucht. Das führt dann eher zu Abwehrreaktionen und erst recht zu einem trotzigen Festhalten an traditionellen Sichtweisen. Zielführender ist es wohl, die Geschichte möglichst intensiv zu erforschen und möglichst viele Fakten zu sammeln; die dadurch gewonnenen Ergebnisse führen dann (außer bei Verstockten, bei denen ohnehin weder Aufklärung noch der Zeigefinger hilft) vielleicht eher zu einem Nachdenken.
Natürlich ist eine Wertung immer eine subjektive Angelegenheit, ich würde mich sogar so weit aus dem Fenster lehnen wollen und behaupten, daß es (zumindest in den Geisteswissenschaften) eine "objektive Wertung" gar nicht geben kann. Deshalb kann man Geschichte nicht definieren, sondern sie muß von jeder Generation neu erarbeitet werden. Daß die Wissenschaftlichkeit dabei ihre Grenzen hat, ist genauso richtig wie auch gut, ohne Grenzen funktioniert so etwas nicht. Und daß es dabei zu Mißbrauch kommen kann, ist so bekannt, daß man es nicht weiter ausführen muß.
Dies widerspricht aber nicht der Notwendigkeit einer Bewertung. Eine Bewertung ist ja nicht nur eine moralische Beurteilung, sondern auch eine Relativierung, man muß ein Ereignis ja zu anderen in einen Bezug setzen. Da würde ich einen Schritt weiter gehen und sagen, daß es sich eben nicht nur um das Sammeln von Fakten dreht, sondern um das Auswerten dieser Fakten. Der Fakt an sich ist stumm und wertlos: Caesar wurde am 15. März 44 v. Chr ermordet. Fakt. Ohne ein Bezugssystem sagt uns dieser satz nichts. Als Archäologe sage ich: Ein Fund ohne Befund ist stumm.
Und, um mal zu Alexander zurückzukommen: Wenn ich mich also entschließe, ihn auch heute als Alexander den Großen zu bezeichnen anstatt einfach Alexander III. von Makedonien, übernehme ich ja auch eine Wertung und trage sie, in stiller Zustimmung, weiter. Man müßte nüchtern sagen, daß Alexander von einigen Leuten, auch schon recht früh in der Antike, als Groß bezeichnet wurde, aber man müßte ja dieses Attribut nicht verwenden. Insofern kommt man ohne Wertung, schon aus Gewohnheit, gar nicht aus, und deshalb wiederhole ich meine Meinung: Man sollte sich als Geschichtsbetrachter des Wertens bewußt sein.