Einhards Karlsvita: Adressat und Zweck?

El Quijote

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Ich bin etwas verwirrt über Einhards Adressat der Vita Caroli Magni, bzw. was er damit bezweckte. Es gibt in der Geschichtswissenschaft einige Stimmen, die der Auffassung sind, dass Einhard die Vita aus dem Grunde schrieb, weil ihm Ludwigs Politik missfiel und er Ludwig daher die Vita als Exemplum für eine gute Herrschaft widmete. Die Frage hängt natürlich an der strittigen Datierung der Vita als deren Erstbeleg der Brief des Lupus Servatus gilt, der auf 829/830 datiert wird (auch unsicher). Dem Brief zufolge hat Lupus die Vita in der Klosterbibliothek zu Fulda einsehen können.
Die Datierung anhand des Reichenauer Bibliothekskataloges wird mittlerweile abgelehnt, weil die Vita erst in der Hand des Walahfrid Strabo im Reichenauer Bibliothekskatalog auftaucht, also nicht vor 840, wobei der Katalog selbst ab 821 nachzuweisen ist.
Die Datierung der Vita, sowohl eine Frühdatierung um 823 als auch eine Spätdatierung um 828/29, hängt jeweils davon ab, auf welche Ereignisse der Herrschaft Ludwigs die Bearbeiter glauben, dass Einhard reagiert habe.

Nun erfahren wir aber in der Vita Caroli Magni eine ganze Menge Dinge, die keinerlei politischen Wert haben und auch Ludwig kaum verborgen geblieben sein dürften, etwa wenn Einhard über Karls Körpergröße schreibt oder seine Stimme bzw. seine Freude am Schwimmen. Sicher, die Karlsvita ist Karls Sohn gewidmet. Ludwig erhielt sie ohne das Vorwort Einhards, dafür aber mit den Versen seines Hofbibliothekars Gerward. Aber war der Politiker Ludwig wirklich der Adressat, wie manche meinen? Oder war es nicht eher die Nachwelt, womit sicher nicht moderne Historiker gemeint sind, sondern eher die zweite, dritte und vierte Generation karolingischen Adels nach Karls Tod, die den (((Ur-))Ur-)Ur-)Großvater nicht mehr erlebt hat?
 
Nun , Einhard war ja auch schon älter, als er das Leben des ersten deutschen Kaisers aufgeschrieben/diktiert hat.

So rein menschlich wars wohl einfach ein Bedürfnis, das eigene Wissen festzuhalten
 
Nun , Einhard war ja auch schon älter, als er das Leben des ersten deutschen Kaisers aufgeschrieben/diktiert hat.

So rein menschlich wars wohl einfach ein Bedürfnis, das eigene Wissen festzuhalten

Ob das seinem Alter zuzuschreiben ist, daß er sich doch einige, auch gravierende Fehler leistete. In einem Anhang der Übersetzung von Evelyn Scherabon Firchow habe ich 13 Fehler gefunden. Auch Ranke stellte fest: „Das kleine Buch ist voll von historischen Fehlern.“ Vielleicht hat es ja doch irgend ein anderer unter dem Namen Einhards geschrieben.

Jetzt kam in Seligenstadt eine lateinisch-deutsche Ausgabe der Translatio et miracula sanctorum Marcellini et Petri von Einhard heraus. Erarbeitet im Seminar für mittelalterliche Geschichte an der Eberhard Karls Universität Tübingen unter Leitung von Steffen Patzold.
Was hat man damals nicht alles als Realität wahrgenommen.

Eine spezielle Frage möchte ich hier dazu stellen. Einhard schildert ausführlich unzählige Wunder der beiden Heiligen, Eines geschah in Ursel (Oberursel oder Niederursel bei Frankfurt am Main) und Einhard stellt fest, daß das 6 gallische Meilen von Seligenstadt entfernt läge. Im Anhang basiert dann eine gallische Meile auf der spätantiken Leuga (1,5 Leuga). Eine Leuga beträgt dann wieder 2,2 km. Bei Einhard wäre eine Leuga aber ca. 3-4 km. Nimmt man die Entfernung Seligenstadt-Oberursel (50 km) kommt man sogar auf eine gallische Meile von 8 km bei Einhard.

Bei Wikipedia findet man dann nachgewiesene römische Entfernungen:

Jülich-Köln = 13 Leugen (bei 50 km ist das 3,8 km je Leuga)
MainzKastel-Wiesbaden = 4 Leugen (bei 10 km ist das 2,5 km je Leuga)
Trier-Bingen (126 km) = bei Hadrian 72 Meilen à 1,75 km, bei Septimus Severus 48 Leugen à 2,6 km. (Hoffe, ich habe alles richtig gerechnet)

Meine Frage nun: Kam es früher nicht so sehr auf Genauigkeit an und die Leugen und gallischen Meilen hatten eben beliebige Längen? Für die Bewegung von Heeren über große Entfernungen war doch sicher eine genauere Planung notwendig. War die erforderliche genaue Landvermessung noch nicht so weit?
 
Ich komme bei Google Maps, Fußmarschroute auf 34,x km zwischen Seligenstadt und Unter- und auf 37,x km zwischen Seligenstadt und Oberursel.
In pago Nitahgaowe fundus est Ursella vocatus, qui a basilica martyrum sex fere leugarum intervallo dirimitur.
Das Problem ist die Uneinheitlichkeit der Leuge, vgl. die spanische legua, die zwischen 2,x und 7,x km liegt oder die frz. lieue, die zwischen 3,x und 5,x km liegt.
 
Ich bin etwas verwirrt über Einhards Adressat der Vita Caroli Magni, bzw. was er damit bezweckte. Es gibt in der Geschichtswissenschaft einige Stimmen, die der Auffassung sind, dass Einhard die Vita aus dem Grunde schrieb, weil ihm Ludwigs Politik missfiel und er Ludwig daher die Vita als Exemplum für eine gute Herrschaft widmete. Die Frage hängt natürlich an der strittigen Datierung der Vita als deren Erstbeleg der Brief des Lupus Servatus gilt, der auf 829/830 datiert wird (auch unsicher). Dem Brief zufolge hat Lupus die Vita in der Klosterbibliothek zu Fulda einsehen können.
Die Datierung anhand des Reichenauer Bibliothekskataloges wird mittlerweile abgelehnt, weil die Vita erst in der Hand des Walahfrid Strabo im Reichenauer Bibliothekskatalog auftaucht, also nicht vor 840, wobei der Katalog selbst ab 821 nachzuweisen ist.
Die Datierung der Vita, sowohl eine Frühdatierung um 823 als auch eine Spätdatierung um 828/29, hängt jeweils davon ab, auf welche Ereignisse der Herrschaft Ludwigs die Bearbeiter glauben, dass Einhard reagiert habe.

Nun erfahren wir aber in der Vita Caroli Magni eine ganze Menge Dinge, die keinerlei politischen Wert haben und auch Ludwig kaum verborgen geblieben sein dürften, etwa wenn Einhard über Karls Körpergröße schreibt oder seine Stimme bzw. seine Freude am Schwimmen. Sicher, die Karlsvita ist Karls Sohn gewidmet. Ludwig erhielt sie ohne das Vorwort Einhards, dafür aber mit den Versen seines Hofbibliothekars Gerward. Aber war der Politiker Ludwig wirklich der Adressat, wie manche meinen? Oder war es nicht eher die Nachwelt, womit sicher nicht moderne Historiker gemeint sind, sondern eher die zweite, dritte und vierte Generation karolingischen Adels nach Karls Tod, die den (((Ur-))Ur-)Ur-)Großvater nicht mehr erlebt hat?

Kommt die Verwirrung nicht vielleicht daher, daß wir daran glauben, daß damals historisch alles mit rechten Dingen zugegangen sei? Hat der 5. Brief des Lupus Servatus nicht nur den einfachen Zweck, durch die Nennung dieser Menge gelehrter Bücher und ebensolcher Fragen, die Bedeutung des Einhard zu erhöhen? Und da hat der Schreiber Bertcaud im Aachener Skriptorium ein größeres Werk abgeschrieben und der junge Student Lupus bittet Einhard ihm doch bitteschön diese einzige Kopie zu überlassen und drauf zu achten, daß das Werk dann auch ordentlich versiegelt ist… All die gelehrten Fragen, die er an Einhard richtet sollten doch in Fulda mit seiner Bibliothek von 2000 Werken und unter Hrabanus Maurus für einen Studenten zu beantworten sein.

Lupus of Ferrieres: Letter 5 (To Einhard)

Wenn man sieht, was Wibald von Stablo und Corvey alles für seinen Kaiser Barbarossa erledigt hat um die Heiligsprechung Karls des Großen mit „beglaubigtem“ Material zu unterfüttern könnte man auch da einiges andere für möglich halten.
Da gibt es eine Aachener Vita Karoli Magni mit einer ergiebigen Reliquienreise Karls des Großen nach Jerusalem, eine Descriptio aus Saint Denis mit der Beschreibung überlassener Reliquien, einen Turpin (jetzt Pseudo), ein Karlsprivileg für Aachen (Aachener Urkunden 1101-1250 / Erich Meuthen: „Wohl nicht von ungefähr steht die älteste Abschrift des Karlsprivilegs in einer Handschrift aus Stablo).
Wie ähnlich doch die Namen: Walahfrid Strabo von der Reichenau (berühmt für Fälschungen) teilt Einhards Vita Karoli Magni in Kapitel ein und schreibt ein Vorwort. Das gleiche tut er auch für Thegans Gesta Hludowici.
Was haben wir noch Verdienstvolles von Strabo: Ein bedeutendes Werk ist De imagine Tetrici, eine Kritik an der von Karl dem Großen veranlassten Überführung der Statue des Ostgotenkönigs Theoderichs des Großen von Ravenna nach Aachen.

Ich finde das ist ein weites Feld um einmal zu untersuchen, ob das Mittelalter uns da nicht auf den Arm nimmt.
 
Eigentlich hat keine deiner Anmerkungen etwas mit meiner Fragestellung zu tun...

Ja, ja, ist schon recht! - Auf diese Fragen gab und gibt es schon immer eine Menge Antworten. Viele dünne und dicke Bretter wurden und werden da gebohrt:

http://www.mgh-bibliothek.de/dokumente/z/zsn2a033574.pdf

Da wird von anerkannten und sicher verdienten Mediävisten „einzugrenzen versucht“, „schlecht begründet“, „ohne viel Federlesen richtiggestellt“, „begründeter früherer Datierungsansatz“, „noch einmal überprüft“, „postuliert“, „wenig rezipiert“, „sogar ganz übersehen“, - „Eine neue Erörterung ist darum durchaus sinnvoll“ usw.

Das hier ist schon bald 20 Jahre her und wir alle werden uns sicher auch weiterhin an unseren Fragestellungen erfreuen dürfen.
Da ist in vielen Jahrzehnten schon jeder Stein mehrmals gewendet worden. Um mit Brecht und Reich-Ranicki zu sprechen: „Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen.“
 
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