Götz Aly: Auch im Gedenken zerbricht Europa

El Quijote

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Im September unterhielt sich der Historiker Jerzy Kochanowski mit einem Jenaer Kollegen in der Warschauer Straßenbahn auf Deutsch. Darauf verlangte ein junger Mann, die beiden hätten gefälligst polnisch zu reden. Kochanowski überging die Aufforderung, und prompt versetzte ihm der Polentümler einen kräftigen Schlag vor den Kopf. Die Platzwunde musste genäht werden. Wenig später wurden Asiatinnen in der Warschauer U-Bahn mit der seit den 1920er-Jahren gängigen, ursprünglich antisemitischen Parole angepöbelt „Polska dla Polaków!“ (Polen den Polen!).

Vergangene Woche traf es Krisztián Ungváry, einen der profiliertesten Historiker Ungarns. Er wurde während des offiziellen Gedenkakts zum 60. Jahrestag des Ungarnaufstands von 1956 niedergeschlagen, weil er sich gegen neonationalistische Geschichtsverdrehungen wendet. Ungváry kritisiert zum Beispiel, dass der Führer des Aufstands, Imre Nagy, aus dem staatlichen Gedenken getilgt wurde. Nagy war Reformkommunist, deshalb passt er nicht in das geistige Schrumpfformat von Ministerpräsident Viktor Orbán. Das reicht heutzutage, um vergessen zu machen, dass Nagy nach dem gescheiterten Aufstand wegen „konterrevolutionärer Umtriebe“ verurteilt und gehenkt wurde.

Weder Ungváry noch Kochanowski stehen politisch links. Beide arbeiten strikt quellenorientiert. Hin und wieder rücken sie vaterländische Legenden zurecht. Beide sind Liberale. Genau deshalb ziehen sie rechten Hass auf sich und auch giftige Angriffe aus der linken Ecke. Ungváry war es nämlich, der 1999 die erste, von Jan Philipp Reemtsma mitverantwortete deutsche Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht kritisierte.

Quelle/Weiterlesen: Götz Aly: Auch im Gedenken zerbricht Europa | Berliner Zeitung
 
Danke für den Hinweis auf den (indirekt auch auf die weiteren lesenwerten) Artikel von Götz Aly.

Es lohnt sich sehr auf die Entwicklung und Verbreitung der Geschichtsdeutungen verschiedener Gruppen oder exponierter Personen zu achten.
 
Vielleicht mal ein Einwurf aus der Geographie. Eine Einordnung eines threads über Ungarn und Polen in das Osteuropa-Forum offenbart doch Schwächen in Geographie :)

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Herzlichen Dank auch. Leite das aber auch bitte an die verschiedenen Osteuropainstitute an den Universitäten oder beim Preußischen Kulturbesitz weiter.
 
Ruhig bleiben, mit dem Smiley zeigt Beorna doch, dass es nicht böse gemeint ist.

Zudem gehört es ja zu den Polnischen und Tschechischen Empfindlichkeiten, dass sie in Folge des Kalten Krieges von vielen als nicht richtig zu Europa gehörig gesehen werden. Da wird ja mitunter auch von Intellektuellen das Wort Adenauers von der Russischen Steppe zitiert. Äh- oder war es die asiatische Steppe?

Ein Gefühl des zurückgesetzt werden wirkt sich natürlich auch auf Gedenken und Reaktionen aus.Doch für die Verrohung der Sitten ist es sicher nicht verantwortlich.

Bei der Sichtweise der Vergangenheit spielt beides eine Rolle, wenn man nicht rational reflektiert.

Ich Frage mich gerade, inwieweit das in einem Geschichtsforum relevant ist.

Ein Reformkommunist hing einer heute meist abgelehnten Ideologie an. Wer eine andere Weltsicht hat, als man selbst, gilt heute oft als böse und gefährlich. Wenn die Forderung dazu kommt, nicht still daneben zu stehen, haben wir Gewalt. Damit wäre dann der ganze Thread politisch.

Was man aber auch erkennen ist, dass die Vergangenheit heute nur aufgrund der Gegenwart und der eigenen Subjektivität beurteilt wird. Allenfalls die Nützlichkeit für unterschiedliche Gruppen wird noch ins Auge gefasst.

Doch was ist neu daran? Der Unterschied ist doch wohl nur eine massive Verrohung der Sitten.

Zukünftige Generationen können sich darüber auseinandersetzen, ob gewisse Politiker dazu beigetragen haben, dass das 'Klatschen', wie man es in den 90ern sowohl in rechten als auch in linken Kreisen nannte, in vielen Kreisen als gerechtfertigt oder geboten gilt.

Nun, für uns ist auch das Gegenwart. Reden wir lieber von der Notwendigkeit einer neuen Art der Vermittlung historischer Zustände, und der Notwendigkeit des Andersseins anderer Zeiten.
 
Nun ja, wenn nur einer dabei gewesen ist, muss man denen glauben, denen der es erzählt hat. Es hat ja nicht nur stattgefunden, was ein Notar beglaubigt hat.

(Jedenfalls habe ich im Kopf, dass es nur einen Zeugen gab, der ihn zuvor gefragt hatte, warum er das Rollo des Zugfensters gesenkt habe.)
 
Nun ja, wenn nur einer dabei gewesen ist, muss man denen glauben, denen der es erzählt hat. Es hat ja nicht nur stattgefunden, was ein Notar beglaubigt hat.

(Jedenfalls habe ich im Kopf, dass es nur einen Zeugen gab, der ihn zuvor gefragt hatte, warum er das Rollo des Zugfensters gesenkt habe.)

Wenn es einen Zeugen gab, dann hat der Zeuge bestimmt einen Namen gehabt.
Einen Notar muss der Zeuge nicht immer mit sich geführt haben, seinen Namen schon.




Einmal im Monat musste Adenauer zwischen 1921 und 1932 für ein paar Tage nach Berlin. Er sei immer mit dem Nachtzug gekommen, betont Michael Krekel, Geschäftsführer der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus in Rhöndorf. Damit sei der auch von Willy Brandt zitierte Berlin-Ausspruch Adenauers widerlegt: Auf der Fahrt nach Berlin habe er immer hinter der Elbe die Vorhänge zugezogen, damit er "die asiatische Steppe" nicht sehen müsse. Nachts brauchte Adenauer die Vorhänge nicht zuzuziehen, bemerkt Krekel trocken. Da war es dunkel.
Konrad Adenauer: Im Nachtzug durch die "asiatische Steppe" - Berlin - Tagesspiegel
 
Im September unterhielt sich der Historiker Jerzy Kochanowski mit einem Jenaer Kollegen in der Warschauer Straßenbahn auf Deutsch. Darauf verlangte ein junger Mann, die beiden hätten gefälligst polnisch zu reden. Kochanowski überging die Aufforderung, und prompt versetzte ihm der Polentümler einen kräftigen Schlag vor den Kopf. Die Platzwunde musste genäht werden. Wenig später wurden Asiatinnen in der Warschauer U-Bahn mit der seit den 1920er-Jahren gängigen, ursprünglich antisemitischen Parole angepöbelt „Polska dla Polaków!“ (Polen den Polen!).

Vergangene Woche traf es Krisztián Ungváry, einen der profiliertesten Historiker Ungarns. Er wurde während des offiziellen Gedenkakts zum 60. Jahrestag des Ungarnaufstands von 1956 niedergeschlagen, weil er sich gegen neonationalistische Geschichtsverdrehungen wendet. Ungváry kritisiert zum Beispiel, dass der Führer des Aufstands, Imre Nagy, aus dem staatlichen Gedenken getilgt wurde. Nagy war Reformkommunist, deshalb passt er nicht in das geistige Schrumpfformat von Ministerpräsident Viktor Orbán. Das reicht heutzutage, um vergessen zu machen, dass Nagy nach dem gescheiterten Aufstand wegen „konterrevolutionärer Umtriebe“ verurteilt und gehenkt wurde.

Weder Ungváry noch Kochanowski stehen politisch links. Beide arbeiten strikt quellenorientiert. Hin und wieder rücken sie vaterländische Legenden zurecht. Beide sind Liberale. Genau deshalb ziehen sie rechten Hass auf sich und auch giftige Angriffe aus der linken Ecke. Ungváry war es nämlich, der 1999 die erste, von Jan Philipp Reemtsma mitverantwortete deutsche Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht kritisierte.

Quelle/Weiterlesen: Götz Aly: Auch im Gedenken zerbricht Europa | Berliner Zeitung
Ungvárys Arbeit kenne ich nicht. Dem Artikel der Berliner Zeitung würde ich aber keine vollumfängliche Objektivität zuschreiben: das angeblich »getilgte« Gedenken von Imre Nagy im »geistigen Schrumpfformat«, halte ich für doch etwas spitz formuliert, auch wenn ich über Orbán und über die Intensivität der Pflege des Gedenkens kaum etwas weiß. Was jedoch auch mir auffällt, ja, eigentlich auch der Berliner Zeitung bewusst sein müsste, dass die Ideale von Imre Nagy einer damalig fremden Ideologie entsprach, wofür er in der Fremde auch kämpfte und womöglich Menschen umbrachte. So muss man sich die Frage gefallen lassen, was man denn heute von deutschen Staatsbürgern hält, die sich in fremden Ländern aus einer fremden Ideologie heraus einer fremden Armee anschließen. Sind sie nicht Mörder? Klar ist jedoch, dass Nagy in die Rote Armee aus der Gefangenschaft ›gelangte‹, sodass man ihm hierbei quasi die Flucht dorthin aus Not attestieren kann, sofern man dies will und moralische Bedenken zur Seite schiebt.

Nagy war nach dem 2. WK Mitglied der Regierung in der Rákosi-Ära, der Tausende zu Opfer fielen und als die widerlichste Epoche der ungarischen Nachkriegszeit gilt. Klar auch hier seine mäßigende Rolle, die sich zunächst auf die Agrarpolitik beschränkte und nach vier Jahren in der Kritik der Gewaltanwendung äußerte, worauf er 1949 kurz in Schwierigkeiten geriet. Doch ein gutes Jahr später wurde er zum (Ernährungs-)Minister ernannt und im Nov. 1952 sogar zum Vize-Ministerpräsidenten, d.h. zu Rákosis Stellvertreter. 1953, als Rákosi von Moskau zurückgepfiffen wurde, wurde Nagy zum Nachfolger.

Und genau hier begann Imre Nagy Gutes zu tun, indem er die Verfolgungen zurücknahm, die Internierungslager auflöste und die Macht der Polizei einschränkte. Auch kritisierte er immer mutiger die Verfolgungen unter Rákosi und dessen Politik.

1955, nachdem Rákosi 1954 nach Moskau gereist war und wieder in Ungarn Nagy scharf kritisiert hatte, verlangte Moskau Selbstkritik von Nagy wegen der angeblichen Rechtsdriftung. Kurz darauf erlitt Nagy einen leichten Herzinfarkt und musste für längere Zeit der Politik fernbleiben, worauf er offiziell als Verantwortlicher für die falsche Kursänderung hingestellt wurde. Nagy schrieb eine Verzichtserklärung und erlitt nun einen schweren Herzinfarkt, was die Regierung als Anlass nahm, ihn offiziell von seiner »Amtsbürde zu befreien«. Noch im selben Jahr bekundete Nagy in einem Brief seinen Willen zu Selbstkritik und verwies auf seine Krankheit, was jedoch abgelehnt wurde. Hierauf begann Nagy, politische Pamphlete zu verfassen und bildete einen Kreis aus Politikern, Schriftstellern und Journalisten um sich, bis schließlich die ung. Stasi dem »Fall Nagy« nachging und Nagy Ende 1955 aus der Partei ausgeschlossen wurde. Knapp ein Jahr später wurde er wieder in die Partei aufgenommen, obwohl es sich um ihn mittlerweile ein sog. »Imre Nagy-Kreis« gebildet hatte. Im Oktober verlangten Studenten die Rückkehr von Nagy in die Regierung, worauf dieser eine Rede hielt. …

Imre Nagy hat mit seiner Politik vielen Menschen das Leben gerettet. Seine Ideologie aber, und somit auch seine politischen Ziele, entsprachen die der Besatzer, was seine Figur kontrovers macht. Imre Nagy hat viel Gutes getan und wurde schließlich ermordet, das steht fest. Ob er aber vorbehaltlos geehrt werden muss, sei dahingestellt…
 
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Doch was ist neu daran? Der Unterschied ist doch wohl nur eine massive Verrohung der Sitten.....

Gut gesagt. Was mir z.B. am Titel missfällt ist, dass diese Missstände uneuropäisch sein sollen. Es sollte reichen festzustellen, dass es Missstände sind.
Mit dem Zauberwort "Europa" wird alles beschworen was gerade den eigenen Zwecken dienlich scheint, sei es Finanz-, Wirtschafts- oder Migrationspolitik. Europa als Idee wird mal ausgedient haben weil es funktionalisiert wurde.
Die, die heute medial als Antieuropäer verteufelt werden verbrüdern sich untereinander, indem Tschechen oder Polen Deutschen augenzwinkernd Asyl anbieten - was mit warmherziger Dankbarkeit quittiert wird. So was ist mehr europäischer Geist, als wenn Deutsche ihren osteuropäischen Nachbarn vorschreiben wen sie gefälligst zu wählen haben um Europa zu bewahren.
 
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Bei den Antworten auf den Beitrag von Götz Aly frage ich mich, ob er von einer Reihe von "Kommentatoren" gelesen wurde.

Zumindest ich finde die inhaltlichen Verirrungen der Diskussion stellenweise "erstaunlich", wenn ein engagierter Historiker wie Götz Aly völlig zu Recht einfordert, dass Historiker nicht die dreckige ideologische Arbeit von autoritären Regimes in Ost oder West, ob kapitalistisch, sozialistisch oder was weiss ich wie die sich im einzelnen nennen.

Zitat Götz Aly : "In immer mehr europäischen Staaten bevorzugen und fördern staatliche Geschichtspolitiker nationalistische Mythen."

Götz Aly hat völlig Recht, wenn er die autoritäre Staatsräson kritisiert, die im Interesse eines neu erwachten militanten ethnisch inspirierten Nationalismus eine "ekelhafte", weil zynische, Reinterpretation von Geschichte vornehmen will.

Auch deswegen, weil diese neue - alte - Form der ideologischen, historischen angeleiteten und fundierten, Ermächtigung von beliebigen Spielarten von Nationalismus zwangsläufig auf Elemente hinausläuft, die besonders für faschistische und auch stalinistische Gesellschaftsformen kennzeichnend waren. Nämlich die Definition von gesellschaftlichen Gruppen, die zu einer Gesellschaft gehören und solchen die nicht dazu gehören.

Und dieser mentale Schritt ist immer ein notwendiger, um eine offene Gesellschaft in eine intolerante und geschlossene Gesellschaft zu verwandeln. Ein Prozess der im Osten Europas und Südosten besonders deutlich und militant voranschreitet und unter dem Phänomen des "Populismus" verharmlost wird.

Fazit: Die kritische und vorurteilsfreie Akzeptanz der Opfer der anderen Länder - auch der anderen politischen Lager in einem Land - und ebenso eine objektivierende Sicht auf das eigene Land ist die Voraussetzung für die Verständigung von Völkern, weil es ein geteiltes Schicksal ist.

Dieses war immer die zentrale Prämisse der Versöhnung von Adenauer, über Brandt bis hin zu Kohl. Und dieser deutsche bzw. auch europäische Konsens wird durch die Entwicklungen, wie Götz Aly sie beschreibt, brüchig. Am Ende einer weiteren und eskalierten zukünftigen Entwicklung wird zwangsläufig die Rückkehr von Kriegen in Mittel- und Osteuropa sein. Und der neue - alte - Nationalismus wird wieder der ideologische Treibstoff sein, der diese Entwicklung antreiben könnte.

Und deswegen ist Götz Aly zuzustimmen, wenn er kompetent seine warnende Stimme erhebt und an einem Beispiel die perversen Auswüchse der nationalistischen Aneignung von Geschichte durch bestimmte Kreise in den herrschenden Eliten neutral beschreibt und kritisiert.

Und er hat natürlich auch Recht, wenn er implizit an die Vernunft aller anderen appelliert, diese nationalistische Aneignung von Geschichte in keinem Land wieder zuzulassen.

Und das betrifft das professionelle Selbstverständnis einer ganzen Profession und somit gehört es auch zur Frage des "Erkenntnisinteresses" bzw dann auch zur Neutralität und Objektivität von Geschichtsschreibung.
 
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Und deswegen ist Götz Aly zuzustimmen, wenn er kompetent seine warnende Stimme erhebt und an einem Beispiel die perversen Auswüchse der nationalistischen Aneignung von Geschichte durch bestimmte Kreise in den herrschenden Eliten neutral beschreibt und kritisiert.

Dem stimme ich ohne Einschränkung zu. Es hatte aber meiner Meinung nach nichts mit Europa zu tun, wie es heute im Mund geführt wird. Mir missfällt ein allgemeiner Trend den Respekt vor der Wahrheit zu verlieren, auch hierzulande. Da reagiere ich auf Zuweisungen empfindlich.

Danke für die Vertiefung.
 
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Vielen Dank Thane,

darum geht es nämlich.
Ob sich Protagonisten der politischen Bühnen Geschichte nach Gusto aneignen dürfen, oder ob eine objektive, und damit eine wissenschaftliche und internationale (beides gehört ja zusammen) Sicht angestrebt wird.
Weiterhin geht es um die Organisation des Missbrauchs von Geschichte und dessen Konsequenzen, deren bedauerlich viele zu beklagen sind.
 
Bei den Antworten auf den Beitrag von Götz Aly frage ich mich, ob er von einer Reihe von "Kommentatoren" gelesen wurde.
Wenn Du damit etwas in meinem Beitrag meinst, bitte ich Dich, konkret zu werden. Ich habe lediglich im Artikel am Beispiel von Imre Nagy eine differenziertere Sichtweise gewünscht, was besonders in einem Geschichtsforum, wo die möglichst objektive Herangehensweise lobenswerterweise hochgehalten und auch gehütet wird, wohl erlaubt ist.

So frage ich hier ganz gezielt: was genau trifft in meinem Beitrag nicht zu, wo genau hab ich Götz Aly missverstanden? Darf man seinen Artikel denn überhaupt kritisieren, worin er beispielsweise Imre Nagy, den aufstrebenden Opportunisten des kommunistischen Regimes, der sich dann als Wohltäter des Volkes entpuppte und schließlich dafür von der eigenen Partei ermordet wurde, offensichtlich nur positiv wertet. Ich muss aber ganz ehrlich zugeben, dass ich es nicht weiß, wo in seinem Fall die Geschichtsverdrehung passiert, weshalb ich um konkrete Hinweise bitte.
 
Dann will ich konkret werden und die Kritik an Götz Alys Artikel etwas spitzer formulieren. Tut denn Götz Aly bzgl. Imre Nagy nicht etwa genau das, was er anprangert, nämlich die Geschichte zu verdrehen; nicht, indem er die Ereignisse falsch darstellt, sondern indem er einen Kommunisten als unbedingt verehrungswürdig hinstellt und dies von einer Regierung verlangt, die sich dem Kommunismus abgewandt hat?

Meine Kritik hat übrigens absolut nichts mit meiner Ansicht zur Orbán-Regierung zu tun, die ich 1. kaum kenne, 2. deren reaktionäre Tendenzen ich für bedauernswert halte, und 3. den in Ungarn leider nach wie vor verbreiteten Antisemitismus schlicht widerlich finde. Eklig ist aber auch eine Agitation, die ein anderes Land zu diffamieren sucht.

Etwas Quellenkritik zu Götz Alys Artikel:
Professor Alexander Schwan (1931–1989) wetterte gegen »Stätten kommunistischer Agitation« an den Hochschulen in 1978 am Landesparteitag der Berliner CDU. Sein Unmut stützte sich auf Erfahrungen am eigenen Leib: 1971 entging Schwan um Haaresbreite einem Anschlag, bei dem ihn Studenten aus dem Fenster stoßen wollten. Unter den Tätern befand sich auch Götz Aly, Mitbegründern der Zeitung Hochschulkampf, das Kampfblatt des Initiativkomitees der Roten Zellen in West-Berlin. Alys Mittäterschaft sei hier bzgl. der Wertung von Imre Nagy hervorgehoben, der sich in seinen jungen Jahren nicht davor scheute, für seine Ideologie zur Waffe zu greifen. Dass hier Götz Aly kein moralisches Bedenken walten lässt, könnte in seiner eigenen Vergangenheit liegen, als er vor Gewalt selber nicht zurückgeschreckt war.
Dass die gegenwärtige Regierung in Ungarn Götz Aly ein Dorn im Auge ist, dürfte nicht nur am dortigen Rechtsrutsch, sondern generell an der Abwendung vom Kommunismus liegen. Hierfür spricht gerade das Pochen auf das Andenken von Imre Nagy, den Aly (und vielleicht auch Ungváry, was ich aber nicht beurteilen kann) anscheinend am liebsten als Märtyrer verehrt sehen würde. Bedenklich, wie politische Vorlieben dazu missbraucht werden, gegen einen ehemaligen Ostblockstaat zu hetzen, davon völlig abgesehen, dass Kritik angebracht ist.

Thanepowers vorigen Beitrag (#15), worin er seinen bedingungslosen Respekt G. Aly gegenüber ausdrückt, was sein Recht ist, um jedoch gleich ebenfalls zu einem Rundumschlag bzgl. ehemalige Ostblockländer auszuholen und deren gegenwärtige Regierungen allgemein der Geschichtsverfälschung zu bezichtigen, halte ich für verantwortungslose Meinungsmache; zumindest solange, bis er keine klaren Hinweise zur angeblichen Geschichtsverdrehung im Fall von Imre Nagy liefert.

Ist denn das Gedenken an die tausenden Opfer eines Terrorregimes, zu deren Regierung Imre Nagy sehr wohl gehörte, nicht wichtiger als dass man sich vor Nagy auf den Boden wirft? Darf denn eine Gedenktafel und eine -statue in Budapest nicht genügen, um den Dank für die Linderung der unsäglichen Zustände auszudrücken?

Ein Verwandter von mir wurde übrigens aus politischen Gründen vom Rákosi-Regime gehängt, ein anderer ist verschwunden und ein naher Verwandter durfte bis 1954(!) überhaupt nicht arbeiten, da er vor dem Krieg ein (absolut unpolitischer) Provinz-Beamter war, sodass er sich mit Schwarzarbeit durchschlagen und gnadenlos ausnützen lassen musste. Er hatte sich von den Demütigungen nie mehr erholt.

Darf ich also thanepower nochmals zu einer Konkretisierung des Vorwurfs der Geschichtsverdrehung im Fall »Imre Nagy« bitten?!!
 
Imre Nagy hat mit seiner Politik vielen Menschen das Leben gerettet. Seine Ideologie aber, und somit auch seine politischen Ziele, entsprachen die der Besatzer, was seine Figur kontrovers macht. Imre Nagy hat viel Gutes getan und wurde schließlich ermordet, das steht fest. Ob er aber vorbehaltlos geehrt werden muss, sei dahingestellt…

Das selbe gilt doch auch für Gorbatschow. Und es geht ja nicht darum, diese beiden Kommunisten in lupenreine (oder überhaupt) Demokraten umzudeuten. Es geht darum, dass beide in hohem Maße Schneid gezeigt haben. Nagy hat dafür mit dem Leben bezahlt. Dafür hat er schon ein bisschen Erinnerung verdient.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Das selbe gilt doch auch für Gorbatschow. Und es geht ja nicht darum, diese beiden Kommunisten in lupenreine (oder überhaupt) Demokraten umzudeuten. Es geht darum, dass beide in hohem Maße Schneid gezeigt haben. Nagy hat dafür mit dem Leben bezahlt. Dafür hat er schon ein bisschen Erinnerung verdient.
Das sehe ich anders, Steffen. Dass auch Nagy Schneid gezeigt hat und »schon ein bisschen Erinnerung verdient«, will ich ja nicht anfechten. Mir geht es vielmehr um eine differenzierte Wertung. Es darf nicht vergessen werden, dass die während dem Rákosi-Regime gefolterten und ermordeten Menschen keine persönlichen Gedenkstatuen erhielten, höchstens in ganz seltenen Ausnahmefällen. Das Gedenken an die Opfer steht in Widerspruch zu einer uneingeschränkten Glorifizierung des Kommunisten Nagy. Den gleichen Tod haben Unzählige durch das Regime mit der von Nagy bevorzugten Ideologie erlitten. Auch die Frage muss gestellt werden, wie die historische Wertung von Nagy ohne dessen Ermordung aussehen würde.

Andererseits ist die Herabwürdigung der Verdienste von Nagy ebenfalls deplatziert, wie dies in rechtsextremen Kreisen tatsächlich betrieben wird, was ich jedoch in offiziellen Darstellungen nicht entdecken kann. In der politischen Karriere von Nagy lassen sich dennoch höchst opportunistische Momente ausmachen, aber auch die der Bemühungen, der Grausamkeit der Rákosi-Ära entgegenzuwirken, bis er dann an der Spitze der Regierung mehr Wirkung entfalten konnte.

So bleibt mein Fazit: die Geschichte von Imre Nagy ist weder schwarz noch weiß, sondern voller Kontroversen, deren einseitige Ausleuchtung o.w. von der einen, oder der anderen Seite zu eigenen Zwecken missbraucht werden kann. Mehr will ich dazu gar nicht sagen…
 
Darf ich also thanepower nochmals zu einer Konkretisierung des Vorwurfs der Geschichtsverdrehung im Fall »Imre Nagy« bitten?!!

1.Darfst Du, dennoch möchte ich deutlich machen, dass jeder hier im Forum das Recht hat, zu antworten, wann er möchte!

2.In meinem Beitrag kommt weder das Wort „Imre Nagy“, noch „Geschichtsverdrehung“ vor und deswegen werden ich dazu auch nichts sagen. Sollte ein Bedarf vorhanden sein, über Ungarn 1956 zu diskutieren und die Beiträge basieren nicht einfach nur auf dem Abschreiben von Wikipedia, dann diskutiere ich gerne den aktuellen Forschungsstand zu Nagy.

3.In meinem Beitrag geht es um die Kernaussage von Götz Aly:
Zitat Götz Aly : "In immer mehr europäischen Staaten bevorzugen und fördern staatliche Geschichtspolitiker nationalistische Mythen." Das ist das zentrale Problem.

Etwas Quellenkritik zu Götz Alys Artikel:
Professor Alexander Schwan (1931–1989) wetterte gegen »Stätten kommunistischer Agitation« an den Hochschulen in 1978 am Landesparteitag der Berliner CDU. Sein Unmut stützte sich auf Erfahrungen am eigenen Leib: 1971 entging Schwan um Haaresbreite einem Anschlag, bei dem ihn Studenten aus dem Fenster stoßen wollten. Unter den Tätern befand sich auch Götz Aly, Mitbegründern der Zeitung Hochschulkampf, das Kampfblatt des Initiativkomitees der Roten Zellen in West-Berlin.

Alys Mittäterschaft sei hier bzgl. der Wertung von Imre Nagy hervorgehoben, der sich in seinen jungen Jahren nicht davor scheute, für seine Ideologie zur Waffe zu greifen. Dass hier Götz Aly kein moralisches Bedenken walten lässt, könnte in seiner eigenen Vergangenheit liegen, als er vor Gewalt selber nicht zurückgeschreckt war.

Zu dieser „sogenannten“ Quellenkritik ist folgendes zu bemerken:
1.Sie sprüht vor allem vor Wiki-Halbwahrheiten. Und es sollte eigentlich selbstverständlich sein, wenn ich jemand diskreditieren möchte, dass ich seine Position wirklich kenne. Was bei Dir nicht der Fall ist in Bezug auf Götz Aly.

2.Zudem ist es schlicht bei Wiki abgeschrieben und im Zuge der „Quellenkritik“ ohne Nennung Deiner Quelle im Forum eingestellt.

3. Wiki ist mal wieder „kalter, alter Kaffe“ und bedarf einer aktuellen zusätzlichen Qualifizierung. Also fast wie immer. So schreibt Aly in seinen selbstkritischen Reflektionen (vgl. Link unten) zu dem sogenannten und fälschlich so genannten „Dahlemer Fensterwurf“

„….Dieser Artikel führte unmittelbar zur Schwan-Aktion, später auch als Legende vom Schwanschen Fenstersturz bekannt. Mit etwas 40 zum erheblichen Teil institutsfremden Aktivisten der Roten Zellen besetzten wir am 24. Juni 1971 den Seminarraum A des OSI, in dem eine relativ kleine Gruppe von Professoren, Assistenten und Studenten ein Seminar zur Theorie des Pluralismus veranstaltet. Der Raum lag im Erdgeschoss [Anmerkung thane: Wer das OSI kennt, weiss, dass es zu dem damaligen Zeitpunkt ohnehin nur noch einen 1. Stock aufwies, ein „häßlicher“ langgestreckter, „moderner“ Zweckbau war] Die Fenster blieben zu. Hinausgeworfen wurde niemand, allerdings wurden einige der Eingeschlossenen auf ihren Stühlen hin- und hergetragen und Parolen an die Wand gesprüht. [Anmerkung thane: Was als kindischer Schwachsinn zu bezeichnen ist]….

Darauf wurde Aly zu Hausfriedensbruch, Nötigung, Sachbeschädigung und Freiheitsberaubung verurteilt. Nicht mehr und nicht weniger.

Und Aly fährt fort: „Später empfand ich das Strafurteil als hilfreich: Es stellt den Rechtsfrieden her und bildete die Grundlage dafür, dass Täter und Opfer nach einigen Jahren wieder miteinander reden und sich aussöhnen konnten.“

Eine Einschätzung, die ich teile und auf Gesprächen mit Alexander und Gesine Schwan Mitte der Achtziger Jahre – im Rahmen von Diskussionen zu den NSB und dem Wertewandel (Inglehart: The Silent Revolution) im „kleineren Kreis - beruhen.

Abschließend kommt Götz Aly zu einem Resümee, bei dem er von dem gewaltverneinenden Habermas`schen Diskursgedanken ausgeht und schreibt:

„Eine solche gewalttätige Aktion war seinerzeit an deutschen Universitäten nicht ungewöhnlich; von hervorstechender Ekelhaftigkeit jedoch der Aufruf zur Tat. Es kostet mich erhebliche Überwindung, den Text heute zu lesen; daran hatte ich mitgearbeitet.“

Vor dem Hintergrund dieser aktuellen kritischen Reflektion und der Distanzierung von der ursprünglichen Gewalt mutet die nicht zu haltende Unterstellung von Mashenka: “Dass hier Götz Aly kein moralisches Bedenken walten lässt, könnte in seiner eigenen Vergangenheit liegen, als er vor Gewalt selber nicht zurückgeschreckt war.“ dubios an.

Derartige inhaltlich nicht zu begründenden polemische Vorurteile gegenüber Götz Aly haben nichts mit einer halbwegs seriösen Form von Geschichtsschreibung zu tun. Und vermutlich würde mir Alexander Schwan zustimmen.

Ergo: Wenn ich einen für meine Begriffe seriösen Historiker - wie Götz Aly - „ans Bein pinkeln“ will, dann sollte ich wenigstens halbwegs mit dem vertraut sein, was er zu dem Thema geschrieben hat.

https://books.google.de/books?id=MjxvAgAAQBAJ&pg=PT1&dq=g%C3%B6tz+aly+unser+kampf&hl=de&sa=X&redir_esc=y#v=onepage&q=g%C3%B6tz%20aly%20unser%20kampf&f=false
 
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Etwas Quellenkritik zu Götz Alys Artikel:
Professor Alexander Schwan (1931–1989) wetterte gegen »Stätten kommunistischer Agitation« an den Hochschulen in 1978 am Landesparteitag der Berliner CDU. Sein Unmut stützte sich auf Erfahrungen am eigenen Leib: 1971 entging Schwan um Haaresbreite einem Anschlag, bei dem ihn Studenten aus dem Fenster stoßen wollten. Unter den Tätern befand sich auch Götz Aly, Mitbegründern der Zeitung Hochschulkampf, das Kampfblatt des Initiativkomitees der Roten Zellen in West-Berlin. Alys Mittäterschaft sei hier bzgl. der Wertung von Imre Nagy hervorgehoben, der sich in seinen jungen Jahren nicht davor scheute, für seine Ideologie zur Waffe zu greifen. Dass hier Götz Aly kein moralisches Bedenken walten lässt, könnte in seiner eigenen Vergangenheit liegen, als er vor Gewalt selber nicht zurückgeschreckt war.
Dass die gegenwärtige Regierung in Ungarn Götz Aly ein Dorn im Auge ist, dürfte nicht nur am dortigen Rechtsrutsch, sondern generell an der Abwendung vom Kommunismus liegen. Hierfür spricht gerade das Pochen auf das Andenken von Imre Nagy, den Aly (und vielleicht auch Ungváry, was ich aber nicht beurteilen kann) anscheinend am liebsten als Märtyrer verehrt sehen würde. Bedenklich, wie politische Vorlieben dazu missbraucht werden, gegen einen ehemaligen Ostblockstaat zu hetzen, davon völlig abgesehen, dass Kritik angebracht ist.

Es trifft nicht zu, Götz Aly in dieser Sache als kommunistischen Revisionisten darzustellen. Aly war Maoist, und er gehörte fraglos auch eher zu den radikaler ausgerichteten 68ern. Spätestens in den 2000er Jahren wandelte er sich zum überzeugten Anti-Sozialisten. Dabei rechnete er auch mit der 68er-Bewegung radikal (und aus meiner Sicht übers Ziel hinausschießend ab), indem er sie, knapp gesagt, als eine Folge autoritärer Denktraditionen in Deutschland und ebenso eine Folgeerscheinung des Nationalsozialismus darstellte.

Manche bezeichnen Aly heute als Neoliberalen, das trifft es aber nicht ganz. Ich sehen ihn als Verfechter eines ideologiekritischen Individualismus, durchaus auf eine radikale Art. Zu einer seiner wichtigsten Thesen gehört, dass sozialstaatliche Einrichtungen, die staatliche Fürsorge, und Vermögensumverteilung von jüdischem bzw. in den besetzten Gebieten konfisziertem Besitz in individuellen wie politischen Kontext die wesentlichen Instrumente für die Akzeptanz des Nationalsozialismus in der deutschen Bevölkerung darstellten.
 
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