Was lernen wir aus Geschichte?

Und was kann man nun aus diesem Pfad lernen? Viele Gedanken, keine Antwort. Kann man eine solche Frage überhaupt beantworten, und wenn nicht, liegt das an der Frage?

Hin und wieder kann man also lernen, meistens nicht, manchmal das Falsche, und das Wesentliche gar nicht.

ich frage mich, ob der Begriff "Lernen" nicht viel zu undeutlich ist? Wenn ich mich mit einer Geschichte befasse, erfahre ich etwas. Damit habe ich schon etwas gelernt. In einem weiteren Schritt kann ich vielleicht Schlüsse ziehen. In einigen Fällen kann ich Lehren daraus gewinnen. So gut wie nie werde ich eine Handlungsanweisung bekommen.
 
Das ist einfach nicht korrekt. In einem anderen Zusammenhang hatte ich auf JFK hingewiesen, der Tuchman (August 1914) gelesen hatte und ihm der Mechanismus der Eskalation im Juli 1914 im Zusammenhang mit der Kuba-Krise deutlich wurde.
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Paul Bracken – The Command and Control of Nuclear Forces – 1983; Seite 24:
„Kennedy was deeply troubled by Barbara Tuchman's description of the outbreak of Worl War I in 'The Guns of August'. Recalling a conversation in it between two German leaders on how that war started, he said: „If this planet is ever ravaged by nuclear war – if the survivors of that devastation than can endure the fire, poison, chaos and catastrophe - I do not want, one of these survivors to ask another und to receive the incredible reply: 'Ah, if only one knew.'“

„Kennedy war tief bewegt von Barbara Tuchmans Beschreibung des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs in 'August 1914'. Bezugnehmend auf eine Unterhaltung in diesem Buch, zwischen deutschen Befehlshabern, darüber wie der Krieg entstanden sei, sagte er: „Wenn dieser Planet je von einem Nuklearkrieg verheert wird - und wenn die Überlebenden solcher Verwüstung dann auch noch Feuer, Gift, Chaos und Zusammenbruch aushalten – dann will ich nicht, dass die Fragen dieser Überlebenden die unglaubliche Antwort kriegen. 'Oh, wenn man das nur wüßte.'“
(Übesetzung durch mich)

Bemerkenswert scheint mir in dem Zusammenhang die häufige Bezugnahme in der Zeit des KK auf den WWI ('nukleare Sarajevos' wie Bracken es nennt).
 
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Bemerkenswert scheint mir in dem Zusammenhang die häufige Bezugnahme in der Zeit des KK auf den WWI ('nukleare Sarajevos' wie Bracken es nennt).

Die Vorstellung eines sich aufgrund einer Eskalation kleinerer Ereignisse zwangsläufig ergebenden Nuklearkrieg ist ja auch beängstigender als ein Krieg, der geplant und gezielt begonnen wurde. Letzterer stützt ja sogar die Doktrin der nuklearen Abschreckung.

Proust beschrieb im Roman (dem Roman) übrigens ein Gespräch mit einem Offizier, der einen Krieg kategorisch ausschloss. Aufgrund der neuen Technologien müsse ein Krieg derart blutig verlaufen, dass niemand mehr wagen würde einen zu beginnen. Das spielt vor WW1, und dürfte im Verlauf oder kurz danach geschrieben worden sein.
 
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Gut finde ich hier immer, wir lassen die aktuelle Tagespolitik heraus.]

Ich diskutiere auch nicht aktuelle Politik, aber es bedarf der historischen Aufklärung, welche historischen Traditionsbestände in die aktuelle Politik in den USA und auch in Europa bzw. Deutschland hineinragen.

Das ist m.E. eine genuine Aufgabe eines jeden "Historikers" der sich mit neuerer Geschichte beschäftigt und der als Staatsbürger die Verantwortung ernst nimmt, ein Wiederauflage des Faschismus mit verhindern zu wollen.

Und es gibt ja immer wieder gerne die Frage, auch in diesem Forum, was lernen wir aus der Geschichte. Und das heißt konkret, wir beziehen Geschichte auf aktuelle Ereignisse und fragen uns, ob wir daraus Lehren für unser aktuelles Handeln ziehen können. Und genau diese Antwort auf die aktuelle Politik kann die Geschichte geben.

Es stellt sich zudem das Problem, wenn die Geschichte plötzlich wieder in die aktuelle Zeitgeschichte hineinragt wie man sie aus der aktuellen Betrachtung ausschließen kann ohne zu absurden Analysen zu kommen. Wenn analytisch wieder von Neo-Faschismus gesprochen wird, um die Ereignisse beispielsweise in den USA analytisch zu fassen, wie es jüngst Winkler indirekt getan hat. Dann ist die Trennung zwischen historischen Traditionsbeständen und aktuellen Ideologien schwer zu fassen.

Wenn Konzepte wieder eine Rolle bei der "alternativ right" - Bewegung eine Rolle spielen, die ideologisch virulent im Faschismus und besonders im Nationalsozialismus gewesen sind. Und der "Antisemitismus" und andere Formen von Rassismus wieder zum integralen Bestandteil der Ideologie eines Staates werden und der staatliche Machtapparat wieder eingesetzt wird, diese Ideologie zu exekutieren.

https://de.wikipedia.org/wiki/Alt-Right-Bewegung

Wer erklärt dann eigentlich, was an Ideologien aktuell aus dem ideologischen Repertoir eines menschenverachtenden, Hitlers von einem Spencer oder Bannon aktuell wieder neu auf die politische Agenda gesetzt wird.

Es sind also Kenntnisse der Ideologie des Faschismus / Nationalsozialismus notwendig und die Kenntnis der Ideologie von Alt-Conservative, um die ideologische Kontinuität zu analysieren. Und da ist der Historiker gefragt. Auch um Aufklärung zu leisten.

Und dann darf ich eine Meinung dazu haben, zu welchen Konsequenzen diese neo-faschistische Revolution in den USA führt und welche Konsequenzen es für die Demokratie in Amerika hat bzw. haben könnte.

Aber genau diese instrumentelle Seite der Politik, die Frage der konkrete Machtergreifung durch Trump, diskutiere ich ja nicht, sondern ich beziehe mich auf die Kontinuität und die vielfältigen Wurzeln einer neo-faschistischen Ideologie in den USA.

Soweit als Erklärung, warum ich keine aktuelle Politik diskutiere.
 
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War nicht böse oder provokatorisch gemeint.
Hatte nur ein paar Bedenken.
Weil, der nächste kommt dann auf die Idee, als Mitgliederbild das Titelbild der neusten Ausgabe von "Charlie Hebdo" zu nehmen.
 
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Weil, der nächste kommt dann auf die Idee, als Mitgliederbild das Titelbild der neusten Ausgabe von "Charlie Hebdo" zu nehmen.

Wo ist das Problem. Bei "Jesuis Charlie", das als Mitgliedsbild verwendet wurde, hatte doch auch niemand einen Einwand? Irgendwie kann man es dem Forum nie recht machen. Wenn man die Ergebnisse von Historikern textnah referiert, heißt es - und dafür bin ich mehrfach mit rot besternt worden - ich hätte keine eigene Meinung. Wenn ich eine Meinung äußere zur Gefährdung der Demokratie heißt es, wieso hast Du eine Meinung dazu.

Ich werde es somit so halten wie ich es für richtig halte und ansonsten mich durch die Moderation korrigieren lassen. Was auch kein Problem ist, da die Moderation verantwortungsvoll agiert.

Ansonsten zum eigentlichen Thema, aus Geschichte lernen.

Lernen aus Geschichte? Oder präziser, wenn der Niedergang der Weimarer Republik die Matrix war, vor deren Hintergrund die Bundesrepublik und ihr Grundgesetz konzipiert wurde, was haben dann die politischen Akteure gelernt?(kritisch dazu Wirsching vgl. Link)

Gehen wir von zwei zentralen politischen Akteuren aus, die damals und heute in einer gewissen historischen Kontinuität noch vorhanden sind, dann stellt sich die Frage für diese drei Akteure.

1. Die extreme Rechte (NSDAP), die mit ihrer völkischen Revolution das politische System von Weimar abschaffen wollte. Und heute in einer gewissen Kontinuität in einer Reihe von Parteigruppierungen fortlebt, wobei die NPD die "prominenteste" ist
2. Die extreme Linke (KPD), die im Zuge einer sozialistischen Revolution das politische System der Weimarer Republik abschaffen wollte. Und auch sie als SED bzw. als DKP in den zwei deutschen Staaten fortbestand und in einer Vielzahl von linken Splittergruppen.

Stellt sich als erstes die Frage, welche „Lernfelder“ für diese Akteure relevant waren und wie drückte sich das in den zwanziger und dreißiger Jahren in der Weimarer Republik aus und wie wurde das für die Bundesrepublik, teilweise auch für die DDR und dann für das vereinte Deutschland bis ca. 2000 adaptiert. Und die Lernarenen können für Rechts und Links ähnlich analytisch strukturiert werden.

Rechts: NSDAP
- Radikale systemüberwindende Programmatik
- Kooperationsfähigkeit mit anderen rechten Parteien
- Radikalität gegenüber dem politischen Feind, beispielsweise von Links
Links: KPD
- Radikale systemüberwindende Programmatik
- Kooperationsfähigkeit mit anderen linken Parteien, wie beispielsweise der SPD
- Radikalität gegenüber dem politischen Feind, beispielsweise von Links oder von Rechts

Betrachtet man zunächst die „radikale, systemüberwindende Programmatik“, dann kann man dieses für die NSDAP und für die KPD für die Phase vor 1933 eindeutig bejahen. Die Phase in der Bundesrepublik ist zunächst auf der Ebene der NPD bzw. der DKP und anderer dogmatischer oder undogmatischer Splitterparteien, auch Teile der APO, durch eine systemüberwindende Perspektive gekennzeichnet.

Mit der Vereinigung und dem offensichtlichen massiven Glaubwürdigkeitsverlust der SED veränderte sich die Programmatik und die linke Programmatik orientierte sich zunehmend – als Lernprozess – am westlichen undogmatischen neo-Marxismus. Mit der Konsequenz der Aufgabe einer systemüberwindenden Politikoption.

An diesem Punkt unterscheidet sich die „Neue Rechte“ relativ deutlich. In dem Maße wie die sozialistische Linke zu einer staatstragenden Partei mit einer deutlichen Bejahung eines Verfassungspatriotismus wurde, wie auf der Ebene zentraler Akteure – Lafontaine oder Gysi – unschwer zu erkennen, radikalisierte sie sich.

In diesem Sinne formuliert und formulierte die „Neue Rechte“ das Selbstbild einer revolutionären Bewegung, die auf die Abschaffung des demokratisch legitimierten Rechtsstaats abzielt.

Gelernt haben sicherlich beide politischen Flügel in Bezug auf ihre Programmatik und die Durchsetzung ihrer politischen Vorstellungen aus der Vergangenheit. Während die sozialistische Linke das Gewinnen parlamentarischer Mehrheiten als zentrales Anliegen für die Politikgestaltung akzeptiert hat, weist der Lernprozess auf der Rechten in Richtung auf eine Stabilisierung der historischen Erfahrung von 1933. Die Eroberung der Macht auf legalem Weg, um die politischen Strukturen Deutschlands zu zerstören ist, wie 1933, weiterhin auf der Agenda.

Die „Kooperationsfähigkeit mit anderen Parteien“ lief vor 1933 auf eine wechselseitige Instrumentalisierung auf der Rechten hinaus. Man koalierte, um den „Koalitionspartner“ bei der erst besten Gelegenheit politisch zu marginalisieren. So zumindest die wechselseitige Sicht der monarchisch deutsch-nationalen im Gegensatz zu den völkischen Nationalsozialisten. Auf diese temporäre Partnerschaft konnte sich die KPD nicht einlassen, da die Direktiven aus Moskau durch die „Comintern“ andere waren. Somit erklärt die radikale Programmatik der KPD in Kombination mit einem Politikstil der operativen Selbstblockade die Unfähigkeit, auf den Linken eine effektive Opposition gegen die Machtergreifung zu betreiben.

Diese Sicht änderte sich nach 1945 und die SED war frühzeitig bestrebt in der SBZ die Zusammenarbeit im Sinne einer „Volksfrontpolitik“ mit der SPD zu suchen. Es waren natürlich auch hegemoniale, machtpolitische Ambitionen mit im Spiel.

In der Bundesrepublik gab nach 1950 immer eine relativ klare Abgrenzung der SPD gegenüber anderen linken Parteien und es stelte sich nicht die Frage der Kooperation. Die Bereitschaft auf der Linken zu gemeinsamen Bündnissen nahm deutlich zu nach der Vereinigung und der undogmatischen programmatischen Neuausrichtung der SED-Nachfolgepartei.

Auf der Rechten war die gegenseitige Bündnisfähigkeit nach der Wende tendenziell eher ein Problem. Es bedurfte einer „konservativen Neuausrichtung“ der Bonner Republik unter Kohl, damit das politische Spektrum so weit nach Rechts verschoben werden konnte, dass es Anknüpfungspunkte zwischen „Wertkonservativen“ aus dem Mitte-Rechts-Spektrum und der extremen Rechten überhaupt geben konnte. Und es bedurfte einer liberal-konservativen Parteiorganisation, wie der AfD, die als trojanisches Pferd agierte, um eine Sammlungsbewegung rechtsaußen anzustoßen und teilweise politisch als neue rechtsextreme Kraft zu etablieren.

Es ist jedoch vor allem auf der Rechten nicht zu erkennen, ob die gegenseitige Funktionalisierung der gemäßigteren und der extremeren Kräfte das zentrale Motiv für die Zusammenarbeit ist oder ein anderes. Der Lernprozess deutet, so meine These, darauf hin, dass erneut die extreme Rechte die gemäßigteren konservativen politischen Kräfte benutzt, um ihre radikaleren Ziele durchzusetzen.

Und an diesem Punkt scheint der Lernprozess bei den gemäßigteren Wertkonservativen noch nicht eingesetzt zu haben und sie haben noch nicht erkannt, dass sie wie 1933 wieder der Steigbügelhalter von deutlich radikaleren Kräften sind.

Im dritten Lernfeld, der Radikalität gegenüber dem politischen Feind, hat sich vor allem nach 1945 zunächst die stalinistische Linke in der DDR – als SED organisiert – in der Kontinuität radikaler Konzepte aus der Weimarer Republik bewegt. Die erzwungene Revision einer post-stalinistischen Praxis der Herrschaft hat nach 1990 in der SED-Nachfolgeorganisation zu einer Neubestimmung geführt, die staatliche Repression ablehnt.

Geht die Linke von einem Modell eines starken Sozial-Staates aus und sieht dort den Ausbau der staatlichen Funktionen, unterscheidet sich die extreme Rechte durch ein ideologisches Konzept von Staat, das das repressive und militärische Element von Staat nach wie vor betont.

Auch im dritten Bereich sind auf der Rechten Lernprozesse zu erkennen, die jedoch auf eine Adaption von Ideologieelementen abzielt, die aus dem Umfeld faschistischer Traditionsbestände entlehnt sind. Und teilweise „sprachlich“ modernisiert worden sind, aber im Kern den nationalistischen und völkischen Anspruch der NS-Ideologie transportieren. In der Summe ein „kultureller Rassismus“ ohne biologische Rassen. Also die angebliche kulturelle und soziale "Identität" als Fiktion zum zentralen Bindeglied der gedachten Volksgemeinschaft erhebt.

Es war das Anliegen, thesenhaft die groben Entwicklungslinien zu zeigen, welche Traditionsbestände in die Jetztzeit plötzlich wieder „reinragen“. In Bezug auf die USA wurde für 1917 formuliert, dass sich die Mehrheit nicht für den Krieg in Europa interessiert hatte. Und dabei übersehen haben, dass sich der Krieg für die USA interessierte.

Diese Metapher trifft vermutlich auch für die aktuelle Situation in den USA und Europa zu. Die faschistische Vergangenheit fängt an, sich wieder für die Jetztzeit zu interessieren und es werden Konzepte aus der faschistischen Phase wieder als des „Kaiser`s neue Kleider“ aufgeführt. Und es wird spannend sein zu sehen, wie schnell die Entzauberung dieser neo-faschistischen Scharlatane stattfinden wird.

Und vielleicht ist der „Demos“ doch in seiner „Schwarmintelligenz“ klüger und hat aus der Vergangenheit gelernt, sich nicht für dumm verkaufen zu lassen und sich nicht bereitwillig als „Schlachtvieh“ auf die neuen Schlachtfeldern des 21. Jahrhundert von neuen „Führern“ führen zu lassen.

Zumindest könnte niemand mehr wie 1945 sagen, er hätte es nicht gewußt. Jeder konnte aus der Vergangenheit die richtigen Schlußfolgerungen ziehen und sich über die Parallelen zu heute informieren.

Deswegen kann man aus der Geschichte lernen!


Vom "Lehrstück Weimar" zum Lehrstück Holocaust? | bpb
 
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...aus der Vergangenheit die richtigen Schlußfolgerungen ziehen und sich über die Parallelen zu heute informieren.

Deswegen kann man aus der Geschichte lernen!

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Und muss es auch, um nicht mehrmals in eine ähnliche Falle zu tappen. Dies besonders vor dem Hintergrund stets steigender Möglichkeiten.

Ich bezweifle auch ob es ein Sinn machen kann, Geschichte zu ergründen zu wollen, ohne einen gegenwärtigen Bezug,
der ja ohnehin aus ihr selbst heraus gegeben ist indem wir ihre Kinder sind.

Hier an anderer Stelle wurde diskutiert, ob sich Geschichte mit Zukunft befasse.
Mit was denn sonst, wenn man Geschichte nicht als, mehr oder weniger nette, müßige Abendbeschäftigung betreibt?
Etwa vielleicht so wie ein Briefmarkensammler, der nur sein eitles Album mit seltenen Exemplaren bestücken will?
Ich hielte das für verschwendete Lebenszeit.

Gerade in Zeiten von Umbrüchen, in Zeiten also in denen sich Geschichte in besonderer Weise gebiert, erweist sich Geschichtsverständnis als grundlegend.
Und daher lohnt da unverzichtbar auch der vergleichende Blick zurück.
Timothy Snyder über Donald Trump - Politik - Süddeutsche.de
Adolf Hitler: "Ruhig abwarten!" |*ZEIT ONLINE

Aus Geschichte zu lernen ist zwar stets auch Bestandteil der Geschichte, wie am Beispiel Kennedy zu sehen, der in einem kritischen Moment wesentlich durch seine Kenntnisse der Geschichte des Ersten Weltkriegs (vermittelt durch Barbara Tuchman) beeinflusst war, um das Schlimmste zu vermeiden.
Aber es bleibt eine gemeinsame Daueraufgabe von der mittlerweilen nicht mehr nur das Wohl und Wehe einzelner Gruppen abhängt, sondern das der gesamten Menschheit auf einem klein gewordenen Planeten.
 
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Es wäre sicher mal interessant herauszufinden, ob die unter dem Prädikat "Zukunftsforscher" Arbeitenden (ja, so was gibt es) bessere Prognosen liefern als dedizierte Historiker :pfeif:
 
Es wäre sicher mal interessant herauszufinden, ob die unter dem Prädikat "Zukunftsforscher" Arbeitenden (ja, so was gibt es) bessere Prognosen liefern als dedizierte Historiker

Dann greifen wir den Vorschlag auf und befragen retrospektiv die Prognosen von „Zukunftsforschern“. Und als Zukunftsforscher akzeptieren wir diejenigen, die aus unterschiedlichen Gründen eine Prognose über die Zukunft machen. Und bewerten auch ihre Prognosen, da wird – im Gegensatz zu ihnen – die weitere Entwicklung kennen, um „valide“ und gute Zukunftsprognosen von „invaliden“ und schlechten zu unterscheiden.

Vielleicht auch, um für die Zukunft Scharlatane leichter erkennen zu können, weil die auch gerne über „Zukunft“ reden.

Relevant erscheint zunächst die Trennung von zwei Arten von „Zukunftsforschern“, da das Erkenntnisinteresse gravierend unterschiedlich ist. Im ersten Fall geht es um eine kritische Bestandaufnahme und im humanistischen Sinne um die Verhinderung einer drohenden Katastrophe.

Bei der zweiten Gruppe, die eher aus machtpolitischen Überlegungen heraus sich mit der Zukunft beschäftigt, geht es eher darum, eine plausible „self fulfilling prophecy“ zu formulieren und die Anhänger auf diese intendierte Zukunft einzuschwören. In der Hoffnung, dass sie auch dann so wie intendiert als Zukunft eintritt.

Kommen wir zur ersten Gruppe, die nicht selten im Kontext bzw. in der Tradition der Aufklärung agierten. Die Theoretiker, die aufgrund von einer möglichst objektiven Analyse , also anhand einer wissenschaftlichen Methodik, eine kritische Sicht auf die Zukunft vornehmen und so eine Prognose über eine mögliche Zukunft stellen. In diesem Fall folgt das Ergebnis aus der Analyse.

Die zweite Gruppe entwirft Zukunftsbilder, die in das Gerüst einer normativen Wertvorstellung gepresst werden. Diese Vorstellungen einer gelenkten Zukunft treten nicht selten im Kontext autoritärer Herrschaftsstrukturen von Monarchien oder totalitärer Staaten auf.

Die extremsten Beispiele dieser geplanten Zukunft sind zum einen der völkische Nationalsozialismus und die stalinistische Variante des Marxismus-Leninismus. In diesem Fall orientiert sich die Analyse an dem vorher feststehenden Ziel und hat dieses zu legitimieren. In diesem Fall wird die wissenschaftliche Analyse auf die Stufe einer legitimationsbeschaffenden Sozialtechnologie degradiert.

Wenden wir uns primär der ersten Gruppe zu und fragen uns, welche Prognosen sie vor 1914 angeboten haben, um die Urkatastrophe des WW1 zu verhindern.

Generell kann man festhalten, dass vor 1914 eine polarisierte Sicht auf die politische Entwicklung vorhanden war. Auf der einen Seite, so auch beispielsweise Wette (2016, S. 93ff) war der Militarismus und Imperialismus ein Kennzeichen der Zeit. Aber es waren auch sehr deutliche Strömungen vorhanden, die den Pazifismus progagierten. Die Analysen der damaligen Zeit über den zukünftigen Krieg standen unter dem dynamischen Eindruck des technischen Fortschritts und der rasanten Entwicklung des Handels auch und gerade unter den rivalisierenden imperialistischen Mächten.

Vor diesem Hintergrund erschien die Analyse von Angell und von Bloch, gerade auch im Sinne von Clausewitz, dem Krieg die Legitimation zu entziehen, die Fortsetzung einer rationalen Politik zu sein (vgl. auch Eisenbeiß). Die sehr umfangreichen und stark empirisch argumentierenden Analysen sowohl von Angell und von Bloch (ca. 3000 Seiten) zeichneten ein Szenario eines zukünftigen Krieges auf, das ähnliche Formen der Finalisierung der Zivilisation thematisierte, wie wesentlich später die Folgen eines A-Waffen Krieges beschrieben worden sind.

Der Krieg wurde von diesen "Futurologen" als nicht mehr führbar beschrieben, weil die gegenseitige Abhängigkeit der Nationen einen so hohen Grad erreicht hatte, dass ein Krieg und die Zerstörung dieser Errungenschaft und des damit zusammenhängenden Wohlstands nur als Tat von Wahnsinnigen zu begreifen gewesen wäre. Und so wurden die Regierungen - im klinischen Sinne - durchaus nicht eingeschätzt, gerade auch wegen der langen Periode des Friedesn vor 1914.

Und diese Analysen zeigten Wirkungen, wie beispielsweise auch in den USA und verstärkten die pazifistischen anti-bellizistischen Tendenzen in Teilen der US-Gesellschaft wie beispielsweise bei David Starr Jordan erkennbar.

Es lagen somit vor Beginn des WW1 seriöse und akzeptierte Prognosen über einen verheerenden zukünftigen Krieg vor, die dann ähnlich eingetreten sind.

Auch durch das Wirken dieser relativ unabhängigen Zukunftsforscher war man sich auf den unterschiedlichen Flügeln des politischen Spektrums im Kaiserreich durchaus bewußt, welche Zukunft eines Krieges wahrscheinlich sein würde.

In diesem Sinne äußerten sich Bebel (9.11. 1911) für die Sozialdemokratie sehr kritisch zu den verheerenden Konsequenzen eines europäischen Krieges vor dem Reichstag. Und deutlich vor ihm hatte Helmut v. Moltke am 14. 5. 1890 (sic !!!!) eine Rede vor dem Reichstag gehalten, in dem er die verheerenden Auswirkungen eines Krieges in Europa warnend in den Reichstag projizierte. Und zumindest hatte Schlieffen diese Warnung verstanden, da er den Krieg nur dann wieder führbar machen konnte oder wollte, wenn es ein „kurzer“ Krieg hätte sein können. Weil ein längerer Krieg auch aus seiner Sicht – politisch, gesellschaftliche und ökonomisch - nicht führbar gewesen wäre.

Und in dieser skeptischen Futurologie eines zukünftigen Krieges kreiste auch das Denken von Helmut v. Moltke d.J., der bereits 1904 (sic !!) diese skeptischen Szenarien eines Zukunftskrieges seinem Monarchen vorgetragen hatte.

Allerdings hat diese skeptische Futurologie des Zukunftskrieges auf der Ebene der politischen und militärischen Eliten im Deutschen Reich, aber auch im zaristischen Russland und im kaiserlichen Österreich – Ungarn einer pragmatischen dynastischen Herrschaftssicherung weichen mußte. Man hat im eklatanten Gegensatz zu Clausewitz einen Krieg begonnen, der eigentlich im Sinne der militärischen Denktradition von „Worse Case Annahmen“ nicht hätte begonnen werden dürfen. Und das Worse Case waren die skeptischen Sichten auf die Futurologie des Zukunftskrieges.

Und es zeigt sich bei Angell und Bloch, dass eine relativ unabhängige Sicht, die bessere und menschlichere Perspektive aufgezeigt haben. Ihre Form der Futurologie war die richtige Warnung an die Völker.

Ihre Warnungen hätten vor dem Hintergrund unterstellter demokratischer Gesellschaften mit einer - unterstellten - funktionierenden Öffentlichkeit, den Ausbruch des Krieges eher verhindern können. Und es wird deutlich, dass Futurologie nur dann wirksam sein kann, wenn überhaupt wenn man die Diskussion über den Klimawandel betrachtet, wenn der Dialog zwischen Wissenschaft und Politik auf einen Diskurs hinausläuft. Und die Politik nicht beratungsresistent ist.

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Deutscher Pazifist und 1. Friedensnobelpreisträger und Mitbegründer der DFG (Deutsche Friedens Gesellschaft)
https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Hermann_Fried

Zaristischer „Friedensforscher“ Johann von Boch
https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_von_Bloch
Die letzte Chance |*ZEIT ONLINE

Britischer Friedensforscher Norman Angell
https://de.wikipedia.org/wiki/Norman_Angell

Friedensaktivist und Präsident der Stanford University / USA David Starr Jordan
https://de.wikipedia.org/wiki/David_Starr_Jordan

Angel, Norman (2013): Great Illusion - A Study of the Relation of Military Power To National Advantage: Read Books Ltd.
Bloch, Johann von (1899): Der zukünftige Krieg in seiner technischen, volkswirtschaftlichen und politischen Bedeutung. 6 Bände. Berlin: Puttkammer & Mühlbrecht.
Eisenbeiß, Wilfriede (1990): Einsichten vor der Zeit: Der seit 1900 sinnlose Krieg. Über die Schriften der Kriegskritiker Johan v. Bloch und Norman Angell. Informationen und Texte für den Geschichtsunterricht. In: Reiner Steinweg (Hg.): Lehren aus der Geschichte? Historische Friedensforschung. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Friedensanalysen, 23), S. 369–402.
Wette, Wolfram (2016): Ernstfall Frieden. Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914. Bremen: Donat
 
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Ich bezweifle auch ob es ein Sinn machen kann, Geschichte zu ergründen zu wollen, ohne einen gegenwärtigen Bezug, der ja ohnehin aus ihr selbst heraus gegeben ist indem wir ihre Kinder sind.

Richtig! Und deswegen noch ein paar weitere Aspekte.

Aus Geschichte lernen alle. Der normale Bürger, der Rechtsextreme, ein Politiker, der Historiker oder eine Vertreter der historischen Soziologie.

Teilweise beziehen sie sich auch auf die gleichen Ereignisse, bei denen Neonazis an den Kampf um die Normandie im Jahr 1944, so Langebach und Sturm, einzelnen heroisierte Soldaten der Wehrmacht gedenken, während die offiziellen Vertreter der ursprünglichen Kriegsparteien allen Opfern der Invasion gedenken.

Und aus diesen unterschiedlichen Erinnerungskulturen auch der Zwang resultiert, die eigene Sicht auf die Geschichte als die richtige durchzusetzen.

Es ist also die gesellschaftliche Einordnung und die Bewertung von historischen Ereignissen, die die Art der kollektiven Erinnerung und auch das Vergessen definiert. Und das wirft die Frage auf, ob und wie es möglich ist, historischen Ereignisse neutral und objektiv zu rekonstruieren und an welchen Kriterien das zu überprüfen ist.

Ein richtiges und nicht verklärendes Andenken an historische Ereignisse kann nur gelingen, sofern wir weiterhin die Forderung stellen, dass Geschichtsschreibung dem Imperativ einer wissenschaftlichen Objektivität unterliegt (vgl. z.B. Novick zur ausführlichen Diskussion in den USA) Trotz allem Gerede über einen angeblichen "postfaktischen" Trend. Eine Objektivität, die sich Vorstellungen verbunden fühlt, die in den Kanon des europäischen Wertesystems gehören und dennoch nicht gleichbedeutend sind mit einer Parteinahme für irgendeine Gruppierung. Und die sich in Opposition zu dem Werterelativismus von „Deconstruktivisten“ befindet, der kein "Wahrheitskriterium" jenseits der individuellen Meinung mehr zulassen kann (Derrida etc.) sieht (vgl. die Kritik dazu in Evans, Kap 8, Pos. 4217ff)

Und gleichzeitig sich im Rahmen des eigenen wissenschaftlichen Werturteils rückversichert, bewußt oder unbewußt keine Apologie zu betreiben und so keine historischen Rechtfertigungen für staatliches Handeln bereit zu stellen.

https://de.wikipedia.org/wiki/Werturteilsstreit

Und es für den Kontext einer an „Wahrheit“ orientierten Historiographie relevant, dass ein Wertkonservativer wie McCain (ex republikanischer Präsidentschaftskandidat), die Unabhängigkeit der Medien und somit von Berichterstattung (darunter fällt im weitesten Sinne natürlich auch „Sozial-Wissenschaft“) als zentrale Voraussetzung für das Funktionieren der Demokratie bezeichnet, und Washington Post schreibt: „In the “Meet the Press” interview, McCain told Todd that a free press was central to a functional democracy, even if news organizations' stories challenged those being held accountable.“

Das Problem ist jedoch, dass es anders als im Bereich der Naturwissenschaften keine „Objekte“ an sich gibt, sondern sie müssen sprachlich als Konstrukte definiert werden, damit wir überhaupt in der Lage sind, Geschichte zu denken und sie analytisch zu fixieren. Historische Konstrukte werden mit Bedeutungen aufgeladen und sie werden auch im Rahmen des individuellen Werturteils mit einer positiven oder negativen Bedeutung versehen.

Und der Streit, auch der „Historikerstreit“, drehte sich um Konstrukte, die geschichtliche Ereignisse beschreiben und ihre Bewertung. Und somit auch die Frage der „Singularität“ des Holocaust betroffen haben. Es geht dabei nicht nur um die Frage, ob eine historische Beschreibung durch historische Dokumente belegt werden kann, sondern es geht auch um die Frage, mit welchen Konstrukten sie angemessen beschrieben werden und somit in die Kontinuität und Brüche der Geschichte eines Staates eingebunden.

In diesem Kontext setzt sich beispielsweise Wehler mit der Darstellung von H. Köhler`s „Jahrhundertgeschichte“ auseinander, der bestimmte Begriffe als „marxistisch eingefärbt“ kritisiert, die allerdings bereits bei bedeutenden Wissenschaftlern vor Köhler, wie bei Schmoller, Mommsen, Weber, Sombart oder Preuss eingeführt waren. Und Wehler stellt zu Recht die Frage, ob mit dieser Kritik von Köhler an Konstrukten ein revisionistisches – präziser formuliert – ein extrem konservatives Weltbild in Abgrenzung zu der bisherigen wissenschaftlichen Terminologie transportiert werden soll. (Wehler, S. 157)

Von einer anderen Sicht spricht sich Nipperdey für eine unvoreingenommene Verwendung von Konstrukten aus, sofern sie helfen, historische Ereignisse analytisch angemessen zu beschreiben, wie beispielsweise der Begriff des „Imperialismus. Und schlussfolgert in diesem Sinne, dass man durchaus mit Konstrukten sinnvoll arbeiten kann als Historiker, die in ihrem Entstehungszusammenhang einen marxistischen Hintergrund gehabt haben. Und das ihre Verwendung nicht zwangsläufig bedeutet, dass man „Marxist“ sei muss(Nipperdey, Kap 3, Pos. 1122) Und damit weist Nipperdey auf die Möglichkeit einer Selbstzensur hin, die Wehler wiederum empirisch zutreffend an einem Beispiel benennt, als er verwundert feststellte, dass es analytisch für die Beschreibung der deutschen Gesellschaft keine "Unterschicht" mehr geben würde.

Relevanter erscheint zudem, dass Nipperdey an der Idee festhält, man würde einen kumulativen Wissensprozeß auch im Bereich der Historiographie haben. Und das bedeutet aber auch im Gegensatz zu beispielsweise Köhler, dass es nicht damit getan ist, eingeführte Konstrukte mit dem ideologischen Skalpell aus der Wissensbestand der Historiographie beliebig herausoperieren zu können. Ohne sich seinerseits dem Vorwurf der ideologischen Manipulation auszusetzen. (vgl. z.B. Nipperdey, Kap 3, Pos. 1154 )

Diese oben aufgeführten Konfliktlinien zwischen Wehler, Köhler und Nipperdey verweisen auf den Prozess einer permanente Neuerfindung und somit Revision von Geschichte. Und dieser Impuls kommt nicht selten aus einem Umfeld, das ein Interesse an einem "neuen" Narrativ hat und somit sind neue Deutungsmuster nach dem Erkenntnisinteresse kritisch zu hinterfragen. An diesem Punkt wird dann mehr als deutlich, wie stark die aktuelle Politik die retrospektive Geschichtsdeutung beeinflußt und von der eigentlichen Geschichtsschreibung nicht zu trennen ist.

Die Frage, welche Darstellung der Vergangenheit einer Gesellschaft angemessen ist, zeigt sich am Stellenwert der Historiographie im Rahmen der Erinnerungskultur, wie bei Assmann dargestellt. Es ist aber auch mit Koselleck kritisch anzumerken, dass „Historia docet“, also dass mit Geschichte alles belegt werden kann. „Oder anders gewendet: Man findet, was man sucht.“ (Koselleck, Pos. 2596).

Das wirft die Frage auf, unter welchen Umständen somit historische Erkenntnisse produziert werden. In Ahnlehnung an die Arbeiten von Halbwachs wird die sprachliche Vermittlung von sozialem Erinnern an vergangene Ereignisse zum Kristallisationspunkt für das kollektive Gedächtnis einer Gesellschaft. Dieses auch vor dem Hintergrund der Subjektivität von Erkenntnis und der sprachlichen Vermittlung im Rahmen eines Diskurses. Wie bei Habermas im Diskursmodell der Überprüfung des Wahrheitsgehalts von Theorien im Anschluss an den „Pragmatismus“ bei Peirce formuliert (vgl. dazu auch Appelt etc.)

https://de.wikipedia.org/wiki/Charles_Sanders_Peirce

https://de.wikipedia.org/wiki/Maurice_Halbwachs

Es sind somit vor allem die Rahmenbedingungen innerhalb einer Gesellschaft, die diesen Diskurs entweder uneingeschränkt zulassen oder aber ideologische Barrieren formulieren, die nicht übersprungen werden dürfen. Nur eine offene und demokratische Gesellschaft – inklusive einer weltweiten scientific community - ohne zensierende Eingriffe in die Produktion von Wissenschaft - ist in der Lage, kritische Ergebnisse hervorzubringen und zu diskutieren und damit die notwendige Qualitätskontrolle der Theorien sicher zu stellen, wie ausführlich bei Appleby, Hunt und Jacob in Bezug auf Demokratien dargestellt (vgl. ebd. Kap 8 The Future of History)

Exkurs: Und genau das ist der springende Punkt in der deutlichen Ablehnung einer auf „deutsche“ Publikationen reduzierte Historiographie. Nur die internationale Pluralität der Meinungen verhindert eine einseitige und apologetische Sicht auf Geschichte, auch auf deutsche Geschichte. Nicht zuletzt weil sich die Geschichtsschreibung dagegen wehren muss, Staatsbürgerlicher Unterricht zu sein wie ein Stürmer die Rolle der Historiographie gerne neu definiert hätte.

Und ein Beispiel für die Funktionsfähigkeit einer eigenständigen und kritischen Geschichtsschreibung liefert beispielsweise MacMillan die in dem Kapitel „Who owns the Past“, den Konflikt in 1959 zwischen dem Luftfahrministerium und der RAF und der unabhängigen und kritischen offiziellen Geschichtschreibung (durch J. Butler et al. ) auch zum Bomberkrieg anführt und die Unabhängigkeit der historischen Darstellung betont(ebd. Kap 3, , Pos. 478). In diesem Kontext antwortete ein Kabinettsmitglied dem Ministerium sehr eindeutig: „The histories were not meant to whitewash the recors. Rather, by dealing with difficult issues, they could help future governments learn from past mistakes.“ (ebd. Pos. 509. Eine bemerkenswerte Antwort, die der historischen Wahrheit sich verpflichtet fühlte und das Lernen aus der Geschichte, wenn es unangenehm sein sollte, hoch bewertete.

In diesem Sinne zitiert MacMillan Michael Howard zustimmend: „The proper role for historians is to challenge and even explode national myths. (ebd. Pos 478).

Und an diesem Punkt sollte man deutlich sagen, dass die BRD / Deutschland an vielen Punkten eine offene und selbstkritische Aufarbeitung ihrer Vergangenheit geleistet hat. Auch eingefordert durch eine rebellische akademische Jugend im Kontext der Apo.

Wenngleich auch Gegentendenzen vorhanden sind, die eine neue Sicht auf deutsche Geschichte in Anknüpfung an imperiale Traditionen vornehmen wollen und versuchen, die kritischen Traditionsbestände der deutschen Geschichtsschreibung durch einen neuen, nationalistischen Narrativ zu ersetzen.

Appleby, Joyce Oldham; Hunt, Lynn; Jacob, Margaret C. (1994): Telling the truth about history. New York: Norton.
Assmann, Aleida (2011): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik. München: C. H. Beck.
Assmann, Aleida (2013): Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. Originalausgabe. München: C.H. Beck
Evans, Richard J. (2001): In defence of history. Rev. ed. London: Granta Books.
Habermas, Jürgen; Thyen, Anke (2008): Erkenntnis und Interesse. Hamburg:
Halbwachs, Maurice (1985): Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Koselleck, Reinhart (2014): Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten. Berlin:
Langebach, Martin; Sturm, Michael (2015): Erinnerungsorte der extremen Rechten. Wiesbaden: Springer VS
MacMillan, Margaret (2010): The uses and abuses of history. London: Profile.
Nipperdey, Thomas (2013): Kann Geschichte objektiv sein? Historische Essays, München: Beck
Novick, Peter (1988): That noble dream. The "objectivity question" and the American historical profession. Cambridge [England]: Cambridge University Press
Wehler, Hans-Ulrich (2003): Konflikte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Essays. München: Beck
 
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Und die sich in Opposition zu dem Werterelativismus von „Deconstruktivisten“ befindet, der kein "Wahrheitskriterium" jenseits der individuellen Meinung mehr zulassen kann (Derrida etc.) sieht (vgl. die Kritik dazu in Evans, Kap 8, Pos. 4217ff)

Ein wesentliches Kennzeichnen des postmodernen Relativismus ist der ihm immanente ´performative Selbstwiderspruch´. Das besagt, dass relativistische Basisaussagen als performativer Akt im Widerspruch zu ihrem Inhalt stehen. Beispiele:

(1) Kognitiver Relativismus: "Es gibt keine absoluten Wahrheiten, vielmehr hat jeden Kultur ihre eigenen Wahrheiten", kurz: "Wahrheit ist relativ zu Kultur"

(2) Moralischer Relativismus: "Es gibt keine absolute verbindliche Moral, vielmehr hat jede Kultur eigene moralische Maßstäbe, die nicht anhand der Maßstäbe anderer Kulturen beurteilt werden können", kurz: "Moral ist relativ zu Kultur".

Dagegen ist einzuwenden:

Der kognitive Relativismus behauptet die Geltung von Wahrheit nur innerhalb des Rahmens einer bestimmten Kultur. Nun ist eine Aussage über das moralische System einer Kultur A durch einen Vertreter der Kultur B (Philosoph, Anthropologe u.ä.) nur sinnvoll unter der Voraussetzung, damit eine wahre Aussage zu machen, da der Geltungsanspruch auf Wahrheit wesentliches Element einer Aussage ist (Ausnahme Lüge, die diesen Anspruch fingiert). Damit tritt der aussagende Relativist in Widerspruch zum Ausgesagten, da die Behauptung, jede Kultur habe nur relative Maßstäbe, eine Wahrheitsaussage über jede Kultur ist. Der Aussagende setzt dabei voraus, dass er über ein absolutes Wissen über die Relativität aller kulturellen Wertsysteme besitzt, auch wenn er z.B. noch nie vom südamerikanischen Stamm der Guarani gehört hat und deren System gar nicht kennt, also gar nicht beurteilen kann, ob dieses System vielleicht eine Ausnahme von der behaupteten Regel ist (Prinzip des Fallibilismus: die Widerlegung einer Hypothese ist nie auszuschließen).

Der eigentliche Selbstwiderspruch besteht aber, wie schon gesagt, im Anspruch auf den absoluten Wahrheitswert der eigenen Aussage, deren Inhalt das genaue Gegenteil behauptet, nämlich dass wahre Aussagen kulturrelativ sind. Die Folge ist, dass eine wahrheitsrelativierende Aussage nur wahr ist im Rahmen einer bestimmten Kultur, andere Kulturen also nicht einschließt. Genau diesen Einschluss aber vollzieht der Relativist mit Aussagen wie "Alle Werte sind relativ (also limitiert) zu einer bestimmten Kultur".

Ein daraus folgendes Dilemma für postmoderne Relativisten ist ihr Standpunkt, dass keiner Kultur eine (evolutionär bedingte) Überlegenheit über eine andere zuerkannt werden kann, womit sie auf kulturphilosophische Tendenzen reagieren, welche die abendländisch/europäisch/westliche Kultur den vergangenen Kulturstufen sowie dem gegenwärtigen Rest der Welt als (in der Summe) überlegen ansehen. Typische Vertreter der evolutionären Position waren der Begründer der Anthropologie, Edward Tylor, und sein Fortführer James Frazer. Sie glaubten in der Vielfalt der Kulturen gemeinsame Muster zu erkennen (Universalien), welche auf eine grundsätzliche Einheit der Menschheit hindeuten, deren Vielfalt sich zufälligen Entwicklungen an verschiedenen Orten zu verschiedener Zeit verdankt. Dementsprechend könne jede Kultur, auch frühhistorische und gegenwärtige Wildbeuterkulturen, prinzipiell erforscht und verstanden werden, so als handele es sich nur um bestimmte Ausformungen einer allen Menschen gemeinsamen Grundmentalität. Die Relativisten behaupten dagegen, dass jede Kultur ihre Wert- und Glaubenssysteme unabhängig von anderen entwickelt hat und nicht unter Anwendung generalisierter ´universaler´ Muster analysiert und bewertet werden können. Im anthropologischen Bereich setzte die Gegenreaktion gegen den Universalismus Tylor´scher und Frazer´scher Prägung durch den Polen Bronislav Malinowski in der 1930ern ein und wurde E.E. Pritchard und gegenwärtig Clifford Geertz, Nurit Bird-David und vielen anderen fortgeführt.

Das relativistische Dilemma zeigt wie gesagt vor allem darin, dass aus Sicht der Relativisten keine Kultur einer anderen als überlegen zu gelten hat, dass dieser Standpunkt von seinen Vertretern aber als eine philosophische Errungenschaft gewertet wird, die anderen Positionen wie z.B. der evolutionären eines Tylor oder Frazer an Wahrheitsgehalt überlegen ist. In Bezug auf die Relativität von Wahrheitsaussagen ist das schon prekär genug, ist innerhalb des gleichen kulturellen Rahmens aber noch kein Widerspruch. Zu einem solchen wird die Selbstbewertung des Relativismus aber, wenn man bedenkt, dass just jene Kulturen, welche die Relativisten vor dem evolutionären Universalismus retten wollen, das kulturelle Relativitätsprinzip überhaupt nicht kennen, sondern ihre jeweiligen Systeme (insbesondere ihre Religionen) als absolut verbindlich ansehen. Aus Sicht der Relativisten müssten diese Kulturen also als philosophisch/moralisch/kognitiv unterlegen einzustufen sein, da ihnen das Prinzip der kulturellen Relativismus unbekannt ist.

Ein anderes Beispiel sind die Menschenrechte, die als universal definiert sind, also als überall auf diesem Planeten gültig, somit auch auf Territorien, wo sie juristisch nicht anerkannt sind. Es wäre ja unsinnig, wenn Menschenrechte nur bis an die territorialen Grenzen eines Staates oder eines Stammes gelten und dahinter durch die Geltung davon abweichender Moralprinzipien außer Kraft gesetzt würde, vielmehr haben sie Geltung überall, wo es Menschen gibt. Seltsamerweise sehen es die Relativisten anders, wenn sie behaupten, dass jede Kultur ein Recht auf eigene Wertsysteme hat, die an den Kriterien westlicher Moral nicht gemessen werden dürfen. Gleichzeitig würde sich jeder Relativist natürlich beeilen zu versichern, dass er/sie voll hinter dem Ideal der Menschenrechte steht.

Was Derrida betrifft, hat man ihm zu Recht verworfen, dass aus seinem System keine Ethik ableitbar wäre. Dieser Mangel hat ihn aber nicht davon abgehalten, sich gelegentlich menschenrechtlich zu engagieren.
 
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Aus Geschichte lernen. Und wie Theorien über Geschichte die Weltbilder mancher Politiker beeinflussen.

Ich sehe das umgekehrt: Das Weltbild beeinflusst die Geschichtstheorie. Vorab: Einen Weltbild-losen Standpunkt gibt es nicht. Auch wer behauptet, keines zu haben und stattdessen die Dinge ´objektiv´ zu sehen statt durch die ´Brille´ eines ´subjektiven´ Weltbildes, hat ein Weltbild, er/sie weiß es nur nicht oder gibt es nicht zu.

Es kann in diesem Forum natürlich nicht darum gehen, Bannons Weltbild zu diskutieren, sondern das Prinzip der von ihm vorgebrachten Geschichtstheorie. Nun ist diese aber, wie gesagt, von Bannons Weltbild abhängig. Es reicht hier, dessen Gravitationszentrum herauszustellen: das Ideal eines starken Amerika. Diesem Ideal ist alles andere unterzuordnen.

Der Begriff ´Amerika´ hat dabei die Funktion eines Herrensignifikanten, der ein Ausdruck aus der Lacan´schen Psychoanalyse ist. Ein Signifikant ist in dieser von Saussures Linguistik beeinflussten Theorie ein Zeichen, das mit einem Signifikat (Bedeutung) verknüpft ist, wobei dieses Signifikat ´fließt´, d.h. keine klaren Konturen aufweist. Zum temporären Stillstand des Fließens des Signifikats und der Festigung seiner Konturen kommt es durch den Herrensignifikanten, dessen Funktion also darin besteht, einen Diskurs (eine Kette von Signifikanten mit fließenden Signifikaten) auf ein Zentrum, den Herrensignifikanten, hin zu ordnen. Ohne einen solchen Signifikanten wäre ein Diskurs sinnlos, da der Sinn (Signifikat) seiner Inhalte uneindeutig-fließend wäre. Im Falle der Bannon´schen Theorie bedeutet das, dass die diversen von ihm aufgeführten gesellschaftlichen Entwicklungen (z.B. die Revolutionäre der 60er, die Yuppies der 80er und 90er usw.) nur unter Voraussetzung des Amerika-Signifikanten jene historisch degenerative Dynamik repräsentieren, die Bannon ihnen beimisst.

Unter der Voraussetzung anderer Herrensignifikanten stehen diese Entwicklungen in völlig anderem Licht. So könnte man die 60er unter den Herrensignifikanten der geistigen und sexuellen Befreiung in Opposition zum damit überwundenen reaktionär-patriotischen Amerika der 50er stellen, und den Yuppie-Boom der 80er und 90er unter den Herrensignifikanten des patriotisch indifferenten Individualismus und Hedonismus, welcher die amerikanische und damit verbundene internationale Finanzwirtschaft allerdings in Untiefen geführt hat, die jeder, nicht nur Bannon, beklagt.

Wie auch immer: Der Herrensignifikant ´Amerika´ (als starke Nation) dominiert den Bannon´schen Diskurs und organisiert das Material seines Geschichtsbildes.

Weitere Beispiele für Herrensignifikanten sind ´Gott´ in den abrahamitischen Religionen und ´Demokratie´ im westlichen Kapitalismus. Es besteht immer die Möglichkeit, dass ein Herrensignifikant mit seinem Anspruch auf unbedingte Geltung nur Deckmantelfunktion für dahinter stehende partikulare Interessen hat. So argwöhnen Religionskritiker, die abrahamitische Gottesidee diene einzig den Interessen einer sie propagierenden Elite, und Kapitalismuskritiker, auf Marx zurückgehend, das demokratische Ideal verschleiere nur die Interessen des Kapitals.

Inwieweit eine Verschleierungsfunktion des Herrensignifikanten ´Amerika´ im Diskurs von Bannon gegeben ist, will ich jetzt nicht beurteilen, ist hier aber auch irrelevant. Ich möchte nur auf die Relativität von Geschichtstheorien, d.h. auf deren Ausrichtung an einem weltanschaulichen Ideal, aufmerksam machen. Etwas anderes sind solche Ideale selbst, die nicht notwendig relativ sein müssen (siehe mein Beitag zum Kulturrelativismus).
 
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Vielleicht haben wir etwas unterschiedliches gelesen oder sehen unterschiedliche Dimensionen der Analyse als unterschiedlich relevant an.

Der Link zu dem Beitrag im "Tagesanzeiger" und die Verweise zu den "historischen Modelle" steht im Vordergrund. Die zentrale Problematik für ein Geschichtsforum ist m.E. die Vorstellung, dass es zyklische Periode in der Entwicklung von Gesellschaften gibt. Und dass im Moment der Zyklus des Kampfes angenommen wird.

Und das ist der Bezug zur Frage, ob man aus Geschichte lernen kann und wie die erlebte Geschichte sich in die Gegenwart durch die Periodisierung von Geschichte fortsetzt. Das aktuelle Geschichtsbild eines Bannons ist integriert in eine historische Sicht.

Das ist ein hochgradig deterministisches Weltbild und hat die Qualität einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Für mich persönlich zeigt das messianische Weltbild beunruhigende Parallelen zum 3. Reich, da der Kampf als Akt der Befreiung inszeniert wird und der zukünftige Zustand religiös idealisiert wird.

Das Problem ist, dass damit die Zukunft "gemacht" wird, indem man annimmt, dass eine historische Zwangsläufigkeit eintritt. Und diese Zwangsläufigkeit läuft auf die Möglichkeit eines Übergangs von einem neuen Kalten Krieg in einen realen Krieg hinaus, weil sämtliche Planungen in diese Richtung parallellisiert werden.

Und mehr wollte ich auch nicht dazu sagen. Es ist vermutlich die gefährlichste, die aggressivste und konfliktorientierteste politische Strömung in den USA an der Macht seit Hitler.

Und das kann sehr unangenehme Auswirkungen für Mitteleuropa haben und man sollte sich dafür im eigenen Interesse interessieren!
 
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Vielleicht haben wir etwas unterschiedliches gelesen oder sehen unterschiedliche Dimensionen der Analyse als unterschiedlich relevant an.
(...)
Das ist ein hochgradig deterministisches Weltbild und hat die Qualität einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Für mich persönlich zeigt das messianische Weltbild beunruhigende Parallelen zum 3. Reich, da der Kampf als Akt der Befreiung inszeniert wird und der zukünftige Zustand religiös idealisiert wird.

Die apokalyptische Dynamik ist a priori Teil von Bannons christlich geprägtem Weltbild, in dem Amerika als Nation die Aufgabe hat, dem ´Guten´ zum Sieg zu verhelfen, ähnlich für die jüdische Apokalyptik die Nation Israel der ultimative Hoffnungsträger war. Die Apokalyptik im territorial zunächst undefinierten Christentum sah die verstreute christliche ´Gemeinde´ in dieser Funktion.

Ein besonders makabrer Aspekt bei alldem ist, dass der Islam, in dem Bannon den satanischen Hauptgegner seines ´guten´ Amerika erkennt, selbst eine apokalyptische Ausrichtung sowie die starke Tendenz hat, Amerika als Instrument des Satans zu identifizieren. Der Psychoanalytiker Theodor Reik hat hinter der monotheistischen Gottesliebe einen verdrängten Vaterhass verortet, der kompensatorisch an den Feinden ´Gottes´ abreagiert wird. Diese Dynamik ist schon höchst prekär, wenn sie in einem Konflikt nur bei einer Partei virulent ist - hier ist es aber bei beiden Parteien der Fall, was die Gefahr einer Explosion exponentiell erhöht. Daher hast du natürlich recht, wenn du sagst:

Es ist vermutlich die gefährlichste, die aggressivste und konfliktorientierteste politische Strömung in den USA an der Macht seit Hitler.
 
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@Chan: Es wäre schön, wenn wir beim Thema bleiben: "Was lernen wir aus Geschichte".

Solltest Du über die politische Kultur der USA diskutieren wollen, dann bitte im entsprechenden Bereich.
 
Das Lernen aus der Geschichte verläuft immer auch vor dem Hintergrund der dominanten Paradigmen, die bestimmte Interpretationen anbieten.

Und gerade an diesem Punkt hat sich seit ca. 1990 sehr viel getan und neue Interpretationslinien von Geschichte ermöglicht.

Heute Morgen stellte sich für mich die Frage, welche – spontan – wichtigsten Revisionen unseres Geschichtsverständnisses wir in den letzten ca. 20 Jahren mit verfolgen konnten.

Auch ausgehend von dem Reader von Rublack, der viele interessante Beiträge enthält und eine Positionsbestimmung vornehmen will, der Versuch einer eigenen – auch subjektiven – Einschätzung.

In der Einleitung zum Reader wird auf das subjektive Erkenntnisinteresse hingewiesen, das unser Verständnis von Geschichte als „dominanter – auch rivalisierender – ideologischer Interpretationsraster“ strukturiert. Die zentralen Bezugspunkte sind sicherlich die Ideologie des „Aufstiegs des Westens“, die „Links-Rechts-Polarisierung“ der theoretischen Positionen und nicht zuletzt der Einfluss des Kalten Krieges auf die Form der Thematisierung von Geschichte, wie sehr gut an dem Thema „Totalitarismus“ zu illustrieren ist.

Wir haben im GF häufiger über den Prozess der kumulativen Wissensproduktion und den Prozess der Revision diskutiert. Diesen Prozess kann man m.E. an drei Komplexen für die letzten Jahre nachvollziehen, auch im Forum.

1.Moderniserung als universelles, globales Erklärungsmodell für die Entwicklung von Gesellschaften. In diesem Kontext wurde lange durch einen westlich zentrierten Horizont die Entwicklung vieler Länder, wie beispielsweise von China, als defizitär angesehen.

Diese Sichtweise ist „out“ und ist einer Betrachtung gewichen, die komparativ die Unterschiedlichkeit der Entwicklungslinien für Länder und Regionen betont.

2. Industrialisierung als ein zentrales Element zur Erklärung der „westlichen Moderne“ wird ebenfalls unter neuen Blickwinkeln diskutiert. Die traditionelle Vorstellung der industriellen Entwicklung von Wirtschaft ist ebenfalls komparativ einer Kritik unterzogen worden. Mit dem Ergebnis, dass das Konzept der „Industrialisierung“ für den Westen seine Gültigkeit behält, aber für andere Teile der Welt andere Form der wirtschaftlichen Entwicklung ebenfalls zu erkennen sind (vgl. China).

3. Die These vom „Deutschen Sonderweg“ ist ein weiterer Aspekt, der die Universalität und Einheitlichkeit von Entwicklungslinien in der historischen Entwicklung in Frage stellt. Auch in diesem Fall wurde komparativ ein bestimmtes Entwicklungsmodell von Gesellschaft und Wirtschaft als „normativ“ (das anglo-amerikanische) angenommen. Und eine abweichende – eigentlich ganz normale Entwicklung – als „Sonderweg“ diskutiert. Auch diese Sicht kann als nicht mehr haltbar eingestuft werden.

Diese drei Beispiele illustrieren sehr gut, was ebenfalls in der Einleitung zu dem Buch angesprochen wird, die enge Verzahnung von komparativen – und somit zwangsläufig internationalen Sichten – auf die nationale Geschichte im internationalen Rahmen.

Und es zeigt sich auch, dass jenseits der – völlig überflüssigen – Diskussion über Fake-News ein veritabler und substantieller Erkenntnisprozess stattgefunden hat, der deutlich differenzierter die globale historische Entwicklung diskutiert.

Ein m.E. lesenswerter Einstieg ist sicherlich der Beitrag von Bin Wong zur „Kausalität“ in der historischen Erklärung.


https://books.google.de/books?id=fFttAgAAQBAJ&printsec=frontcover&dq=rublack+die+neue+geschichte&hl=de&sa=X&redir_esc=y#v=onepage&q=rublack%20die%20neue%20geschichte&f=false
 
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Das Lernen aus der Geschichte verläuft immer auch vor dem Hintergrund der dominanten Paradigmen, die bestimmte Interpretationen anbieten.

Etwas Ähnliches (unter Verwendung von `Herrensignifikant´ statt ´Paradigma´) habe ich kürzlich schon geschrieben:

Im Falle der Bannon´schen Theorie bedeutet das, dass die diversen von ihm aufgeführten gesellschaftlichen Entwicklungen (z.B. die Revolutionäre der 60er, die Yuppies der 80er und 90er usw.) nur unter Voraussetzung des Amerika-Signifikanten jene historisch degenerative Dynamik repräsentieren, die Bannon ihnen beimisst.

Unter der Voraussetzung anderer Herrensignifikanten stehen diese Entwicklungen in völlig anderem Licht. So könnte man die 60er unter den Herrensignifikanten der geistigen und sexuellen Befreiung in Opposition zum damit überwundenen reaktionär-patriotischen Amerika der 50er stellen, und den Yuppie-Boom der 80er und 90er unter den Herrensignifikanten des patriotisch indifferenten Individualismus und Hedonismus, welcher die amerikanische und damit verbundene internationale Finanzwirtschaft allerdings in Untiefen geführt hat, die jeder, nicht nur Bannon, beklagt.

Wie auch immer: Der Herrensignifikant ´Amerika´ (als starke Nation) dominiert den Bannon´schen Diskurs und organisiert das Material seines Geschichtsbildes.

1.Moderniserung als universelles, globales Erklärungsmodell für die Entwicklung von Gesellschaften.
(...)
2. Industrialisierung als ein zentrales Element zur Erklärung der „westlichen Moderne“ wird ebenfalls unter neuen Blickwinkeln diskutiert.

Mein Alternativvorschlag ist das Kriterium der `Humanisierung´, d.h. der Entwicklung des Menschenrechts.

"Modernisierung" basiert auf der geistigen Umwälzung, die wir ´Aufklärung´ nennen, welche im 18. Jh. das Ideal der Demokratie hervorbrachte. Sie ging einher mit einer Säkularisierung der Gesellschaft und damit verbundenen Minimierung klerikaler Dominanzansprüche.

Ein Kernelement dieser Modernisierung ist das Ideal des Menschenrechts. Meines Erachtens ist es das wichtigste Kriterium (oder Paradigma) überhaupt, anhand dessen eine Untersuchung gesellschaftlich-politischer Entwicklungsstränge durchgeführt werden sollte.

Untersuchungen zur Geschichte des Menschenrechts liegen zuhauf vor. Ein bedeutender Aspekt davon ist die Rolle des Kindes in den diversen historischen Epochen und Regionen. Die katastrophalen Bedingungen, unter denen Kinder noch bis ins 19. Jh. aufwachsen mussten, sind im breiten Bewusstsein noch viel zu wenig bekannt.

Beispiel: In der Antike war der sexuelle Missbrauch von Kleinkindern und Kindern (unter 12) eine straffreie und viel geübte Praxis, auch innerhalb von Familien. Männliche Kleinkinder wurden so häufig kastriert und an Bordelle verkauft, dass Kaiser Domitian sich dann doch gezwungen sah, ein Gesetz dagegen zu erlassen.
 
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Vielen Dank für die Antwort, sie geht aber ein wenig an meiner Intention bzw. an dem Problem vorbei, dass ich ansprechen wollte.

Im Kern ging es um einen Paradigmenwechsel, der mehr oder minder radikal eine Neuausrichtung der Sicht auf die Historien von Ländern zum Ziel hat, wie beispielsweise bei Pankaj Mishra "Aus den Ruinen des Empires" beschrieben.

Mit den Konsequenzen für die Frage, was "Moderne" ist, oder wie weit das Konzept der westlichen "Industrialisierung" als genereller Erklärungsansatz noch trägt.

Etwas Ähnliches (unter Verwendung von `Herrensignifikant´ statt ´Paradigma´) habe ich kürzlich schon geschrieben:

Schön, aber seit Kuhn`s Arbeiten zu dem Thema wird allgemein von Pardigmenwechseln gesprochen.

Kuhn, Thomas S. (1970): The structure of scientific revolutions. Chicago: Univ. of Chicago Press.

Mein Alternativvorschlag ist das Kriterium der `Humanisierung´, d.h. der Entwicklung des Menschenrechts.

Nein, es geht um die Erklärung beispielsweise der Historie von China in den Konzepten der westlichen Modernisierung. Und diese wird traditionell an die Vorstellung einer defizitären Entwicklung der Wirtschaft bzw. der Industrialisierung geknüpft. Und es geht da nicht primär bei diesem Thema um Menschenrechte.

Und genau diese Vorstellung einer universellen wirtschaftlichen Entwicklung steht auf dem Prüfstand, wie beispielsweise bei Pomeranz oder auch Wong - als Beispiel - ausgeführt.

In einem anderen Kontext hatte ich auf das Modell von Rostow hingewiesen, dass auf diese universelle Entwicklung aufbaute und typische Phase der Entwicklung von Volkswirtschaften noch nach dem WW2 annahm. Ein Beispiel für die Dominanz dieses "Paradigmas"

Wong, R. Bin (1997): China transformed. Historical change and the limits of European experience. [5th] paperback printing. Ithaca: Cornell University Press.
Pomeranz, Kenneth (2012): The great divergence. China, Europe and the making of the modern world economy. Princeton (N.J.): Princeton University Press

Ein Kernelement dieser Modernisierung ist das Ideal des Menschenrechts. Meines Erachtens ist es das wichtigste Kriterium (oder Paradigma) überhaupt, anhand dessen eine Untersuchung gesellschaftlich-politischer Entwicklungsstränge durchgeführt werden sollte.

Hinsichtlich der Bedeutung der Menschenrechte stimme ich Dir uneingeschränkt zu.

Dennoch, wie die Arbeiten von Joas zeigen, ist das Konzept komplexer in seiner Herleitung von seinen Ursprüngen.

Und Joas und Bell werfen zu Recht die Frage auf, in welchem Maße wir diese - westlichen - Vorstellungen auf andere Kulturkreise wie beispielsweise China übertragen werden dürfen. Und erwarten, dass unsere Vorstellungen ohne einen weitere Diskurs übernommen werden "müssen".


Bell, Daniel (2000): East meets West. Human rights and democracy in East Asia. Princeton N.J.: Princeton University Press.
Fremuth, Michael Lysander (2015): Menschenrechte. Grundlagen und Dokumente. Bonn: Bundeszentrale für Politische Bildung (Schriftenreihe / Bundeszentrale für Politische Bildung, Band 1650).
Hunt, Lynn (2008): Inventing human rights. A history. New York [u.a.]: Norton.
Joas, Hans (2015): Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte; Berlin: Suhrkamp
Joas, Hans (2015): Sind die Menschenrechte westlich? : Kösel.
 
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Die destruktive Rolle des Militärs, sei es die passive Haltung der Führung der Reichswehr oder die aktive zerstörerische Zersetzung der Weimarer Republik durch die Freikorps oder durch geheime Organisationen wie die Organisation "Consul" wurde schon häufiger im Forum thematissiert.

Mit dem Gedanken der "Inneren Führung" hat die Bundeswehr versucht, eine Demokratisierung ihrer internen Führung und Organisation vorzunehmen und durch eine Reihe von "Traditionserlassen" eine Abgrenzung zum problematischen Erbe der Wehrmacht vorgenommen.

Das hat offensichtlich nicht wirklich geholfen und die Erfahrungen mit dem "Staat im Staate" sind offensichtlich nicht ausreichend institutionalisiert worden. Wie jüngst der Fall Franco A gezeigt hat, der als offensichtlicher Rechtsextremer, wie französischer Vorgesetzter bemerkt hat, als Berufs-Offizier übernommen worden ist.

Diese Sicht, dass die Bundeswehr zunehmend ein Problem mit ihrer Tradition hat und dass sie offensichtlich keine ausreichende Abgrenzung zu dem militaritischen Erbe vornimmt, scheint in der Bevölkerung zunehmend auch so gesehen zu werden. (vgl. Link.)

https://www.welt.de/politik/deutsch...Rechtsradikalismus-Problem-in-Bundeswehr.html

Vor diesem Hintergrund hält Wette am Donnerstag, 11. Januar 2018 um 20.15 in der Universität Freiburg, Kollegiengebäude, R. 1009 ein Vortrag.

Titel:
"Rechtsradikale bei der Bundeswehr.: Im Geiste der Freikorps"

Interessant ist dabei die unterschiedliche Bewertung bzw. Akzeptanz von "politischem Mord". In einem vorgeschalteten Interview zu dem Vortrag (Der Sonntag, 7.1.2018, S. 6) beschreibt Wette ein illustratives Erlebnis. In einer Runde, an der auch Offiziere beteiligt waren, sprach ein Offizier Wette, im Kontext des Buchs von ihm zu Noske an, dass Wette den Mord an Liebknecht und Luxemburg als "politischen Mord" bezeichnet. Laut Wette hatte dann der Offizier den Mord dargestellt, indem er gesagt hatte: "Das war doch nichts weiter als die Beseitigung von Umweltverschmutzung." (ebd. S. 6)

Diese Sicht auf politischen Mord entspricht sicherlich nicht dem, was man heute von einem Offizier angesichts der Demokratisierung von Deutschland nach 1945 erwarten sollte. Hat die Bundeswehr nicht genug "gelernt" oder befindet sie sich wieder auf dem Weg zum "Staat im Staate", der rechtsextremen Kräften eine Plattform für ihre militärische Organisation bietet.

An diesem Punkt ist deutlich mehr kritische historische Aufklärung gefordert, die m.E. und aus eigener Erfahrung, komplett vernachlässigt wird in der Bundeswehr.
 
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