Wollte Stalin aufgeben?

Conzaliss

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Stalin reagierte völlig geschockt auf den deutschen Angriff 1941. Er zog sich tagelang auf seine Datscha zurück, anstatt das Ruder in die Hand zu nehmen. Wäre er wirklich zu so großen Zugeständnissen bereit gewesen?

Berliner Zeitung Stalin wollte im Frühsommer 1941 den Deutschen große Teile der Sowjetunion kampflos überlassen, um seine Macht zu retten: Womit wäre Deutschland zufrieden?

Von Juri Bassistow 25.06.11, 00:00 Uhr

Schon Ende Juni 1941 war die Lage an der sowjetisch-deutschen Front außerordentlich besorgniserregend. Die deutschen Truppen drangen entschlossen in die Tiefe der Sowjetunion vor. Unter großen Verlusten mussten sich die sowjetischen Truppen zurückziehen, alle Versuche von Gegenangriffen schlugen fehl. Bis zum 26. Juni waren die Deutschen 150 bis 200 Kilometer vorangekommen. Mit dem Überfall Deutschlands wurde der Nichtangriffspakt gebrochen, auf den Stalin gesetzt hatte. Der Diktator zeigte sich so beeindruckt, dass er nach Augenzeugenberichten wie gelähmt war und unfähig, vernünftige Entscheidungen zu treffen.

Erst als die Deutschen Minsk einnahmen, löste sich Stalins Schockstarre. Er erkannte endlich, dass die Wehrmacht ihren Hauptschlag nicht nach Süden richtete, wie er geglaubt hatte, sondern in Richtung Moskau. Die Hauptstadt war das wichtigste Ziel Hitlers.Erst jetzt wurde er sich der tödlichen Bedrohung für das Land bewusst, das er regierte. Er sah vor allem auch die Bedrohung seiner persönlichen Macht. Militärisch schien ihm eine Rettung kaum noch möglich zu sein. Aber nach Ansicht Stalins gab es eine politische Chance. Ihm erschien es aussichtsreich, den schon begonnenen Krieg durch einen Kompromiss zu lösen, der beide Seiten befriedigen würde.

Stalin hatte die Erfahrung der bolschewistischen Führung unter Lenin nicht vergessen. Die ließ sich 1918 auf Gespräche mit dem deutschen Oberkommando ein, als deutsche Truppen auf Petrograd marschierten. Damals erhielten die Deutschen mit dem Vertrag von Brest-Litowsk für den Verzicht auf die Einnahme der Hauptstadt große Teile des Russischen Reiches. Lenin nannte den Brester Frieden "räuberisch", aber der Vertrag rettete den Bolschewiki die Macht.Stalin war im Juni 1941 bereit, eine gleichartige Vereinbarung mit Hitlerdeutschland zu treffen. Seine unbegrenzte Macht nutzend, unternahm er den Versuch, Gespräche mit Hitler über einen neuen "Raubfrieden" zu beginnen.

Für viele Jahre war das eines der bestgehüteten stalinschen Geheimnisse. Stalin bot für die Einstellung der Kampfhandlungen an, gewaltige Territorien an den Feind abzutreten. Gemeinsam mit Molotow und Berija bereitete er konkrete Vorschläge an Hitler vor und legte die Wege fest, auf denen sie übermittelt werden sollten. Hinter dem Rücken der Armee und des gesamten Volkes, das einen blutigen Kampf um seine Unabhängigkeit führte, beschritt der Diktator den Weg des Verrats.Viele Jahre später, auf der Sitzung des Parteiaktivs des Verteidigungsministeriums der UdSSR am 2. Juli 1957, berichtete Marschall Merezkow, was er gemeinsam mit dem Generalstaatsanwalt Rudenko bei der Untersuchung des Falles Berija herausgefunden hatte. Stalin, Berija und Molotow hätten 1941 "die Frage einer Kapitulation vor dem faschistischen Deutschland" erörtert. Es sei damals besprochen worden, Hitler das Baltikum, die Moldaurepublik und darüber hinaus Teile anderer Republiken zu überlassen, wenn die deutschen Truppen an der bis dahin erreichten Frontlinie stehen bleiben würden.

Berija wurde beauftragt, Kontakt zum bulgarischen Botschafter in Moskau, Iwan Stamenow, aufzunehmen und ihm vorzuschlagen, als Vermittler zwischen Moskau und Berlin aufzutreten. Stamenow war schon einige Zeit vorher von der sowjetischen Aufklärung angeworben worden.Nach dem Gerichtsverfahren und der Erschießung Berijas 1953 war in Moskau eine Gruppe von Führungskadern der Geheimpolizei NKWD festgenommen worden, die in die Verbrechen ihres Chefs verstrickt waren - unter ihnen auch Pawel Sudoplatow. Sein Fall wurde auch unter einem speziellen Aspekt untersucht: Er soll an dem Versuch Stalins beteiligt gewesen sein, das Land in den ersten Tagen des Krieges an Hitler zu verraten. Im Verlauf der Untersuchung präsentierte Sudoplatow am 7. August 1953 dem Ministerrat der UdSSR Aufzeichnungen. Er erklärte, dass er zwischen dem 25. und 27.Juni 1941 in das Büro Berijas befohlen wurde, der damals Volkskommissar für Innere Angelegenheiten war. Dieser habe zu ihm gesagt, dass die sowjetische Führung entschieden habe, inoffiziell zu klären, unter welchen Bedingungen Deutschland einverstanden wäre, den Krieg gegen die UdSSR zu beenden.

Berija befahl Sudoplatow, sich mit dem bulgarischen Botschafter zu treffen, der nach den Erkenntnissen des NKWD Verbindungen zu den Deutschen unterhielt und sie über die diplomatische Initiative der Sowjetunion informieren konnte.Weiter heißt es in den Aufzeichnungen Sudoplatows:"Berija befahl mir, in dem Gespräch mit Stamenow vier Fragen aufzuwerfen:

1. Warum hat Deutschland den Nichtangriffspakt gebrochen und einen Krieg gegen die UdSSR begonnen? 2. Womit wäre Deutschland zufrieden, unter welchen Bedingungen wäre es bereit, den Krieg zu beenden, was ist dafür notwendig? 3. Wäre Deutschland mit der Übergabe des Baltikums, der Ukraine, Bessarabiens, der Bukowina und der Karelischen Halbinsel zufrieden?4. Wenn nicht, auf welche zusätzlichen Territorien erhebt Deutschland Anspruch? Zu den Anweisungen, die ich von Berija erhielt, gehörte auch der Befehl, mit Stamenow nicht im Namen der sowjetischen Regierung zu verhandeln, sondern ein allgemeines Gespräch über die militärische und politische Lage zu führen und die Meinung Stamenows zu den vier Fragen zu erkunden.

Berija war der Überzeugung, dass Stamenow von sich aus die vier Fragen den Deutschen vortragen werde. Berija warnte mich eindringlich, dass ich von diesem Auftrag der Regierung nirgends, niemandem und niemals etwas sage, andernfalls würde meine Familie ausgelöscht."Sudoplatow lud Stamenow in das Restaurant "Aragwi" im Zentrum Moskaus ein. Stamenow hörte die vier Fragen aufmerksam an. In seinen Aufzeichnungen bezeugt Sudoplatow, dass der Botschafter von der Niederlage Deutschlands in diesem Krieg überzeugt war. Dem schnellen Vordringen der Deutschen in der ersten Phase des Krieges habe er keine große Bedeutung beigemessen. Grundsätzlich war der Botschafter der Ansicht, dass die Kräfte der UdSSR zweifellos die Kräfte Deutschlands übertreffen würden, selbst wenn die Deutschen in der ersten Phase des Krieges große Teile der UdSSR besetzen und selbst wenn sie bis an die Wolga vordringen würden. Deutschland werde im weiteren Verlauf auf jeden Fall eine Niederlage erleiden und geschlagen werden, so Stamenow. Im Gegensatz zu Stalin zeigte der Bulgare keine Panik.

Der NKWD überwachte noch einige Zeit den chiffrierten Schriftverkehr der bulgarischen Botschaft. Ohne Ergebnis. Die Idee Stalins, sich von Hitler "freizukaufen", war offensichtlich gescheitert. Stamenow bestätigte nach dem Krieg dieses Treffen mit Sudoplatow und seine Position dem namhaften sowjetischen Historiker Dmitri Wolkogonow.Hitler wusste nichts von den Vorstellungen Stalins. Das geht aus den deutschen Quellen von 1941 eindeutig hervor. Die Vorschläge an Hitler, die im Büro Stalins von den drei Verschwörern ausgeheckt worden waren, hätten nie die Chance auf Verwirklichung gehabt, selbst wenn sie Berlin erreicht hätten. Hitler stellte sich vor, dass die deutschen Truppen bis Weihnachten 1941 die Linie Archangelsk-Astrachan erreichen und der Ostfeldzug damit beendet sein würde. Die militärische Lage Ende Juni bestärkte ihn darin. Hitler hatte keinen Bedarf an Gesprächen mit Stalin. Er rechnete fest damit, die Gebiete zu erobern, die Stalin ihm abtreten wollte.

Hitler hat sich auch über das Schicksal der Gebiete jenseits der Linie Archangelsk-Astrachan geäußert. 1942 wurde ihm in einem der Tischgespräche die Frage gestellt, wer sie verwalten werde. Hitler antwortete: Stalin natürlich, denn der wisse, wie man mit diesem Volk umgehen müsse. Stamenow sagte richtig voraus, dass die Deutschen bis zur Wolga vordringen würden, wo sich der Krieg zugunsten der Sowjetunion wendete. Nicht im Namen Stalins, wie seine Anhänger noch immer behaupten, wurde der große Sieg errungen, sondern trotz seiner schweren Fehlkalkulationen und der schweren Verbrechen, zu denen die Bereitschaft gehörte, vor Hitler zu kapitulieren, um seine Macht zu retten.Sudoplatow wurde 1953 nach dem Sturz Berijas seiner Posten enthoben und verhaftet. Nach fünfjähriger Haft wurde er im Herbst 1958 zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt und 1968 entlassen. Er starb 1996 in Moskau.Übersetzung: Frank Herold------------------------------

Quelle: http://www.berliner-zeitung.de/15188364 ©2017
 
Weiter heißt es in den Aufzeichnungen Sudoplatows:
...

Stamenow bestätigte nach dem Krieg dieses Treffen mit Sudoplatow und seine Position dem namhaften sowjetischen Historiker Dmitri Wolkogonow.


Sudoplatow hingegen stellt die ganze Sache etwas anders dar:

"Am 25. Juli 1941 gab mir Berija den Auftrag, mit unserem Agenten Iwan Stamenow, dem bulgarischen Botschafter in Moskau, Kontakt aufzunehmen und ihn dazu zu bewegen, unter den den Deutschen nahestehenden Diplomaten in Moskau das Gerücht zu verbreiten, die Sowjetunion sei bereit für eine friedliche Einigung mit Deutschland. Indem man verbreitete, der geplante einmonatige Blitzkrieg zur Eroberung von Moskau, Leningrad und Kiew sei gescheitert und ein lange sich hinziehender Krieg damit unvermeidbar geworden,sollte der deutsche Kampfgeist geschwächt werden. Berija legte mir nahe, diese Aufgabe als streng geheim zu behandeln, und und um die Desinformation wirklich plausibel erscheinen zu lassen, sollte Stamenow dazu gebracht werden, diese Gerüchte aus eigenem Antrieb nach Sofia durchzugeben. Das Ziel der ganzen Operation war, Zeit zu gewinnen, damit wir unsere Kräfte zusammenziehen konnten, während die Deutschen die ihren verausgabten.

...

Bei unserem Treffen am 4. November 1989 sicherte mir Wolkogonow im Gegenzug für meine Kooperation seine Unterstützung zu. Ich hatte ihm vorgeschlagen, seine Darstellung der Stamenow-Episode, die soeben in Oktjabr, einer literarischen Zeitschrift, erschienen war, zu korrigieren. Er hatte darin behauptet, Stalin sei persönlich mit Stamenow zusammengetroffen. Ich wußte aber, daß dem nicht so war. Ich selbst hatte 1941 die Sondierung geleitet, um unter Nazi-Diplomaten eine Falschmeldung zu verbreiten und den Wunsch Deutschlands nach einer Friedensvereinbarung auszuloten. Bei Erscheinen von Wolkogonows Buch stellte sich heraus, daß der Fehler nicht berichtigt worden war. Wolkogonow hält an der Version fest, daß Stalin und Molotow mit Hitler einen Separatfrieden à la Brest-Litowsk geplant hatten und nennt als Quelle Hinweise auf Unterredungen im Politbüro.
Möglicherweise hatten im Politbüro tatsächlich Gespräche über diese Geheimdienstoperation stattgefunden. Wie ich bereits erläutert habe, lauteten meine Anweisungen, Falschmeldungen bezüglich eines eventuellen Friedens mit Hitler zu verbreiten und Stamenow als Urheber dieses Gerüchts hinzustellen."

Der Handlanger der Macht
 
Nicht im Namen Stalins, wie seine Anhänger noch immer behaupten, wurde der große Sieg errungen, sondern trotz seiner schweren Fehlkalkulationen und der schweren Verbrechen, zu denen die Bereitschaft gehörte, vor Hitler zu kapitulieren, um seine Macht zu retten.

Inhaltlich nichts Neues. Bereits 2015 wurde auf die Stalin-Biographie von Chlewnjuk hingewiesen bzw. auch auf die von Kotkin.

Dieser Vorgang, einen Verhandlungsfrieden im Stile des bereits vor 1941 erprobten Stalin`schen Appeasement von Hitler zu finden, wird bei Chlewnjuk (S. 324) anhand von Quellen relativ kurz abgehandelt.

Aus diesem relativ normalen politischen Prozess, eine politische Lösung zu finden, macht Bassistow einen Verrat. Das offenbart die offensichtlichen ideologischen Dispositionen und er stellt sich mit seinen politischen Ambitionen ein negatives Bild von Stalin zu zeichnen auf die gleiche Stufe wie die Apologeten von Stalin.

In beiden Fällen ein schlechtes Beispiel für Geschichtsschreibung. Und deswegen gilt natürlich der Dank "Conzalis" diese hervorragende Beispiel für schlechte Historiographie als didaktisches Beispiel bereit gestellt zu haben.

Desweiteren:
Es gab durchaus eine relativ lange Zeit die Bereitschaft von Stalin zu einem Separatfrieden (vgl. Link). Insofern

http://www.geschichtsforum.de/thema...n-stalin-und-hitler-zwischen-41-und-43.46661/

Chlewnjuk, Oleg (2015): Stalin. Eine Biographie. München: Siedler.
 
Zuletzt bearbeitet:
"Berija befahl Sudoplatow, sich mit dem bulgarischen Botschafter zu treffen, der nach den Erkenntnissen des NKWD Verbindungen zu den Deutschen (...)

Da Bulgarien am 1. März 1941 dem Dreimächtepakt beitrat, wäre es sehr verwunderlich gewesen, wenn der bulgarische Botschafter in Moskau keine Kontakte zu den Deutschen gehabt hätte. Als Verbündeter Deutschlands, der sich jedoch nicht mit der Sowjetunion im Krieg befand, ein optimaler Ansprechpartner um zu sondieren, bzw. Gerüchte zu streuen. Deswegen erschließt sich mir die Rolle des NKWD in Bezug auf Stamenow nicht.
 
Die Originalangaben zu dieser geschichte stehen hier in Russischer Sprache:
Сталин в 1941 году был готов отдать Гитлеру Прибалтику и Украину
Aus den russischen Archiven sind folgende Unterlagen aufgezählt:
1. (РГАСПИ - Российский государственный архив социально-политической истории. Ф. 17. Оп. 171. Д. 465. Л. 133–144)
2. (РГАСПИ. Ф. 17. Оп. 171. Д. 465. Л. 204–208)
3. (РГАСПИ. Ф. 17. Оп. 171. Д. 466. Л. 30–36)
4. (РГАСПИ. Ф. 17. Оп. 171. Д. 466. Л. 37–42)
5. (РГАСПИ. Ф. 17. Оп. 171. Д. 467. Л. 31–36)
6. (РГАСПИ. Ф. 17. Оп. 171. Д. 466. Л. 151–154)
7. (РГАСПИ. Ф. 17. Оп. 171. Д. 466. Л. 156)
Wenn Sie Hilfe zum russischen Text brauchen, melden Sie sich bei mir!
Gruß!

 
Viele Jahre später, auf der Sitzung des Parteiaktivs des Verteidigungsministeriums der UdSSR am 2. Juli 1957, berichtete Marschall Merezkow, was er gemeinsam mit dem Generalstaatsanwalt Rudenko bei der Untersuchung des Falles Berija herausgefunden hatte. Stalin, Berija und Molotow hätten 1941 "die Frage einer Kapitulation vor dem faschistischen Deutschland" erörtert.
Man beachte hier den zeitlichen Kontext.
Stalin war 1953 verstorben. Beria wurde noch im gleichen Jahr hingerichtet - auf betreiben von Chruschtschow und anderen, die sich als redlichere Erben Stalins, ähm Lenins sahen.
Es ist eine sehr beliebte Argumentation von Sowjet-Größen Beria und Stalin die Schuld für alles mögliche zu geben. Damit können sie immer ganz gut von der eigenen Verantwortung im Apparat ablenken, besonders beliebt in den Memoiren. Die Gerüchte und Anekdoten sind ohnehin kaum überprüfbar, da die "echten" Protokolle auch irgendwie falsch sind.

1956 verkündigte Chruschtschow öffentlich die Entstalinisierung. Molotow war zwar am Leben geblieben, verlor aber den Machtkampf gegen Chruschtschow Ende Juni 1957. Anschließend verlor Molotow im Schnelldurchlauf alle wichtige Staats- und Parteiämter und wurde als Botschafter in die Mongolei geschickt.
Was dann am 2. Juli 1957 als Erkenntnis der Staatsanwaltschaft berichtet wird, ist auch Teil dieses Machtspiel. Dann wird nochmal auf den ohnehin verdammten Unpersonen herumgetrampelt.
 
Zuletzt bearbeitet:
Wenn ich "die Stalins Bande sage", stelle ich es gleich der verbrecherischen Macht des totalitären Kommunismus in der UdSSR - genauso wenn wir "Hitlerismus" sagen, meinen wir die verbrecherische Regime der Nazional-"Sozialistischen" Deutschen "Arbeiter"-Partei. :p
 
Stalin wollte nicht aufgeben, er wollte sich seine Macht erhalten. Dazu war er doch zu allem bereit. Natürlich war der Fall aussichtslos, Hitler hätte jedes Angebot in den Müll geworfen, da man ja nur "die Tür eintreten" musste, damit das "Haus Sowjetunion" zusammenfällt und er sowieso bereits die bekannte zukünftige Grenze im Kopf hatte. Der Versuch Stalins passt einfach nur voll ins Bild. Zuerst wollte er nichts von einem möglichen Angriff hören, dann wurde er nachts von Zhukov aus dem Bett geklingelt und konnte nicht fassen, dass der Einmarsch begonnen hatte. Dann überlegte er panisch, wie man das Debakel noch stoppen könne. Und als er schließlich während der Schlacht um Moskau bereits in den Evakuierungszug gestiegen war und 2 NKWD-Angehörige kamen, dachte er sogar, sie wollen ihn verhaften. Dieser Mann war misstrauisch, sagte von sich selbst nach dem Tod seiner 1. Frau, dass mit ihr das letzte bisschen Menschlichkeit in ihm gestorben sei, er ließ jeden töten, vor dem er Angst hatte (und er hatte vor allen Angst), und gleichzeitig wollte er natürlich unbedingt die volle Macht behalten. Und dieser Gedanke war ganz sicher eine größere Triebfeder, als das Retten von Menschenleben durch einen Frieden. Ist natürlich ein brisantes Detail, das in den 0815-Dokus nicht vorkommt, aber auch, weil es letztlich nie zu einem offiziellen Kontakt mit Deutschland kam.
 
Stalin wollte nicht aufgeben, er wollte sich seine Macht erhalten. Dazu war er doch zu allem bereit. Natürlich war der Fall aussichtslos, Hitler hätte jedes Angebot in den Müll geworfen, da man ja nur "die Tür eintreten" musste, damit das "Haus Sowjetunion" zusammenfällt und er sowieso bereits die bekannte zukünftige Grenze im Kopf hatte.

Ich vermute, in diesem Fall war Stalin nicht ganz alleine. Es gab im Baltikum und in der Ukraine, um zwei Beispiele zu nennen, eine starke -auch ethnisch geprägte - Ablehnung des russischen Bolschewismus, aber in vielen anderen Gebieten, gab es eine im Verlauf der Krieges noch zunehmende Identifizierung mit "Mütterchen Russland", von der Stalin profitiere konnte. Anfang 1945 war vermutlich seine Popularität auf den Höhepunkt.

Zu Beginn der Krieges in 1941 trifft man sowohl eine unbedingte traditionelle Loyalität gegenüber Russland an bzw. auch ideologische Zustimmung zum Bolschewismus wie Formen der Entfremdung bzw. rigiden politischen Ablehnung.

Die Zustimmung beschreibt Grossman (S. 54) exemplarisch anhand der Gastfreundschaft einer alten Frau auf dem Rückzug. Und es finden sich beispielsweise bei Merridale Hinweise auf die rapide schwindende Legitimität der sowjetischen Herrschaft in den Gebieten, in denen die WM einrückte (vgl. z.B. S.173)

Das Bild von Russland bzw. der Roten Armee (RKKA) im deutschen Militär und somit auch bei Hitler, war ambivalent, wie Förster ausführt (vgl. S. 118ff). Zum einen schrieb man Russland einen "Drang nach Westen" zu, nahm die Masse der Soldaten als "Dampfwalze" wahr und gleichzeitig relativierte man die damit einhergehende Bedrohungswahrnehmung durch Vermutung, dass die Qualität der Führung der Armee schlecht sei. Und es kam zunehmend die zugeschriebene rassistisch begründete - angebliche - "Minderwertigkeit" der "jüdisch, bolschewistischen Slawen" hinzu.

Dass dieses "Kartenhaus" nicht so schnell in sich zusammenfallen würde, war eine Erkenntnis, die die betroffenen Soldaten in den "Grenzschlachten" schnell gemacht haben. Sie hatten es das erste Mal mit einem Gegner zu tun, der entschieden kämpfte.

Der Versuch Stalins passt einfach nur voll ins Bild. Zuerst wollte er nichts von einem möglichen Angriff hören, dann wurde er nachts von Zhukov aus dem Bett geklingelt und konnte nicht fassen, dass der Einmarsch begonnen hatte.

Chronologie 21-22.06. 1941 (vgl. Chlewnjuk, S. 317ff)
- Am Abend (21.06.) versammelte sich das PB (Politbüro) und die Militärführung in Stalins Büro. Trennten sich morgens (22.06.) um 3.00 Uhr ergebnislos
- Kurz nach 3.00 Uhr rief Schukow im Kreml an und stellte fest, dass der deutsche Angriff begonnen hatte. Stalin schwieg am Telefon und gab keinen Befehl heraus.
- Um 4.30 traff sich Stalin (vermutlich in seiner Wohnung im Kreml) mit Timoschenko und Schukow zu beurteilungder Lage
- Um 5.30 traf Außenminister Molotow mit Botschafter Schulenburg im Kreml zusammen, der ihm die Kriegserklärung überreichte, was Molotow wohl mit "Unglauben" zur Kenntnis nahm, da die Begründung für den deutschen Angriff aus seinem Kenntnisstand nicht zutraf
- Um 5.45 trafen sich wiederum das PB und die militärische Führung. Stalin wollte nicht an den Angriff Hitler`s glauben, da er eine "Verschwörung" der deutschen Generale vermutete, die durch die militärischen Provokationen einen generellen Krieg herbeiführen wollten.
- Um 5.45 konfrontierte Molotow Stalin, Berija, Mechlis, Timoschenko und Schukow mit der Information der deutschen Kriegserklärung
- Um 7,15 ging der Befehl heraus, die angreifenden deutschen Truppen zu zerschlagen, aber die deutsche Grenze nicht zu überschreiten. Die Einschätzung - so Chlewnjuk -, was gerade passierte, war vermutlich nicht korrekt und unterschätzte die Dimension des Angriffs.
- Molotow hielt eine Rede an das sowjetische Volk, in der er Deutschland des ungerechtfertigten Vertragsbruch beschuldigte und deutlich machte, das die Verteidigung Russland eine gerechte Sache sei

Es ist zutreffend, dass Stalin - subjektiv - überrascht wurde, obwohl er objektiv einen tiefen Einblick in die Vorbereitung der WM hatte (vgl. dazu beispielweise Murphy). Er war auch durch Churchill beispielsweise vor dem Angriff gewarnt worden. Es war allerdings die "politische" Überzeugung von Stalin, und dabei ließ er sich ausgerechnet von Bismarck leiten (den er schätzte), dass Hitler aus dem Zweifrontenkrieg des WW1 gelernt hätte und das Wagnis nicht erneut eingehen würde. Er hatte sich in Hitler getäuscht, der politisch anders dachte als er.

Und als er schließlich während der Schlacht um Moskau bereits in den Evakuierungszug gestiegen war und 2 NKWD-Angehörige kamen, dachte er sogar, sie wollen ihn verhaften.

Nein, nicht korrekt. Mitte Oktober, dem krisenhaften 15. Oktober, wurde ein Befehl des Staatlichen Verteidigungskommitees formuliert, dass Gen. Stalin in Abhängigkeit von den Umständen zu evakuieren sei. (vgl. z.B. Braithwaite, S. 243) Entsprechend der Darstellung von Wassilewski standen dazu Flugzeuge in Moskau bereit (Chlewnjuk, S. 342). Die Mitglieder, inklusive Stalin bleiben aber in Moskau.

Braithwaite, Rodric (2007): Moscow 1941. A city and its people at war. Rev. and updated ed. London: Profile Books Ltd.
Förster, Jürgen (2005): The German Military`s Image of Russia. In: Ljubica Erickson und Mark Erickson (Hg.): Russia. War, peace and diplomacy. Essays in honour of John Erickson. London: Weidenfeld & Nicolson, S. 117–129.
Grossman, Vasiliĭ; Beevor, Antony; Vinogradova, Luba (2005): A writer at war. Vasily Grossman with the Red Army, 1941-1945. 1st American ed. New York: Pantheon Books.
Chlewnjuk, Oleg (2015): Stalin. Eine Biographie. München: Siedler.
Merridale, Catherine (2006): Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939 bis 1945. Frankfurt am Main: Fischer.
Murphy, David E. (2005): What Stalin knew. The enigma of Barbarossa. New Haven: Yale University Press.
 
Soweit ich weiß, stand ein Zug bereit und Stalin war bereits im Zug. Aber er ist dann einmal durch den Zug durchgelaufen und hat die Entscheidung getroffen, wieder auszusteigen. Klar, er ist dann in Moskau geblieben.
 
Vielleicht kannst Du sagen, woher Du das weißt?
Solche Schilderungen musst Du doch irgendwo gelesen haben.
 
Soweit ich weiß, stand ein Zug bereit und Stalin war bereits im Zug. Aber er ist dann einmal durch den Zug durchgelaufen und hat die Entscheidung getroffen, wieder auszusteigen. Klar, er ist dann in Moskau geblieben.

Ich glaube, ich kenne jetzt den Ursprung des Gerüchts. Montefiore beschreibt in seinem "Stalin" (S. 453) die Situation, dass Stalin in einen Wagon der Metro umgezogen war.

Ansonsten hatte er keinen Zug betreten und 2 NKWD-Angehörige wären von Berija [Volkskommisar des Inneren / NKWD] oder Stalin`s Leibwache, Oberst Schtemenko, etnweder "zusammengestaucht" oder erschossen worden.

Der Grund für den Umzug in den Wagon in der Metro war, dass der Kreml über keinerlei Luftschutzbunker verfügte und es bestand im Oktober die Gefahr, dass Fliegerbomben im Kreml einschlagen konnten.

Ansonsten stand ein Sonderzug bereit, um das PB aus Moskau zu evakuieren. Zusätzlich standen 4 amerikansiche DC 3 in Moskau bereit.
 
Bei Montefiore:

"Stalin könnte seinen Chauffeur angewiesen haben, ihn zu einem Sonderzug zu bringen, der unter strenger Bewachung am Knotenpunkt Abelmanowski stand. Einer Quelle aus Stalins Büro zufolge ging er den abfahrbereiten Zug entlang." (...) "Von dort zurückgekehrt, befahl Stalin dem Kommandanten seiner Datscha, mit dem Verpacken aufzuhören. 'Keine Evakuierung, wir harren bis zum Sieg hier aus.'"

Der Sohn von Mikojan erwähnte diese Begebenheit auch mal in einer Doku über Moskau 41, dass er durch den Zug durchging und wieder ausstieg.

Ist aber zugegeben eine sehr mystische, legendenhafte Begebenheit. Ganz wissen werden wir es wohl nie
 
Danke für die Textstelle. Interessant ist auch der Vergleich von deutscher Übersetzung und englischem Original.

“We’re preparing, Comrade Stalin, for the evacuation to Kuibyshev.” Stalin may also have ordered his driver to take him to the special train that was parked under close guard at the Abelmanovsky junction, normally used for storing wooden sleepers. One source in Stalin’s office recounted how he walked alongside the train. Mikoyan and Molotov do not mention it, and even a hint of Stalin near a train would have caused panic, but it was the sort of melodramatic scene that Stalin would have relished. If it happened, the image of this tiny, thin figure “with his tired haggard face” in its tattered army greatcoat and boots, strolling along the almost deserted but heavily guarded siding through the steam of the ever-ready locomotive is as emotionally potent as it was to be historically decisive. For Stalin ordered the commandants of his dacha to stop loading: “No evacuation. We’ll stay here until victory,” he ordered, “calmly but firmly.”

Deutsche Ausgabe:

»Genosse Stalin, wir bereiten die Evakuierung nach Kuibyschew vor.« Stalin könnte seinen Chauffeur angewiesen haben, ihn zu einem Sonderzug zu bringen, der unter strenger Bewachung am Knotenpunkt Abelmanowski stand. Einer Quelle aus Stalins Büro zufolge ging er den abfahrbereiten Zug entlang. Mikojan und Molotow erwähnen das nicht, zumal schon die schiere Andeutung, dass Stalin sich in der Nähe eines Zuges aufhielt, hätte Panik auslösen können. Von dort zurückgekehrt, befahl Stalin dem Kommandanten seiner Datscha, mit dem Verpacken aufzuhören: »Keine Evakuierung. Wir harren bis zum Sieg hier aus«, ordnete er »ruhig, aber bestimmt« an.

Eine Quelle für die Schilderung wird bei Montefiore wie häufig nicht angegeben. Dafür ist es im englischen Original eine schöne Dramaturgie, as emotionally potent as it was to be historically decisive...
 
Wolkogonow, Stalin, schreibt:

"Eines Tages, Mitte Oktober, als Stalin gerade zu seiner Datscha fahren wollte, sagte Berija unentschlossen zu ihm: »Das geht nicht, Genosse Stalin!« Stalin schaute ihn fragend an, und Berija erklärte ihm auf georgisch: »Die Datscha ist zur Sprengung vorbereitet worden.« Stalin geriet kurzzeitig in Aufregung, aber er beruhigte sich schnell wieder. Berija berichtete ihm noch, dass in einem der Moskauer Bahnhöfe ein Sonderzug für den Obersten Befehlshaber bereitstehe und ebenso vier Flugzeuge für die Stawka, darunter ein spezielles Flugzeug für Stalin. Stalin schwieg eine Weile. Er schwankte. Aber irgendwie fühlte er, dass es die Moral von Armee und Volk stärken würde, wenn er in der Hauptstadt bliebe. So entschloss er sich, in Moskau zu bleiben. Er wusste, dass die Evakuierung der Hauptstadt in vollem Gange war, dass die Rüstungsbetriebe und andere Fabriken unterminiert wurden und dass Berija im Falle eines Rückzugs vorgeschlagen hatte, auch die Metro zu sprengen. Er musste mit Schtscherbakow noch darüber sprechen."

Bei Fitzpatrick, On Stalin's Team:

"At the beginning of October, with the rapid German advance threatening Moscow, the GKO ordered the government and the diplomatic corps to evacuate to Kuibyshev on the Volga. On 16 October, with the Germans in the northern Moscow suburb of Khimki, resisted largely by civilian volunteer defense forces, Stalin told Politburo members to leave too. But all the core team members—Mikoyan, Molotov, Malenkov, and Beria—resisted this instruction and stayed in Moscow. Voznesensky went out to Kuibyshev as acting head of the government, hoping, according to a bitchy Mikoyan, to add to his power and status, but found himself out of the loop once he got there. Andreev, Kalinin, and Kaganovich went out to Kuibyshev too, along with their own wives and children, and those of other members of the team, but Andreev and Kaganovich were soon back in Moscow. Stalin’s own intentions and movements were unclear for a few days, but in fact he stayed in Moscow, though dispatching Svetlana and his household out to Kuibyshev. These were desperate days: looters were abroad in the streets and ordinary Muscovites were making last-minute decisions about whether to stay or flee."

Chlewnjuk, Stalin, Eine Biogrphie:
„Wie Mikojan in seinen Memoiren schrieb, versammelten sich am 15. Oktober um neun Uhr morgens verschiedene Mitglieder der obersten sowjetischen Führung, darunter Molotow, Malenkow, Wosnessenski, Schtscherbakow und Kaganowitsch. Stalin informierte die Gruppe, dass die Deutschen vielleicht bald die Verteidigungslinien Verteidigungslinien Moskaus durchbrechen würden, und schlug vor, die diplomatischen Vertretungen und die Regierungsbüros zu evakuieren. Laut Mikojan wollte er Moskau nicht übergeben. Sollte es zu Kämpfen in der Stadt kommen, wollte er warten, bis Reserven eintrafen, die stark genug waren, um die Deutschen zu vertreiben. Er selbst beabsichtigte, so lange wie möglich in der Hauptstadt zu bleiben. Am Ende der Besprechung unterzeichnete er einen auf den 15. Oktober datierten Befehl des Staatlichen Verteidigungskomitees, in dem es hieß, dass »Gen. Stalin, abhängig von den Umständen, morgen oder später evakuiert werden wird«. Entsprechende Vorbereitungen wurden getroffen. Laut Alexander Wassilewski, der zu einer kleinen Gruppe von Generalstabsoffizieren gehörte, die mit Stalin in der Stadt blieben, standen für eine Evakuierung in letzter Minute Flugzeuge bereit. (Zitat)
...
Die meisten Mitglieder der obersten Führung verließen Moskau nicht wie geplant am 15. Oktober, sodass Stalin einige von ihnen am Folgetag in seine Wohnung bestellen konnte. Alexei Schachurin, der Volkskommissar für die Flugzeugindustrie, traf als Erster ein. Er schildert das Treffen in seinen Memoiren: Der Kreml sah verlassen aus, das Vorzimmer von Stalins Wohnung war offen, und Schachurin fand den Woschd im Esszimmer, wo er rauchend auf und ab ging. Bestimmte Anzeichen, wie etwa leere Bücherregale, deuteten auf die Evakuierungsvorbereitungen hin. Stalin trug die übliche Jacke, seine Hose war in löchrige Stiefel gestopft. Der Woschd registrierte Schachurins überraschten Blick und erklärte, sein anderes Schuhwerk sei bereits abtransportiert worden. Kurz darauf erschienen auch Molotow, Malenkow, Schtscherbakow und die anderen. Stalin bot keinem einen Platz an, sondern ging weiter im Raum auf und ab und stellte jedem Neuankömmling dieselbe Frage: »Wie sieht es in Moskau aus?“


Watson, Molotov, über den fraglichen Zeitraum:

"He assured them, however, that he would fly to Kuibyshev very shortly and would almost certainly be there before them. In fact, Molotov did not arrive in Kuibyshev until 22 October. 52 Later, on 15 October, Molotov called the people’s commissars to the Kremlin and ordered them to leave Moscow at once.

On 19 October, when GKO took the crucial decision to defend the capital, Molotov was strongest in support of the decision which Beriya opposed. Asked later, by the novelist I. Stadnyuk, what would have happened if Stalin had left Moscow at this time, Molotov replied that ‘Moscow would have burned’: the Germans would have taken the city, the Soviet Union would have collapsed and this would have led to the break-up of the anti-Hitlerite coalition. It may have been at this point, if the incident occurred at all, that Stalin considered making peace with Germany on very humiliating terms which Molotov is said to have described as a ‘second Brest’.

Soon after his arrival in Kuibyshev on 22 October, Molotov saw Stanislaw Kot, the ambassador for the Polish government-in-exile. Kot described him as ‘incredibly overworked, obsessed with the seriousness of the situation, but endeavouring nevertheless to master his exhaustion’.""
 
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