Der Buddhismus

Chan

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Vorgeschichte und Kontext:

Die im Indien des 5. Jh. BCE (in welches Buddhas Lebenszeit fällt) vorherrschende Religion war der auf den Upanishaden (= spätvedische Texte ab dem 6. Jh. BCE) basierende Brahmanismus, der eine theistische und eine a-theistische Variante hatte. Auf der theistischen Ebene galt der Aufenthalt im Himmel des Schöpfergottes Brahma als höchstes Ziel, für dessen Realisierung je nach Mentalität und Sozialstatus des Aspiranten kostspielige Tieropfer oder sexuelle Askese oder hingebungsvolles Lesen der ´heiligen´ Texte (= Veda) praktiziert wurden. Diese Variante war die verbreitetste. Ihre Priesterschaft propagierte eine von Göttern vorgeschriebene Vier-Kasten-Hierarchie mit den Priestern an der Spitze, gefolgt von den Kriegern (ksatriyas), den Viehzüchtern und Bauern (vaisiyas) und den Dienern (sudras). Die ersten drei Stufen waren den Ariern vorbehalten, mit der vierten und untersten musste sich die vor-arische Population begnügen.

Anspruchsvoller und seltener als die genannten theistischen Methoden war die a-theistische Praxis der Yoga-Meditation, angewandt von Asketen in Kombination mit Fasten, Enthaltsamkeit und völliger Zurückgezogenheit in Wäldern. Das angestrebte Ziel war das geistige Einswerden mit der non-personalen ´Weltseele´ oder ´Weltsubstanz´, dem Brahman, durch die meditative Realisierung der Identität des Atman (= Kern der Menschenseele) mit diesem Brahman. Die Yoga-Technik geht möglicherweise auf die vor-arische Bevölkerung des Industales zurück und sollte ursprünglich das Tieropfer vorbereiten, wurde von den arischen Brahman-Asketen dann aber als selbständiges Mittel für die Einswerdung mit dem Brahman eingesetzt.

Die Dominanz der beiden brahmanistischen Strömungen geriet im besagten 5. Jh. BCE in der Folge eines tiefgreifenden sozialen Umbruchs ins Wanken. Das System der sippenbasierten Gemeinschaft wurde durch die Ausweitung einiger Königreiche überlagert und verdrängt. Neue urbane Zentren entwickelten sich zu Knotenpunkten eines weitvernetzten Handels. In ihnen bildete sich ein kritischeres Bewusstsein gegenüber den traditionellen Doktrinen der Upanishaden heraus. Hinzu kam eine hohe urbane Sterberate aufgrund der krankheitsfördernden Bevölkerungsdichte, was bei vielen Menschen die Ablehnung der theistischen Opferkulte und den Wunsch nach einer authentischeren Lebensführung noch intensivierte.

Der Protest gegen den in Äußerlichkeiten erstarrten theistischen Brahmanismus, dessen Priesterschaft die Herrschaftsposition im Kastensystem beanspruchte, drückte sich am stärksten im Phänomen der ´Shramanas´ (religiöse Wandergruppen) aus, zu denen auch der frühe Buddhismus gehört. Informationen über die nicht-buddhistischen Shramanas, vor allem die Jainisten, die Ajivikas, die Materialisten und die Skeptiker, finden sich in der Samannaphala-Sutra aus der frühbuddhistischen Dialogsammlung ´Digha Nikaya´.

Die Jainisten waren von der individuellen Beseeltheit aller Formen von Materie überzeugt und lehnten die brahmanistische Lehre der Identität von ´Weltseele´ (Brahman) und menschlichem Seelenkern (Atman) ab, vielmehr sei jede Menschenseele eine separate Entität (ähnlich wie Leibniz´ Monade) und könne durch Yoga, Askese und Vegetarismus aus der karmisch angetriebenen Wiedergeburtenkette befreit werden und ewig in Seligkeit verweilen. Die Ajivikas bildeten die radikalste Gruppe: Sie lehnten die Karmalehre ab und postulierten eine von einem Prinzip namens ´Niyati´ angetriebene prädeterministische Wiedergeburtenkette, deren höchste Stufe ein Ajivika sei mit der Bestimmung, seine Kette durch strenge Askese, ständige Nacktheit und einen finalen Hungertod zu beenden. Die Einstellung der Materialisten ähnelte der Lebensanschauung vieler heutiger westlicher Durchschnittsmenschen: Sie führten innerhalb ihrer Gruppen ein gemäßigt hedonistisches und geselliges Leben und verneinten sowohl eine universale ´Weltseele´ als auch die Wiedergeburt, da ihrer Ansicht nach die Seele mit dem Tod verlischt. Diese komplett ´diesseitige´ Position war im Indien jener Zeit so ungewöhnlich, dass ihre Anhänger die Städte verließen und sich zu Wandergruppen zusammenschlossen. Die Skeptiker schließlich waren Agnostiker und verzichteten konsequenterweise darauf, die Anschauungen anderer Gruppen als falsch zu bezeichnen. Ihr einziges Ziel bestand darin, eine (quasi stoische) Geistesruhe zu kultivieren. Zwei wichtige Schüler des Buddha, Shariputta und Moggallana, waren zuvor Skeptiker gewesen.

Der frühe Buddhismus:

Für die Lebensdaten des Buddhismus-Begründers Siddharta Gautama (genannt ´Buddha´ = der Erwachte) stehen keine außerbuddhistischen Quellen zur Verfügung, weshalb man nur bedingt von einer Historizität seiner biographischen Daten sprechen kann. In Fachkreisen besteht aber kein ernsthafter Zweifel an der Authentizität der wichtigsten Eckdaten.

Nach Angaben in mehreren buddhistischen Quellen, darunter die theravadische Dialogsammlung ´Digha Nikaya´, starb Gautama mit 80 Jahren. Die chronologische Einordnung dieser Zahl ist problematisch, da unterschiedliche innerbuddhistische Angaben über den zeitlichen Abstand zwischen Gautamas Tod und der Krönung des buddhistischen Kaisers Ashoka vorliegen: Manche Quellen sagen 218 Jahre (´lange Chronologie´), andere 100 (´kurze Chronologie´).

Auch Ashokas Krönungstermin ist umstritten, allerdings nur geringfügig: Manche Historiker legen ihn basierend auf Ashokas an hellenistische Könige adressierten Edikten auf 268 BCE fest, andere spannen auf der gleichen Grundlage den Rahmen zwischen 267 und 280 BCE. Der Buddhismusexperte Richard Gombrich hält aufgrund von Zahlenangaben in der buddhistischen Chronologie ´Dipavamsa´ aus Sri Lanka einen Abstand von 136 Jahren zwischen Gautamas Tod und Ashokas Krönung für am wahrscheinlichsten, woraus er auf 404 BCE (plusminus einige Jahre) als Todesdatum und dementsprechend auf 484 BCE (plusminus) als Geburtsdatum schließt. Herkömmliche Datierungen liegen um ca. 80 Jahre früher, so dass sich bei ihnen das Todesdatum dem Jahr annähert, in dem Gautama laut Gombrich geboren wurde.

In der Forschung nicht umstritten ist die Herkunft des Gautama aus dem Volk der Sakhya im heutigen Grenzgebiet von Nepal. Bei den Sakhya bestimmte ein aus Sippenhäuptern gebildeter Rat die Politik. Gautama gilt als Sohn eines dieser Räte, weshalb sich später die Legende um seine Königssohnschaft bildete. Eine historisch zuverlässige lückenlose Biografie lässt sich nur bedingt erstellen, da die ersten ´Vollbiografien´, d.h. Zusammenfassungen schriftlicher und oraler Einzelberichte über sein Leben, erst ab ca. 200 BCE verfasst wurden. Die Übereinstimmung dieser Quellen (darunter ´Mahavastu´, ´Lalitavistara´ und ´Buddhacarita´, alle aus dem 1. Jh. CE) geht weit, unsicher ist bei vielen Details allerdings, ob sie historisch oder legendenhaft sind.

Glaubwürdig ist immerhin, dass Gautama in einer wohlhabenden Familie aufwuchs, mit 16 Jahren heiratete, ein luxuriöses Leben führte und mit 29 Jahren eine innere Wende vollzog, seine Familie verließ und bei brahmanistischen Asketen in die Lehre ging. Die Quellen divergieren in der Frage des Motivs: Die frühen Sutren (= ´Leitfäden´) in der Dialogsammlung ´Anguttara Nikaya´ berichten von einer längeren Phase des Zweifels am Sinn der irdischen Existenz; in einer späteren Biografie aus dem 2. Jahrhundert CE, ´Nidanakatha´, ist von einem plötzlichen Wandel kurz nach der Geburt seines Sohnes Rahula die Rede, als Gautama auf der Straße von seiner Kutsche aus einen alten Mann, einen kranken Mann und eine Leiche erblickte. In der Nacht soll er nach einem langen Blick auf seinen Sohn, der in den Armen seiner schlafenden Mutter lag, das Haus verlassen und sich den Brahmanen außerhalb der Stadt angeschlossen haben.

Es folgten sieben Jahre einer spirituellen Suche, ohne ein für Gautama zufriedenstellendes Resultat zu zeitigen. Zunächst schloss er sich dem Brahmanen Arada Kalama an, der ihn eine Yoga-Meditation lehrte, die in der Objekt-Negation ("Nichtsheit") verweilt. Bei einem anderen Lehrer, Udakra Ramaputra, gelangte er auf die noch höhere Stufe der doppelten Negation ("Weder-Wahrnehmung-noch-Nicht-Wahrnehmung"). Die Angebote beider Lehrer, die Leitung ihrer Gruppe zu übernehmen, lehnte er ab, integrierte die erworbenen Methoden aber in seine Praxis (was später zu den ´formlosen Dhyanas´ Nr. 3 und 4 führte) und übte sich, nachdem er auch Ramaputra verlassen hatte, zusätzlich - so die ´Biographien´ übereinstimmend - in extremer Askese, um das Verlangen nach sexueller Lust abzutöten, zum Beispiel durch Meditation bei Atemstillstand, was zu heftigen körperlichen Reaktionen führt, und durch die Reduktion seiner Ernährung auf ein paar Tropfen Bohnensuppe pro Tag. Laut der schon genannten Biographie ´Nidanakatha´ (2. Jh. CE) soll Gautama dabei zwar große geistige Klarheit erlangt, zugleich aber erkannt haben, dass der Preis - der körperliche Ruin - dafür zu hoch ist.

Gemäß dem ´Majjhima Nikaya´, das als Teil des Pali-Kanons einige der ältesten oralen Überlieferungen enthält, besann er sich auf eine selbst-induzierte meditative Erfahrung aus seiner Jugendzeit, die sowohl Loslösung von sexuellem Begehren als auch tiefe innere Ruhe beinhaltete. Das damals rein intuitiv angewandte und in der späteren Lehre als erstes (Skt.) ´Dhyana´ (Pali ´jnana´, wörtlich: ´Glühen´, die erste meditative Versenkungsstufe) systematisierte Verfahren trug - ergänzt durch eine wiederaufgenommene normale Ernährungsweise - nach wochenlanger Meditation und mehreren durchwachten Nächten endlich die angestrebten Früchte: das Erweckungserlebnis des 35jährigen Gautama unter dem ´Bodhi-Baum´ (einem Feigenbaum). Seinen ersten Anhängern gegenüber präsentierte er sich als ´Tathagata´ (etwa: ´Der wirklich Gewordene´), der die Todlosigkeit realisiert hat und andere darin zu lehren befähigt ist.

(Fortsetzung im folgenden Beitrag)
 
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(Fortsetzung des vorherigen Beitrags)

In den nächsten 45 Jahren, so die Quellen, verbreitete Gautama im Ganges-Tal in Nordost-Indien seine Lehre und begründete einen gut organisierten Mönchsorden sowie eine ständig wachsende Laiengemeinde. Der Orden (Pali ´sangha´, Skt. ´samgha´) ist heute die älteste noch bestehende Institution überhaupt. In jener Zeit wanderte der von Gautama geleitete und auf Almosen und größere Schenkungen angewiesene Sangha an neun Monaten im Jahr kreuz und quer durch die nordostindische Region und weilte in den drei Monaten der Regenzeit an festen Plätzen, zumeist in Gärten, die ihm von reichen Laienanhängern geschenkt worden waren. Nach und nach bildeten sich auch separate lokale Sanghas heraus.

Anfänglich weigerte sich Gautama, Frauen in den Sangha aufzunehmen, da sie allgemein in jener Ära als unbegabt für den Weg geistiger Befreiung galten. Vermutlich schreckte ihn auch das Debakel der Nonnenzulassung bei den konkurrierenden jainistischen Gruppen ab, die dort viele Mönche dazu verleitet hatte, dem Sex mehr Bedeutung beizumessen als der Atemmeditation. Vom Brahmanismus hatte der Buddhismus jener Tage jedenfalls die Auffassung übernommen, als Frau wiedergeboren zu werden sei - aufgrund der vermeintlich geringeren Begabung - gegenüber einer Wiedergeburt als Mann die deutlich schlechtere Option. Laut dem ´Vinaja Pitaka´ (ein auf die Ordensregeln und -geschichte fokussierter Text) erklärte sich Gautama zur Zulassung von Nonnen erst bereit, als er von seiner verwitweten Stiefmutter Mahapajapati, die dem Sangha beitreten wollte, hartnäckig dazu gedrängt wurde. Das von ihm den Frauen zugestandene spirituelle Potential erstreckt sich wie bei den Männern auf die ´Arhatschaft´, d.h. das Durchschauen des samsarischen Kreislaufes und die Erkenntnis der Vollkommenheit des Nirvana.

Drei Monate nach Gautamas Tod (buddhistisch: ´Parinirvana´, um 404 BCE) versammelten sich, so das Vinaya Pitaka, mehrere Hundert Arhats in der Stadt Rajagaha zum Ersten Buddhistischen Konzil, um sich auf den authentischen Gehalt von Gautamas Lehren (dhamma) und Ordensregeln (vinaya) zu einigen - allerdings ohne schriftliche Fixierung. Dass laut dem Vinaya Pitaka der Inhalt der Lehrreden des Gautama bzw. der Inhalt des Vinaya Pitaka, so wie sie auf der Versammlung von Gautamas jahrzehntelangem persönlichen Assistenten Ananda bzw. von dem Mönch Upali aus dem Gedächtnis rezitiert wurden, vollständig identisch sind mit den Texten, die nach dem Vierten Buddhistischen Konzil im Jahr 29 BCE schriftlich fixiert wurden, ist natürlich eine Übertreibung, da fast vier Jahrhunderte zwischen beiden Ereignissen liegen und die Überlieferung in dieser Zeit oral erfolgte und sicher nicht frei von Veränderungen und Ergänzungen war. Auch an schriftlich fixierten Texten wurden Eingriffe vorgenommen, wie z.B. bei mahayanistischen Sutren aus dem 2. und 3. Jh. CE erkennbar, die in voneinander abweichenden chinesischen Übersetzungen vorliegen, was auf mehrere Bearbeitungsstufen der Originale hinweist.

Etwa um 300 BCE kam es auf dem Zweiten Konzil in Pataliputta zur ersten Spaltung des bis dahin einheitlichen Ordens in die reformistische Gruppe der Mahasanghikas und die konservative Gruppe der Sthaviras. Der Grund für die Spaltung ist in der Forschung umstritten, besteht vermutlich aber im Dissens über die von den Mahasanghikas geforderte Erweiterung der Ordensregeln bezüglich des Auftretens von Mönchen in der Öffentlichkeit. Von Bedeutung ist dieses kleine Schisma insofern, als es das große Schisma vorbereitet, das im 1. Jh. CE den Buddhismus in das ´Mahayana´ (= Großes Fahrzeug) und das ´Hinayana´ (= Kleines Fahrzeug) spaltet, wobei ´Hinayana´ keine Selbstbezeichnung, sondern eine abwertende Bezeichnung durch die Mahayanisten ist. Die Selbstbezeichnung der traditionellen Buddhisten ist Theravada (= ´Lehre der Älteren´, heute vorwiegend in Südostasien und Sri Lanka präsent). Um Missverständnisse zu vermeiden: Das Mahayana versteht sich als eine notwendige Erweiterung des Theravada, dessen Lehren es nicht verneint, sondern ergänzt.

Natürlich bildet nicht der Dissens über Ordensregeln den Keim des späteren Schismas, sondern die von den Mahasanghikas u.a. in ihrem Buch ´Kathavatthu´ (um 250 BCE) vorgebrachten ´Fünf Thesen des Mahadeva´, in denen das Erleuchtungsniveau der Arhatschaft problematisiert wird, vor allem (so These 1) weil bei vielen als Arhats anerkannten Mönchen Samenejakulationen durch erotische Träume auftraten. These 2 stellte in Frage, ob das Wissen, die Motivation und das Einfühlungsvermögen vieler Arhats ausreichten, um andere Menschen spirituell anleiten zu können. Diesen und weiteren Kriterien gemäß begann man zu unterscheiden zwischen Arhats, die zwar Erleuchtung erlangt hatten, aber unfähig waren, (1) ihre Bindung an das Weltliche dauerhaft aufzugeben und (2) anderen Menschen die Lehre (dhamma) nachhaltig zu vermitteln, und Arhats, die sich vollständig von sinnlicher Begierde gelöst hatten und über ausreichende altruistische Motivation und Kompetenz verfügten.

Beide Kriterien, die Vollkommenheit der Erleuchtung und der Wunsch, andere Menschen zum gleichen Ziel zu führen, wurden schließlich die Kernmerkmale des ´Bodhisattva´, der in den Mahayana-Schulen an die Stelle des Arhat-Ideals trat. Ein Bodhisattva ist definiert als ein vollkommen Erleuchteter, der nach seinem Tod im Nirvana verbleiben könnte, sich aber freiwillig (also nicht von Begierde getrieben) immer wieder reinkarniert, um auch anderen Menschen zum Nirvana zu verhelfen.

Die mahayanistische Lehre wurde im 1. Jh. CE vermutlich von Waldasketen im Südosten Indiens initiiert, von wo aus sie sich in den indischen Nordwesten und nach Tibet und China und von dort nach Japan verbreitete. Ihre Grundkomponenten sind (1) das vorerwähnte Bodhisattva-Ideal, (2) eine symbolisch zu verstehende Glorifizierung des Buddha im Rahmen einer visionären Kosmologie, die als die imposanteste von allen religiösen und philosophischen Kosmologien gelten kann, vor allem im ´Avatamsaka-Sutra´ (1500 Seiten), das auch an Schönheit in der Weltliteratur unübertroffen ist, und (3) die Lehre von der ´Leerheit´ (shunyata) aller Dharmas (dazu unten mehr), die in den älteren Schulen noch als real betrachtet wurden.

Charakteristisch für die Mahayana-Strömung ist die Koinzidenz von rationaler Philosophie und hyperbolischer Mythologie, letztere in Gestalt einer Vielzahl von transzendenten Buddhas und Bodhisattvas, die zwar allegorisch interpretiert werden können, für viele Buddhisten aber zum Gegenstand einer religiösen Verehrung wurden, wie sie dem älteren a-theistischen Buddhismus fremd war. Die visionäre Bombastik der mahayanistischen Kosmologie verdankt sich nur zum Teil der poetischen Begabung ihrer Autoren, im wesentlichen beruht sie auf Meditationserlebnissen auf der Basis hochelaborierter Visualisierungstechniken.

Die fünf bedeutendsten Schulen des Mahayana sind die Madhyamika-Schule, die Yogacara-Schule (beide Indien), die Vajrajana-Schule (Tibet), die Ch´an-bzw.-Zen-Schule (China bzw. Japan) und die Amithaba-Schule (u.a. China, Japan, Vietnam, Korea). Aus Platzgründen verschiebe ich die Behandlung von Vajrajana, Ch´an/Zen und Amithaba auf spätere Beiträge und gehe auf das Madhyamika (= ´Mittlerer Weg´) und das Yogacara (= ´Yoga-Praxis´) ein.

Die Madhyamika-Schule wurde um 200 CE von dem südindischen Mönch Nagarjuna gegründet. Nagarjuna gilt im Buddhismus als bedeutendster buddhistischer Denker nach Gautama Siddharta. Sein Hauptwerk ist das ´Madhyamaka Karika´ (= ´Verse über den Mittleren Weg´), in dem er Gautamas Lehre vom Mittleren Weg auf eine breite philosophische Basis stellt.

Mit ´Mittlerer Weg´ ist bei Gautama (z.B. in der Sutra-Sammlung ´Itivuttaka´) die Vermeidung der Extreme von (a) Substantialismus (ein Ding hat Existenz) und Nihilismus (ein Ding hat keine Existenz) sowie von (b) Eternalismus (die Seele ist unvergänglich) und Annihilationismus (die Seele vergeht nach dem Tod) gemeint. Beide Gegensatzpaare negiert Gautama durch seine Lehre von den Daseinselementen, den sog. ´Dharmas´. Ihr zufolge sind Wesen und Dinge ein Konglomerat aus ständig entstehenden und vergehenden Dharmas. Ein materielles Ding ist in diesem Sinne als Einheit nicht existent, da nur aus materiellen Dharmas zusammengesetzt, aber auch nicht nicht-existent, da die Dharmas existieren, wenngleich nur ephemer. Das gleiche gilt die ´Seele´, die keine Einheit und substantielle Identität hat, sondern aus mentalen Dharmas (= vier der fünf ´Skandhas´, das fünfte ist der Körper) besteht, die sich nach dem Tod mit neuen materiellen Dharmas (aus den der Körper besteht) verbinden.

Nagarjuna geht einen Schritt weiter und problematisiert auch die Existenz der Dharmas, wenngleich nicht nihilistisch (es gibt keine Dharmas), sondern dialektisch (sie sind weder existent noch nicht-existent). Aus Platzgründen verschiebe ich eine Behandlung von Nagarjunas Lehre über die ´Leerheit´ (shunyata) der Dharmas auf einen späteren Beitrag.

Für die Yogacara-Schule, entstanden um 300 CE, gilt, dass die Welt nur aus ´Geist´ (citta) besteht gemäß der Formel ´citta-matra´ (Nur-Geist). Als Synonym für ´Geist´ wird ´Bewusstsein´ (vijnana) verwendet, weshalb die Schule auch ´Vijnanavada´ (Bewusstseinslehre) heißt. Ihre wichtigsten Denker und Autoren sind die Brüder Asanga und Vasubandhu (4. Jh. CE). Alle Phänomene, so die Lehre, sind irreale Konstruktionen des universalen ´Geistes´, der zum Individualbewusstsein im gleichen Verhältnis steht wie der Ozean zu seinen Wellen.
 
Nachtrag (passte quantitativ nicht mehr in den vorherigen Beitrag):

´Samsara´ (= weiterwandern) ist in buddhistischer Sicht der leiderzeugende Kreislauf von Geburt, Tod und Wiedergeburt, in dem alle nicht-erleuchteten Wesen gefangen sind, solange sie an ihren Begierden und (bei höherentwickelten Wesen) an der Illusion der Ichlichkeit festhalten. ´Nirvana´ (= Windstille) ist die Loslösung von Begierde und Ego-Illusion, also ein Existenzmodus in absoluter Freiheit (und nicht, wie oft missverstanden, die Auslöschung von Existenz).
 
Hallo,

wie kam es eigentlich, dass sich der Buddhismus entwickelte? Welche Rolle spielten da die "Veden"?

Irgendwie verstehe ich das Ganze nicht ganz.
 
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob der Buddhismus aus der älteren Vedischen Religion herausgewachsen ist wie das Christentum und der Islam aus der jüdischen Religion, aber es ist wohl doch etwas komplizierter. Vor allem ist die Quellenlage schlechter, man weiß ja nicht einmal mit Sicherheit, wann der Buddha gelebt hat.

Übrigens ist die Vedische Religion, also der Brahmanismus, nicht mit dem Hinduismus identisch. Der heutige Hinduismus hat sich erst in einem langen historischen Prozess aus dem Brahmanismus und verschiedenen Volkskulten entwickelt.

Ohne Zweifel gehen Teile der buddhistischen Lehre auf die Veden zurück, allerdings auf die jüngsten der vedischen Texte, die Upanischaden, Geheimlehren oft in Form von Zwiegesprächen zwischen Meistern und Schülern. Hier finden sich zum ersten Mal Gedanken zum Kreislauf der Wiedergeburten und zur möglichen Erlösung daraus.

Andererseits stand der Buddhismus in Opposition zum Brahmanismus und der hochentwickelten und ausgeklügelten Opfermagie der Brahmanen, vor allem in Opposition zur Verbindung von Priestern, den Brahmanen, und Kriegern, den Kshatriyas und ihren Königen. Der Brahmanismus war immer mehr zur Religion einer feudalen Kaste geworden, von der sich der Buddhismus abgrenzte. Möglicherweise sind auch ältere, vorarische Elemente in ihn eingeflossen, also religiöse Vorstellungen der indischen Urbevölkerung vor der Einwanderung der zentralasiatischen Nomaden.

Etwa gleichzeitig mit dem Buddhismus und unter ähnlichen Voraussetzungen entstand auch die zweite asketische Erlösungsreligion Indiens, der Jinismus.
 
wie kam es eigentlich, dass sich der Buddhismus entwickelte

Ich habe in diesem Thread einiges zum Thema geschrieben:

Der Buddhismus

Wie Tom schon sagt, besteht eine wesentliche Gemeinsamkeit zwischen vedischem Brahmanismus und Buddhismus in der Annahme eines Wiedergeburtenkreislaufs und einer Befreiung (moksha) aus diesem Kreislauf. Der Unterschied zwischen Befreiung im brahmanisch-buddhistischen Sinn und Erlösung im christlichen Sinn besteht darin, dass erstere eine Eigenleistung darstellt, während letztere entweder als eine "Gnade" gilt, die das Individuum durch "Gott" oder "Christus" erfährt, ähnlich wie in der Antike ein Sklave die Gnade der Freilassung durch seinen Besitzer erfahren konnte, oder als eine "Rettung" durch die gleichen Instanzen, so wie ein Schiffbrüchiger aus Seenot gerettet wurde. Es wäre angesichts dieses erheblichen Unterschieds also irreführend, auch wenn es häufig geschieht, Befreiung im brahmanisch-buddhistischen Sinn mit dem Erlösungsbegriff zu analogisieren.

Der frühe Buddhismus grenzt sich von den Veden aber auch in einigen wesentlichen Punkten ab, von denen Tom das Kastensystem und die damit verbundene magischen Praktiken genannt hat, womit die Brahmanen ein ausgeklügeltes Unterdrückungssystem schufen, an dessen Spitze sie selbst standen. Siddharta Gautama, der Buddha (Erwachter), lehnte dieses System entschieden ab

Der wichtigste Unterschied im spirituellen Bereich liegt in Buddhas Ablehnung der Atman- und Brahman-Vorstellungen des Brahmanismus, wie sie in den Upanishaden dargelegt sind.
Den Upanishaden zufolge ist das Brahman die schöpferische Quelle alles Seienden und das Atman das wahre Selbst jedes Individuums, das zugleich das Selbst das Brahman ist, woraus für den Vedismus/Brahmanismus folgt: Atman = Brahman, d.h. das wahre Selbst des Individuums ist das Selbst des Brahman, des Urgrundes der Welt. Das Atman hat drei Komponenten: Sein, Bewusstsein und Seligkeit (sat, chit, ananda). Es ist unvergänglich und besteht unverändert durch alle Reinkarnationen hindurch, während das empirische Ich (zu unterscheiden vom "wahren Selbst", dem Atman), "Jiva" genannt, in den Inkarnationen wie eine Maske entsteht und mit dem Tod wieder vergeht. Das entspricht grob dem Unterschied zwischen Kants transzendentalem (unbewusstem) und empirischem (bewusstem) Ich.

Buddha zufolge gibt es kein Brahman, also keine schöpferische Quelle des Seienden, vielmehr besteht dieses anfanglos aus elementaren Komponenten, den "Dharmas", die sich nach den Gesetzen des "Konditionalnexus" dynamisch miteinander verbinden und voneinander lösen. Dementsprechend gibt es auch kein "Selbst" des Brahman und kein "wahres Selbst" des Individuums, das als "Atman" mit dem Selbst des Brahman identisch wäre. Also ist das Selbst des Individuums in Wahrheit ein "Nicht-Selbst" (an-atman), das nicht, wie das Atman des Brahmanismus, durch die Wiedergeburten hindurch stabil fortexistiert. Das Individum besteht vielmehr aus fünf "Skandhas" (Daseinsfaktoren): dem Körper, den Gefühlen, dem Sinneswahrnehmungsapparat, dem Willen und dem Bewusstsein, von denen keines die "Identität" des Individuums ausmacht.

Ein Unterschied zur vedischen Spiritualität ist auch Buddhas Annahme eines ontologischen Dualismus. Während der Brahmanismus das Brahman als ein allesumfassendes Prinzip versteht (Monismus), geht Budha von einem ontologischen Dualismus aus, indem er zwischen Samsara (weltlicher Wiedergeburtenkreislauf) und Nirvana (über-weltliche Zeitlosigkeit) unterscheidet und kein beides verbindendes Prinzip anerkennt. Dieser frühbuddistische Dualismus wurde im 2. Jahrhundert CE durch die aus dem Theravada (alte Lehre) hervorgegangene Schule des Mahayana (großes Fahrzeug) der brahmanischen, monistischen Sichtweise wieder angeglichen durch die Annahme eines allumfassendes Prinzip, der "Shunyata" (Leere von allen Illusionen). Der wichtigste Vertreter dieser Strömung war Nagarjuna, der nach Buddha bedeutendste Denker des Buddhismus.
Seine höchste Reife erreicht das brahmanistische Denken in der Lehre des Shankara (um 800 CE), "Advaita Vedanta" genannt, das die vedischen Lehren mit den Lehren des buddhistischen Mahayana kombiniert.
 
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