Wirtschaftswunder, D-Mark und soziale Marktwirtschaft - eine deutsche Erfindung?

salvus

Aktives Mitglied
Guten Abend Geschichtsforum,

war sehr lange nicht mehr hier aktiv unterwegs.
Habe mich auch in den geschichtlichen Themen ein wenig umorientiert.
Römer und Germanen müssen ein wenig ruhen.
Ich habe hier einige Fragen zur Wirtschaftsgeschichte unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg!
Die Fragen sind eigentlich ziemlich konkret.
Vieleicht kann irgendwer sie kurz beantworten:

1.)
Der Marshall Plan war doch kein Plan ur für Deutschland sondern für ganz Westeuropa.
Ist das so?

2.)
Ein Wirtschaftswunder gab es in nahezu allen Staaten nach dem Krieg in Westeuropa, oder?
Das war doch kein reines deutsches Phänomen?

3.)
Das interessiert mich besonders:
Nach dem Krieg waren natürlich weite Teile Deutschlands zerbombt. Insbesondere Wohngebiete, Infrastruktur und auch Agrarflächen. Aber nicht umbedingt Industrieflächen (diese waren besonders geschützt). Diese mußte man am Tag bombardieren, was sehr verlustreich war, z.B. Kugellagerfabricken in Schweinfurt.
Frage: Stimmt das? War z.B. ganz Essen zerstört außer die Krupp Werke?

4.)
Kann man eigentlich sagen, daß die Großindustriellen, bzw. diejenigen die nach dem 2. Weltkrieg auch noch viel Sachvermögen hatten ohne großen Schaden aus dem Krieg hervorgegangen sind?

5.)
Ist die D-Mark von drei Amerikanern erfunden worden? Und zwei davon waren Juden?

6.)
Ist die soziale Marktwirtschaft wirklich eine deutsche Erfindung?

Sorry, ich brauche schnelle Antworten, deshalb wende ich mich an das Forum.
Vieleicht gibt es entsprechende Quellen, die jemand nennen kann.
By the way:
Ich weiß, dass Frage sechs wahrscheinlich sehr umstritten ist und vieleicht gibt es ja schon einen eigenen Thread dazu.

Ich weiß ja daß es hier wirklich viele Experten gibt, die sich auskennen. Vieleicht könnt Ihr mir Auskunft geben.
 
1.)
Der Marshall Plan war doch kein Plan ur für Deutschland sondern für ganz Westeuropa.
Ist das so?
Kommt darauf an, was du unter Westeuropa verstehst. Es gibt einen spanischen Film, der heißt Bienvenido Mr. Marshall ('Willkommen, Mr. Marshall'), In einem spanischen Dorf geht das Gerücht um, dass George Marshall das Dorf besuchen wolle. Natürlich bereitet man sich vor, um den Wohltäter zu empfangen (darum dreht sich eigentlich der ganze Film), am Ende stellt sich heraus, dass es nur der neue amerikanische Botschafter auf dem Weg nach Masdrid ist, der auch nicht hält, sondern die zu seiner Begrüßung versammelte Dorfbevölkerung nebst ihren Exzellenzen in einer Staubwolke seines vorbeifahrenden Convoys stehen lässt. Das Dorf steht für Spanien, das eben abseits steht, während auf andere Länder - einschließlich Dtld. - der Geldsegen herunterregnet. In Spanien hört man bis heute manchmal den impliziten Vorwurf, dass Spanien ja nichts aus den Töpfen des Marshall-Plans erhalten habe.

2.)
Ein Wirtschaftswunder gab es in nahezu allen Staaten nach dem Krieg in Westeuropa, oder?
Das war doch kein reines deutsches Phänomen?
Aufgrund der Zerstörungen in Deutschland und Frankreich und eines deutschfreundlichen französischen Außenministers und zwischenzeitlich auch Ministerpräsidenten (Robert Schuman, der im Krieg aber in der Resistance war, jahrzehnte früher hatte Schuman hatte in Dtld. studiert) gelang es, mit der Schuman-Erklärung die französische und deutsche Wirtschaft aufeinander einzustellen, auch die Demontage war eher Chance als Schwächung, als dann die Gelder des Marshall-Plans kamen, haben die Deutschen nicht ihre alten Fabriken wieder auf Vordermann gebracht, sondern moderne Fabriken eingerichtet. In Großbritannien z.B. funktionierte das nicht. Das Wirtschaftswunder ist zumindest teilweise auch ein Mythos.

3.)
Das interessiert mich besonders:
Nach dem Krieg waren natürlich weite Teile Deutschlands zerbombt. Insbesondere Wohngebiete, Infrastruktur und auch Agrarflächen. Aber nicht umbedingt Industrieflächen (diese waren besonders geschützt). Diese mußte man am Tag bombardieren, was sehr verlustreich war, z.B. Kugellagerfabricken in Schweinfurt.
Frage: Stimmt das? War z.B. ganz Essen zerstört außer die Krupp Werke?
Ich bin jetzt eher von deiner Aussage überrascht, die Krupp-Werke waren natürlich auch von den Bombenangriffen betroffen. Die Essener Innenstadt und die Kruppwerke grenzten direkt aneinander, die Vorstellung, dass die Flieger quasi die Kruppwerke hätten umfliegen können, um Essen zu bombardieren, ist etwas weltfremd. Aber Xander kann dir vielleicht mehr zu den Zerstörungen des Bombenkrieges sagen.
 
auch die Demontage war eher Chance als Schwächung, als dann die Gelder des Marshall-Plans kamen, haben die Deutschen nicht ihre alten Fabriken wieder auf Vordermann gebracht, sondern moderne Fabriken eingerichtet.

Die Ursachen für das sogenannte "Deutsche Wirtschaftswunder" sind sicherlich vielfältig und beispielsweise Silesia würde sicherlich viele Aspekte zusätzlich anführen oder anders gewichten.

Ein zentraler Aspekt, auf den ich kurz inhaltlich eingehen möchte, wird in der allgemeinen Diskussion häufig übersehen. Es geht normalerweise immer nur um die Frage von "Industrieanlagen".

In Deutschland war durch den Krieg eine Generation von Managern herangewachsen, die 1. einen enormen Wissensvorsprung - vor allem in Europa - bei der Realisierung von Großprojekten hatte, 2. die Logistik im großen Stil beherrschten und 3. Innovationen (Patente) sehr aufgeschlossen gegenüber standen, zu Lösung von Problemen, 4. die unter widrigen Umständen in der Lage waren, diese Projekte zu organisieren 5. die bei Beschaffungs- und Absatzmanagement in Kategorien der "Großraumwirtschaft" (Im- und Export-Strukturen) dachten.

Daneben ist das Ausbildungssystem zu nennen, die korporatistische Struktur der Zusammenarbeit von Unternehmen und Gewerkschaften. Die Zufriedenheit im Rahmen der Entwicklung des Wohlfahrtsstaats und der damit hohen Systemzufriedenheit im Kontext einer hohen politischen Stabilität, garantiert durch die westlichen Alliierten.

https://de.wikipedia.org/wiki/Korporatismus

Im einzelnen gibt es eine Reihe von guten Büchern zu dem Thema. Teilweise auch bei der Bundeszentrale, lohnenswert nachzuschaun.

Nett geschriebene Einführung
Hank, Rainer (2012-2013): Wie wir reich wurden. Eine kleine Geschichte des Kapitalismus. Stuttgart: Theiss.

Ein "Manifest" zur "Sozialen Marktwirtschaft"
Erhard, Ludwig (1972): Soziale Marktwirtschaft, Ordnung der Zukunft. Manifest '72. Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Ullstein.

Deutsche Wirtschaftsgeschichte
Abelshauser, Werner (2011): Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck (Beck'sche Reihe, 1587).
Braun, H.-J (2011): The German economy in the twentieth century. The German Reich and the Federal Republic. London, New York: Routledge
Kaelble, Hartmut (2011): Kalter Krieg und Wohlfahrtsstaat. Europa 1945-1989. München: C.H. Beck
Plumpe, Werner (2019): Das kalte Herz. Kapitalismus : die Geschichte einer andauernden Revolution. Berlin: Rowohlt

Europäische Wirtschaftsgeschichte
Iriye, Akira (Hg.) (2013): Geschichte der Welt. 1945 bis heute - Die globalisierte Welt. Unter Mitarbeit von Wilfried Loth. München: C.H. Beck
Milward, Alan S. (1984): The reconstruction of Western Europe, 1945 - 51. London, New York: Routledge.
 
Wenn das Thema >Marshallplan< aufkommt erinnert mich dies immer an den Philanthrop und Friedensnobelpreisträger (1922) den Norweger F. Nansen.

Soweit ich weiß war wohl der 1. Marshallplan - Vorläufer des Marshallplanes - die Hilfe an den armenischen Volk (1925).

Der Norweger Fridjof Nansen als Hochkommissar des Völkerbundes – Verantwortlich für Flüchtlingsfragen – spielte da ein wichtige und entscheidende Rolle.
 
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Das interessiert mich besonders:
Nach dem Krieg waren natürlich weite Teile Deutschlands zerbombt. Insbesondere Wohngebiete, Infrastruktur und auch Agrarflächen. Aber nicht umbedingt Industrieflächen (diese waren besonders geschützt). Diese mußte man am Tag bombardieren, was sehr verlustreich war, z.B. Kugellagerfabricken in Schweinfurt.
Frage: Stimmt das? War z.B. ganz Essen zerstört außer die Krupp Werke?

Die Frage der Bewertung der Effektivität lag von Seiten der USA im Verantwortungsbereich des von der Airforce unabhängigen "United States Strategic Bombing Survey (USSBS) geleitet durch Galbraith. Er beschreibt im Einzelnen die Personen und die Ziele.

Ausführlicher hat Silesia Befunde aus dem Survey bereits im Forum zitiert. Entsprechende Dokumente sind ebenfalls durch die RAF vorgelegt worden, die sich aber stark an die Ergebnisse des USSBS angelehnt haben (vgl. z.B. die Entwicklung der abgeworfenen Bombenmenge der RAF über die Zeit, S. 56)

https://books.google.de/books?id=qC...ce=gbs_ge_summary_r&cad=0#v=onepage&q&f=false

Auf dieser Grundlage referiert Abelshauser die wirtschaftliche Bestandsaufnahme der "Stunde Null" (S. 66 ff). Grundsätzlich ist voranzuschicken, dass die Zerstörung von Industrieanlagen nicht die Priorität bei Bombardierungen hatte, sondern sich primär auf die Ölindustrie und die Verkehrsinfrastruktur konzentrierte. Mit dieser Strategie sollte die Industrie komplett immobilisiert werden.

Unter dieser Prämisse konstatiert Abelshauser in Anlehnung an Galbraith: "dass die meisten Angriffe auf Betriebe der deutschen Rüstungsindustrie nichts anderes als "kostspielige Fehlschläge" waren." (Abelshauser, S. 67) Selbst auf dem Höhepunkt der Bomberoffensive im Jahr 1944 wurden nicht mehr als 6,5 Prozent aller Werkzeugmaschinen beschädigt. Für andere Schlüsselindustrien - mit Ausnahme der Ölindusrie - konnten ähnliche Ergebnisse festgestellt werden. Und so konstatiert Abelshauser: "Es war offenkundig schwierig, die Rüstungsindustrie aus der Luft zu treffen." (ebd. S. 67)

Sofern einzelne Werke, wie im Fall von Essen (Krupp) oder Mannheim (BASF), getroffen worden sind, war das eher als ein "Kollateralschaden" zu sehen, da die Bombardierung der Stadt bzw. der Bevölkerung galt und nicht dem Industriekomplex. Er war einfach zu nahe an der Stadt, um ihn nicht auch zu treffen, wobei Tarnungsmaßnahmen bei Nachtangriffen die Anlagen von Krupp lange Zeit effektiv geschützt hatten.

https://de.wikipedia.org/wiki/United_States_Strategic_Bombing_Survey

Abelshauser betrachtet die Frage, von welchem Niveau aus die Wirtschaft in den Westzonen in der "Stunde Null" startete und kommt zu einem interessanten Ergebnis. Gemessen an der Entwicklung des Brutto-Anlagenvermögens (vgl. Tab. 2, S. 70) und dem Gütegrad und Altersstruktur des industriellen Anlagevermögens (vgl. Tab. 3, S. 71) ging die deutsche Wirtschaft mit einem bemerkenswert großen und neuen Kapitalstock in die Nachkriegszeit. (ebd. S. 69)

Allerdings konnten diese positiven strukturellen Voraussetzungen nur dann sich positiv entfalten, sofern die politischen Rahmenbedingungen, Reparationen etc., einen wirtschaftlichen Neustart ermöglichten. Und die Behandlung der Reparationsfrage im aufkommenden "Kalten Krieg" und vor allem die Rolle der USA als "Motor" für die wirtschaftliche Gesundung der europäischen Wirtschaft ist positiv anzumerken.


Abelshauser, Werner (2011): Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Von 1945 bis zur Gegenwart. München: C.H. Beck
Galbraith, John Kenneth (1982): A life in our times. Memoirs. New York: Ballantine Books
 
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