Dion

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Mit Hilfe der Seshat-Datenbank (eine Sammlung historischer und archäologischer Daten für 373 Gesellschaften weltweit) hat jetzt ein Team um Peter Turchin herausgefunden, dass für die Entstehung von Staaten in den letzten 10.000 Jahren Landwirtschaft und Militärtechnik entscheidend waren.

Landwirtschaft, weil die einen Zuwachs an Bevölkerung bewirkte, und Militärtechnik, weil deren Innovationen eine Übermacht gegenüber anderen Gesellschaften bedeuteten. Wo mehr Menschen wohnten, konnten sie mehr und größere Infrastrukturen bauen, die ihrerseits mehr Grund und Boden auf sich vereinigen konnten, was zu mehr Landwirtschaft und zu noch mehr Menschen führte, die sich u.U. auch spezialisieren konnten, was auch Innovationen begünstigte.

Grund und Boden und Menschen mussten geschützt werden, was zur Ausbildung von Militär führte, und wer besseren Waffen hatte, der war im Vorteil: Bonze war besser als Stein, Eisen besser als Bronze, Schießpulver besser als Schwert, etc.

Um es kurz zu fassen: Die Grundbedürfnisse, d.h. Ernährung und Sicherheit, waren entscheidend für Bildung von Staaten auf allen Kontinenten – alles andere, wie z.B. Bildung von Eliten, Religionen, etc., war nur eine Folge, nicht die Ursache.
 
Das Problem fängt schon bei der Frage an, ab wann und wo Staatswissenschaftler überhaupt den Terminus Staat als hinreichend begründet akzeptieren.
Dann wäre zu fragen, wiie die Datensammlung aussieht und wie sie bewerkstelligt wurde. Ansätze, die davon ausgehen, die Weltformel entdeckt zu haben, stimmen doch eher skeptisch. Wobei es in der Archäologie durchaus bekannt ist, dass frühneolithische Siedlungen egalitär wirken.
Aber auch die Twareg wirken von der Materialkultur (also dass, was der Archäologe sehen würde) egalitär, wohingegen Ethnologen dem vehement widersprechen würden.
 
Das ist keine Weltformel, sondern eine Ergänzung zu der bisherigen mehrheitlich vertretenden Hypothese, dass die Landwirtschaft als zentral für die Bildung von Staaten war. Doch was noch dazu gehörte, da gab es verschiedene Ansätze. Die SZ schreibt dazu – https://www.sueddeutsche.de/wissen/staatsbildung-theorien-big-data-analyse-weltgeschichte-1.5613258]Zitat (hinter paywall):

Eine Hypothese lautet, der Staat sei entstanden, um öffentliche Güter zu schaffen, die allen zugutekommen, an denen sich also alle beteiligen sollten: eine Trinkwasserversorgung zum Beispiel, Straßen, Häfen und Brücken. Einer anderen These zufolge entstanden komplexe Gesellschaften, weil nur so ein verlässlicher Import von Nahrung möglich war, auf den eine Stadt angewiesen war. Andere Theorien betonen die Rolle von Eliten: Diese hätten einen komplexen Staat erschaffen, um ihre Vormacht und Privilegien zu sichern. Alternativ heißt es, es sei womöglich die Religion gewesen, genauer: die Vorstellung einer übernatürlichen Strafinstanz, welche die Gesellschaft ordnete. Oder führte die Bedrohung durch äußere Feinde dazu, dass sich Menschen immer komplizierter und besser organisierten, weil sie sich nur so verteidigen konnten?
 
Wenn du dich zum Anwalt dieser Big Data-Analyse machst, dann erkläre doch bitte, wie valide die Datenbasis überhaupt ist:

Dann wäre zu fragen, wie die Datensammlung aussieht und wie sie bewerkstelligt wurde.

Und lass dir noch mal den Hinweis durch den Kopf gehen, dass nicht jede Gesellschaft, die von der Materialkultur egalitär wirkt auch wirklich egalitär ist.
 
hast du mal auf den Link im Beitrag von @Dion geklickt? Das macht doch zunächst einen sehr wissenschaftlichen, seriösen Eindruck: Who We Are | Seshat: Global History Databank - und es macht einen sehr umfangreichen Eindruck (!), da finde ich deine Frage etwas arg fordernd...

Ich persönlich finde die Frage sehr berechtigt, im Besonderen wenn man damit eröffnet, dass herausgefunden, also bewiesen worden sei, dass die Faktoren X,Y global für irgendetwas entscheidend seien.

Das ist ja immerhin eine Theorie, die Gültigkeit beansprucht, im Sinne wissenschaftlicher Methoden also auch ein Set an Möglichkeiten zu ihrer Falisfizierung mitliefern muss.
Dementsprechend ist etwa die Frage, was denn dieser Theorie nach dem Begriff "Staat" überhaupt unterfällt, durchaus berechtigt, immerhin ließen sich dadurch ja möglicherweise auch Gegenbeispiele gewinnen.

Wenn ich da bei @Dion z.B. lese, dass Landwirtschaft für die Herausbildung von Staaten ein entscheidender Faktor sei, stellt sich mir z.B. ganz konkret die Frage, welche Form von Landwirtschaft man seinerzeit etwa in Venedig denn betrieben hat?
Anpflanzen von Zwiebeln in an Balkonen angebrachten Blumenkästen zwecks Vergrößerung der Bevölkerung?

Wie sieht es denn z.B. mit menschlichen Gesellschaften in Küstengegenden aus?
Benötigten die zur Vergrößerung ihrer Bevölkerung zwangsläufig Landwirtschaft oder wäre nicht z.B. Fischfang, der ja Sesshaftigkeit im ganz anderen Maße zulässt, als die Bejagung von Landtieren, eine valide Alternative?

Ist tatsächlich eine militärische Überlegenheit qua besserer Technik eine entscheidende Voraussetzung für die Herausbildung eines Staatswesens oder wird nicht möglicherweise anders herum ein Schuh daraus?
Ist nicht eigentlich waffentechnische Unterlegenheit eine viel stärkere Triebfeder, weil sie zu ihrem Ausgleich die Implementierung besserer Organisationsformen erfordert?


Da würde ich einiges für sehr diskussionsfähig halten und schon etwas kritischeres Vorgehen erwarten, als sich einfach hinzustellen und zu behaupten "X hat herausgefunden, das Y, Punktum".

X hat allenfalls eine diskutierbare Theorie aufgestellt.
 
Ich persönlich finde die Frage sehr berechtigt, im Besonderen wenn man damit eröffnet, dass herausgefunden, also bewiesen worden sei, dass die Faktoren X,Y global für irgendetwas entscheidend seien.
Mein Einwand bezog sich auf den geforderten Aufwand: die Daten dieses enorm umfangreichen wissenschaftlichen Projekts in einem Forumsbeitrag auf ihre Validität zu überprüfen - das Datenmaterial bzw. wie man rankommt, ist ja verlinkt. Die publizierte Schlussfolgerung, die @Dion möglicherweise etwas forsch formuliert hat, scheint mir hingegen diskutierenswert (schade, dass der Artikel darüber hinter einer paywall lagert)
 
Wenn du dich zum Anwalt dieser Big Data-Analyse machst,...
Warum so aggressiv?
Was ist denn an einer einfachen Feststellung aggressiv?

Zuerst sagst du, diese Forscher hätten eine Weltformel gefunden, und jetzt bin ich deren Anwalt. o_O
In Beitrag #1 hast du die These vorgestellt.
In Beitrag #3 hast du sie verteidigt, dich also gewissermaßen zu ihrem Anwalt gemacht. -->Feststellung.
 
Diskutieren kann man das sicherlich, das ist ja ein durchaus interessanter Ansatz, auch wenn er wohl eher auf Tendenzen, als auf verabsolutierbare Faktoren abzielt.
Nur dann müsste man sich, wie ELQ schon richtig eingewand hatte erstmal damit auseinandersetzen, nach welchen Kriterien "Staat" da definiert ist und ob man die für sinnvoll hält.

Im Hinblick auf die Validität ist das, denke ich, ein und die selbe Diskussion.
Myriarden zusammengetragener Daten können ja alle für sich genommen überprüfbar richtig sein und im Zusammenhang die postulierte Schlussfolgerung trotzdem nicht hergeben oder es eben doch tun, aber dabei das Problem aufweisen, dass sie in diesem Sinne nicht repräsentativ genug sind, für das, was daraus eigentlich folgen soll.

Sollte man ggf. problematisieren, wenn man so etwas als Tatsachen verkaufen will.
 
Eine Hypothese lautet, der Staat sei entstanden, um öffentliche Güter zu schaffen, die allen zugutekommen, an denen sich also alle beteiligen sollten: eine Trinkwasserversorgung zum Beispiel, Straßen, Häfen und Brücken.

Ließe sich auch umdrehen, und behaupten, der Staat sei entstanden um privates Eigentum zu schaffen und zu schützen und somit Formen der gemeinsamen Bewirtschaftung abzuwickeln.

Einer anderen These zufolge entstanden komplexe Gesellschaften, weil nur so ein verlässlicher Import von Nahrung möglich war, auf den eine Stadt angewiesen war

Wäre die Frage zu stellen, ist eine Stadt zwangsläufig auf den Import von Nahrungsmitteln angewiesen?
So manche Küstenstadt dürfte vermittels Fischerei mehr Nahrungsmittel produziert haben, als sie selbst verbrauchen konnte.
Demnacht hätten in entsprechenden Küstengegenden keine entsprechend komplexen Gesellschaften entstehten können?

Andere Theorien betonen die Rolle von Eliten: Diese hätten einen komplexen Staat erschaffen, um ihre Vormacht und Privilegien zu sichern.
Oder ist der Staat als Gegenmacht geschaffen worden um ihre Macht und Privilegien einzudämmen und in kontrollierbaren Schranken zu halten?

Alternativ heißt es, es sei womöglich die Religion gewesen, genauer: die Vorstellung einer übernatürlichen Strafinstanz, welche die Gesellschaft ordnete.

Und wie erklärt man dann die Entstehung von Staatlichkeit in Weltgegenden, in die der Vorstellung übernatürlicher Strafinstanzen nicht unbedingt so verbreitet ist, wie im Wirkungsbereich der abrahamitischen Religionen?

Oder führte die Bedrohung durch äußere Feinde dazu, dass sich Menschen immer komplizierter und besser organisierten, weil sie sich nur so verteidigen konnten?

Und was ist mit Bevölkerungen, die in so abgeschiedenen/schwer erreichbaren Gegenden lebten, dass sie das eigentlich nur in geringem Maße zu fürchten brauchten?


Alles unausgegoren und alles letztendlich Versuche die Weltformel zu finden, weil sie mehr oder minder monokausal argumentieren.
Die Möglichkeit, dass Staatswesen aus ganz verschiedenen Gründen und zu ganz verschiedenen Zwecken an verschiedenen Orten entstanden sein könnten, wird dabei gar nicht erst in Betracht gezogen.
Und da ist, wie ich das sehe schon der erste elementare Denkfehler, der allen diesen Thesen gemein ist.
 
Wäre die Frage zu stellen, ist eine Stadt zwangsläufig auf den Import von Nahrungsmitteln angewiesen?
So manche Küstenstadt dürfte vermittels Fischerei mehr Nahrungsmittel produziert haben, als sie selbst verbrauchen konnte.
Demnacht hätten in entsprechenden Küstengegenden keine entsprechend komplexen Gesellschaften entstehten können?
Diesen Einwand halte ich für unnötig spitzfindig, denn Küstenanrainer werden sich wohl kaum ausschließlich von Fisch ernährt haben und Küstenlagen (mit zusätzlichem maritimem Nahrungsangebot) sind nicht zwingend hinderlich für Stadt- oder Staatsgründungen.
 
Diesen Einwand halte ich für unnötig spitzfindig, denn Küstenanrainer werden sich wohl kaum ausschließlich von Fisch ernährt haben
Wollte ich auch nicht behaupten.
Wohl aber, dass die Unterstellung einer dezidierten Importabhängikeit, die eine entsprechende Organisation erzwungen hätte mir fraglich erscheint.
Es ist ja nicht so, dass Städte nicht auch noch ein näheres, möglicherweise direkt zur Stadt gehörendes Umland gehabt hätten, das Nahrungsmittel bereitstellen konnte, oder sogar landwirtschaftliche Betriebe innerhalb der Mauern/Palisaden.

und Küstenlagen (mit zusätzlichem maritimem Nahrungsangebot) sind nicht zwingend hinderlich für Stadt- oder Staatsgründungen.
Müssten es aber sein, wenn man darauf abstellen will, dass der Zwang Lebensmittel zu importieren für die Herausbildung entsprechender Organisationen und Staatlichkeit entscheidend sei.

Daraus müsste ja folgen: Je breiter das Nahrungsangebot, desto geringer der Importzwang, desto geringer die Tendenz zu Staatsbildungen.

Daraus müsste eine erhöhte Tendenz zu Staatsgründungen in Wüsten- und Gebirgsgegenden folgen, in denen die Nahrungsmittelversorgung schwierig ist, wohingegen es im Bereich von Küstengegenden eine deutlich geringere Tendenz dazu geben müsste.
 
Müssten es aber sein, wenn man darauf abstellen will, dass der Zwang Lebensmittel zu importieren für die Herausbildung entsprechender Organisationen und Staatlichkeit entscheidend sei.
Daraus müsste ja folgen: Je breiter das Nahrungsangebot, desto geringer der Importzwang, desto geringer die Tendenz zu Staatsbildungen.
Daraus müsste eine erhöhte Tendenz zu Staatsgründungen in Wüsten- und Gebirgsgegenden folgen, in denen die Nahrungsmittelversorgung schwierig ist, wohingegen es im Bereich von Küstengegenden eine deutlich geringere Tendenz dazu geben müsste.
Habe ich irgendwas übersehen?(ist die Besiedlungsgeschichte von Wüsteneien nicht karger und kürzer als die von fruchtbaren Gegenden?) Also dass eine Mangelwirtschaft zur Staatsgründung animiert, ist mir neu - umgekehrt aber wäre mir auch neu, dass wirtschaftliche Prosperität eine Stadt-, Staats- oder Administrationsgrünung verhindern oder unterlaufen würde. Irgendwas begreife ich an deinen Schlussfolgerungen nicht.

ins Blaue hinein: wirtschaftlicher Überfluss bei Arbeitsteiligkeit macht es möglich, Administration, Militär, Gerichtsbarkeit etc zu "ernähren" - eine Mangelwirtschaft hat es da weitaus schwieriger...
 
Ich hatte mich hierauf bezogen:

Einer anderen These zufolge entstanden komplexe Gesellschaften, weil nur so ein verlässlicher Import von Nahrung möglich war, auf den eine Stadt angewiesen war.

Wenn man das annimmt, müsste die Tendenz zur Herausbildung komplexer Gesellschaften/Staatlichkeit ja proportional mit der Importnotwendigkeit wachsen, dementsprechend müssten die unwirtlichsten Gegenden die komplexesten Gesellschaften hervorbringen.
 
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