Hilfreich für die Interpretation von Sagen sind historische Überlieferungen. Ebenso das, was El Quijote als Mythem bezeichnet hat. Aber der Reihe nach. Es ist komplexer als ich schreibe.
Schon in einführenden Werken, wie ich sie empfohlen habe, finden sich auffällige Ähnlichkeiten, die Motive erklären.
1- Ägypten nahm in Notzeiten Nomaden aus dem Osten auf. Dafür war anscheinend ein Landstrich im Osten des und östlich des Deltas reserviert. Dafür erkannten die Nomaden die ägyptische Oberhoheit an, was u.a. die Verteidigung und die Überwachung von Handelswegen in diese Richtung vereinfachte. Dies waren als Schasu-Nomaden bezeichneten Ethnien. Das klappte nicht immer und vielleicht nur mit einigen Stämmen. (Einige von den Schasu verbündeten sich später mit den Invasoren.) Einige wurden auch als Besiegte dorthin geführt und es ist komplizierter als hier von Interesse ist.
2- Diese Schasu leisteten auch Arbeit für die Ägypter. Erst neulich verkündete eine Dokumentation, dass sie auch am Bau von Pi-Ramesses beteiligt waren. Diese Nachricht kann ich nicht beurteilen.
3- In Zeiten der Schwäche Ägyptens bot dieses natürlich weniger Anziehungskraft und hatte weniger Kontrollmöglichkeiten über die Nomaden.
Unschwer sind hier schon bekannte Motive zu erkennen. Unschwer ist auch zu sehen, dass daraus die Sage eines Exodus entstehen kann, ohne die Geschichte zu vergewaltigen. Es ist auch alles von der Art, dass es überliefert wird, etwa: "In Notzeiten konnten wir Nomaden nach Ägypten. Und weil wir arbeiten mussten, haben wir ihre Städte gebaut. Und dann sind wir weggezogen." Dabei spielt es dann keine Rolle, ob der erzählende Nomadenstamm jemals in Ägypten war. Eine Sage kann einfach übernommen werden.
Nun drängt es Priester, Sagenerzähler und Zuhörer zu einer gewissen Widerspruchslosigkeit, etwa: "Wieso konnten wir der Knechtschaft des mächtigen Ägypten entweichen?"
Neben göttlichem Wirken werden gerne militärische Erfolge für solche Erklärungen hergenommen, mitunter sogar Niederlagen in Siege geändert. Beim Exodus ist es eine Kombination. Hier kann meinetwegen spekuliert werden, dass die Seevölkerschlacht im Delta, aus der sicherlich einige der Nomaden entkommen sind, unter Verdrehung der Tatsachen Pate für das in den Fluten versinkende Ägypterheer war. Doch wir sind hier an einer Grenze. Bevor du dich freust: So eindeutig ist das nämlich nicht, ich nenne es nur als Beispiel für mehrere Vorfälle. Und die wunderbare Rettung kann einfach aus bekannten Motiven und typischen Katastrophen zusammengestückelt sein, die nichts mit zu Erklärendem zu tun haben. Theoderich wurde ungefähr zur Zeit von Attilas Tod geboren. Dennoch treten sie in der Sage gemeinsam als Erwachsene auf.
Wir brauchen keine Seevölker und Libyer, um den Exodus zu erklären. Wenn wir Wunder außen vor lassen, bietet die Geschichte eine simple Erklärung. Selbst die heute so häufige Erklärung, dass es nur um das Ende der Herrschaft Ägyptens über Kanaan ginge, ist komplizierter, weshalb sie laut Ockhams Rasiermesser zurückzuweisen ist. In der historischen Wirklichkeit ist es natürlich komplizierter. Die Israeliten haben sich z.B. erst in Kanaan zusammengefunden.
Schon die Biblische Geschichte ist da verräterisch:
Der Anschluss des Stammes Dan wird kaum verschleiert für die Richterzeit berichtet. (Und einige nehmen an, dass dieser Stamm tatsächlich ein Teil der Seevölker war. Das ist allerdings nicht so einfach, weil Ethnonyme, die sich passend ägyptisch verballhornen lassen, von Syrien bis Griechenland vorkamen.)
Kommen wir zu weithin bekannten Sagenmotiven. Es gibt z.B. immer wieder Sagenmotive, bei denen ein Stamm den anderen ausrottet. Normalerweise überlebt eine oder mehrere Frauen. Das ist nicht immer ein Genozid. Häufig ist zu erkennen, dass sich tatsächlich zwei Ethnien vereint haben. Die Erzählung von der Vernichtung der Midianiter ist ein typischer Vertreter dieser Sagen: Moses Frau ist die Tochter des Königs und die Tat geschieht in der Nacht nach einem Fest. Manche wollen auch die Sage um die Eroberung Jerichos dabei einordnen. Solche Sagen kommen von den Atzteken bis nach Ostasien vor. ( Das Vorkommen bei den Atzteken schließt einen bloßen Topos aus.) Für Literaturangaben zu diesem Motiv müsste ich suchen, wozu ich im Augenblick weder Zeit noch Nerven habe. Hier soll es dementsprechend auch nur als illustrierendes Beispiel dafür stehen, dass es bei Sagen eine Art Kodierung geben kann, deren Hintergrund nur zu verstehen ist, wenn historische Überlieferungen eindeutig sind oder erkannt ist, dass es kein Topos ist und was es bedeutet. Wichtig ist, dass das nicht willkürlich zuzuordnen ist.
Es gibt Sagen, wie Herrscher nach und nach Kulturelemente einführen. Konfuzius hielt entsprechende chinesische Mythen nach einem berühmten Ausspruch für historisch. Doch steht nur dahinter, dass wir auch die Kultur erklären wollen. Und so gibt es entsprechende Erklärungen unabhängig voneinander auf dem Globus verbreitet. Plakativ gesagt: Weder hat ein chinesischer Kaiser die Ehe erfunden, noch der Skaldenmet die Dichtkunst verursacht.
Umgekehrt kann Historisches nur dann zur Erklärung einer Sage herangezogen werden, wenn es wirklich passt. Dazu braucht es aber einer genügenden Kenntnis der Hintergründe. Schon mangels Sprachkenntnisse habe ich mir für diese Zeit neben einigen Grundlagen nur Hintergründe zu so einigen Themen angelesen. Und für diesen Thread Einiges nachgelesen, wo ich zu Rom oder dem Mittelalter sicher wüsste.
Aber um gewisse Fehlschlüsse zu vermeiden, reicht viel weniger. Ich kann nur nochmals darauf Hinweisen, dass es zu Ägypten sehr gute Einführungen gibt.