Demokratie – was sagt die Geschichte dazu?

Dion

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Mich erinnert die russische Begründung, warum sich die Ukraine unterwerfen müsse, an die Begründung Athens gegenüber der Insel Melos, wie im sog. (fiktiven) Melierdialog von Thukydides vor beinahe 2 ½ Jahrtausenden niedergeschrieben – Zitat:

92. MEL.: Wie ist es möglich, dass es für uns vorteilhaft ist, in Knechtschaft zu kommen, wie für euch, die Herrschaft zu erhalten?

93. ATH.: Ihr entschließt euch vielleicht zur Unterwerfung, ehe ihr das Schlimmste erleidet, und für uns ist es ein Gewinn, wenn wir euch nicht zu Grunde richten.

94. MEL.: Damit also würdet ihr nicht zufrieden sein, wenn wir in Ruhe und Frieden euere Freunde statt eure Feinde, und weder mit den einen noch mit den anderen im Bunde wären?

95. Nein, denn euere Feindschaft schadet uns nicht so viel als euere Freundschaft. Diese würden unsere Untertanen als Beweis unserer Schwäche ansehen: euer Hass dagegen gibt uns Gelegenheit, einen Beweis unserer Macht zu geben.

96. MEL.: Haben euere Untertanen denn eine solche Ansicht von dem, was Recht ist, dass sie diejenigen, welche euch nicht angehören, und diejenigen, welche zum größten Teil Kolonien von euch und teilweise nach versuchtem Abfall von euch unterdrückt worden sind, auf gleiche Stufe stellen?

97. ATH.: An Rechtsgründen, meinen sie, fehle es den einen so wenig als den anderen; in der Tat schreiben sie es ihrer Macht zu, dass sie sich behaupten, und unserer Furcht, wenn wir sie nicht angreifen. Abgesehen also davon, dass wir unsere Herrschaft vergrößern, erfordert es unsere Sicherheit, das ihr euch unterwerft, zumal wenn ihr als Inselbewohner gegen uns, die wir Herren des Meeres sind, bei geringerer Macht, als andere besitzen, euch behaupten solltet.


Hier tritt Athen als Hegemon auf, der keine Neutralität duldet. Dabei war Athen eine Demokratie, allerdings eine direkte, in der zuletzt die “niederen”* Stände durch Demagogen (Perikles?) leicht beeinflusst werden konnten.

Ist wegen dieser Anfälligkeit die direkte Demokratie abzulehnen? Ich meine, nach der Verfassung aus dem 1993 war die Russische Föderation auch eine Demokratie – und ist das dem Namen nach immer noch. Aber in der Wirklichkeit ist sie, auch nach mehreren Verfassungsänderungen**, davon weit entfernt: Sie ist eine Autokratie.

* ich habe keinen besseren Begriff für die Zeugiten und Theten gefunden.

** Nach die letzten Verfassungsänderungen im Jahr 2020 dürfen Minister, Richter, Regionalleiter zum Zeitpunkt ihrer Tätigkeit im Amt keine ausländische Staatsbürgerschaft oder Aufenthaltserlaubnis besitzen. Und Präsidentschaftskandidaten müssen die vorherigen 25 Jahre in Russland gelebt haben und dürfen nie eine ausländische Aufenthaltserlaubnis, einen Erstwohnsitz im Ausland und eine ausländische Staatsbürgerschaft besessen haben. (wikipedia)

Das ähnelt ein wenig der von Perikles angeregten Bestimmung***, wonach “nur diejenigen Anspruch auf das Bürgerrecht haben sollten, deren beide Elternteile es ebenfalls besaßen.” - um von Ariengesetzen der Nazis ganz zu schweigen.

*** Für seine Frau Aspasia, die nicht aus Athen stammte, erwirkte er aber eine Ausnamegenehmigung. :D
 
Ist wegen dieser Anfälligkeit die direkte Demokratie abzulehnen?
Die Schweiz lehrt das Gegenteil.

Grundsätzlich kann jede Demokratie, egal ob direkt oder repräsentativ, den Bach hinuntergehen oder arg ungute Entscheidungen hervorbringen. Beispiele bietet die Geschichte en masse.

Ich würde sogar meinen, bei repräsentativen Demokratien ist die Gefahr, dass sie sich zu Autokratien entwickeln, größer, weil die (ursprünglich demokratisch gewählten) Regierenden jahrelang an der Macht sind, dabei Zugriff auf die Mittel des Staates haben und sie nutzen können, um z.B. oppositionelle Parteien und Medien zu drangsalieren. Auch die Judikative bietet nur bedingt ein Regulativ, weil die Richter zwar unabhängig sein mögen, aber irgendwie bestellt werden müssen. Egal wie viele formal unabhängige Kommissionen und Gremien man zwischenschaltet, über diverse Ecken und Enden kann meist dennoch die Regierung Einfluss auf die Richterbestellung nehmen, vor allem bei den besonders wichtigen Höchstgerichten, die gegebenenfalls über die Rechtmäßigkeit des Regierungshandelns zu entscheiden haben.
 
Hier tritt Athen als Hegemon auf, der keine Neutralität duldet. Dabei war Athen eine Demokratie, allerdings eine direkte, in der zuletzt die “niederen”* Stände durch Demagogen (Perikles?) leicht beeinflusst werden konnten.

Ist wegen dieser Anfälligkeit die direkte Demokratie abzulehnen?
Was man so "Demokratie" nennt.

Was in Athen als Demokratie galt, schloss ja einen Großteil der Bevölkerung von der Parizipation aus.

Wenn die Anzahl derer die voll parizipationsberechtigt und damit eigentlicher Träger des Systems sind, ist das natürlich notorisch instabil, weil zu erwarten ist, dass die Ausgeschlossenen mit ihrem Status nicht zufrieden sind und früher oder später an diesem System rütteln werden um selbst volle politische Rechte zu erlangen, außerdem ist natürlich die Gefahr der Verfilzung und Korruption relativ groß, wenn die Zahl der Partizipationsberechtigten so überschaubar ist, dass die Rolle von persönlichen und klientelistischen Netzwerken eine kritische Größe erreicht.
 
In Athen waren allerdings nicht die Metoiken der Grund für die politische Instabilität und die oligarchischen Umsturzversuche.
 
Die Schweiz lehrt das Gegenteil.
Bin ich mir nicht so sicher. Mal unabhängig davon, dass auch in der Schweiz die Unzufriedenheit wächst und die direktdemokratischen Elemente erlahmen (durchschnittliche Wahlbeteiligung: 46%, Quelle), würde ich die Schweiz als historische Anomalie aus solchen Betrachtungen ausklammern. Die geographische Lage und die Politik der Nichteinmischung seit der frühen Neuzeit haben die Schweiz weitestgehend davor bewahrt, in äußere Konflikte hineingezogen zu werden; und äußere Konflikte sind nun mal eine der stärksten Triebfedern für Konflikte im Inneren. Schweden, indes eine repräsentative Demokratie, hat eine ähnliche Entwicklung vollzogen und genießt ebenfalls ein hohes Maß an Stabilität und Freiheit. Letztlich gibt es aber wohl zu wenige direkte Demokratien, als dass man sichere Aussagen über die Stabilität des Systems insgesamt treffen könnte.
 
In Athen waren allerdings nicht die Metoiken der Grund für die politische Instabilität und die oligarchischen Umsturzversuche.
Das wollte ich auch nicht behaupten, das Ganze war eher allgemein auf die Gefahr für die systemische Stabilität gemünzt, die eine vergleichsweise schmale tragende Basis in der Bevölkerung bedeutet.

Die Gefahr eines Umsturzes muss natürlich nicht ursächlich von "unten" ausgehen.
Aber wenn ein Großteil der Bvölkerung keinen Grund hat ein politisches System zu stützen oder durch Demagogie von Teilen der Oberschicht, die gern allein an die Macht wollen sogar noch dazu animiert werden kann einem solchen Umstutz positiv gegenüberzustehen, hat dieses System natürlich ein Problem.

Einschräkend wird man sagen müssen, dass auch Systeme mit weitgehender Patizipation vor so etwas nicht letztgültig sicher sicher sind (das hat man im vergangenen Jahrhundert ja zu Genüge erlebt), aber die weitgehende Entrechtung großer Teile der Bevölkerung und damit einhergehend deren natürliches Desintresse am Erhalt des Systems oder mindestens ihre Gleichgültigkeit demgegenüber dürften solche Umbrüche jedenfalls deutlich wahrscheinlicher machen.
 
Zumal die direkte Demokratie in der Schweiz lange auch das Frauenwahlrecht verhindert hat - im Kanton Appenzell Innerrhoden bis 1990.
Wohl wahr. Ein weiteres Negativbeispiel wären die USA, die zwar auf Bundesebene sehr repräsentativ aufgestellt sind, auf Bezirksebene jedoch werden sogar die Richter, Staatsanwälte und Polizeichefs gewählt. Dabei kommen mitunter abschreckende Ergebnisse heraus.

Korrumpiert werden Demokratien immer durch den Demos, insofern glaube ich nicht, dass direkte Demokratien per se widerstandsfähiger sind.
 
… die direktdemokratischen Elemente erlahmen (durchschnittliche Wahlbeteiligung: 46%, Quelle), würde ich die Schweiz …
Da muss ich widersprechen. Ich kann zwar leider der Quelle nicht anschauen (??) aber die Zahlen sagen was anderes (Quelle). In der Grafik weit unten siehst du, dass das Abstimmungsverhalten seit den 1960ern konstant ist und das Wahlverhalten seit den 1980ern. Beide zwar tief, eher am steigen als am sinken.
Und die Anzahl an Abstimmungen auf nationaler Ebene ist seit der 1980ern hoch im Vergleich zufrüher. In den Jahren seit 2021 sogar höher als je zuvor (Quelle). Bei den kantonalen und kommunalen Vorlagen sehen die Zahlen meines Wissens ähnlich aus.
Von einem Erlahmen kann kaum die Rede sein. Dass die Abstimmungsbeteiligung niedrig ist, lässt sich durch die Art und Anzahl der Vorlagen erklären.
 
Als Schweizer halte ich das direkte an unserer Demokratie nicht für widerstandsfähiger oder besser als andere Formen und ich bin gewiss nicht stolz darauf, dass die Frauen erst 1971 das Stimm- und Wahlrecht auf Bundesebene erhielten.

Wenn etwas das Schweizer System mMn widerstandsfähig macht, dann ist es die Form der Konkordanzdemokratie, also die Einbindung möglichst unterschiedlicher Parteien in die Regierung. Das dauerte in der Schweiz lange, um von einer Ein-Parteien-Regierung zur ungeschriebenen "Zauberformel" von 4 Parteien zu gelangen. Diese Regierung ist nicht einmal direktdemokratisch, sondern vom Parlament gewählt und es kam immer mal wieder vor, dass Personen mit zu akzentuierten Positionen nicht oder nicht mehr in die Regierung gewählt wurden. Das machte es bisher für Demagogen schwieriger an Machtpositionen zu gelangen.

Soviel ich weiß, haben aber auch andere Länder ohne direkte Demokratie ähnliche Regeln und Formeln gefunden.
 
Zumal die direkte Demokratie in der Schweiz lange auch das Frauenwahlrecht verhindert hat - im Kanton Appenzell Innerrhoden bis 1990.

Zur Präzisierung: Auf Bundesebene durften die Frauen in Appenzell Innerhoden zur gleichen Zeit an den Wahlen teilnehmen wie alle andern auch. Auf Kantonsebene sah es anders aus. Im Frühling 1990 lehnten die Männer an der Landsgemeinde das Frauenstimmrecht im Kanton erneut ab, darauf hin gingen Beschwerden beim Bundesgericht ein und am 26. November 1990 entschied das Bundesgericht gegen die Landsgemeinde im Appenzell Innerrhoden, damit wurden das Stimm- und Wahlrecht auch im Kanton eingeführt.
 
Wie Kommunismus/Sozialismus in der ex-DDR – und m.E. vermutlich auch in anderen Ländern Osteuropas – nachwirkt, zeigt eine Studie des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung - Zitat:

Anhand des natürlichen Experiments der deutschen Teilung und der späteren Wiedervereinigung zeigen wir, dass das Leben im Kommunismus dauerhafte Auswirkungen auf die Einstellung zur Meinungsfreiheit hatte und dass der Konvergenzprozess nur langsam vonstatten ging. Ostdeutsche sehen die Meinungsfreiheit immer noch seltener als eine der wichtigsten Prioritäten der Regierung an als Westdeutsche. Die Auswirkungen sind bei den Kohorten, die am längsten im Kommunismus gelebt haben, am größten. Dies ist ein Beleg dafür, dass eine längere Exposition gegenüber den Merkmalen des Sozialismus - einschließlich Indoktrination und Unterdrückung - die Wertschätzung der Redefreiheit kollektiv verringert.

Insofern wird jetzt verständlicher, warum die Rufe “System- bzw. Lügenpresse” besonders im Osten der Republik populär sind. Aber diese Beobachtung dürfte auch für andere Diktaturen und andere Bereiche des Lebens zutreffen, die in diesen Ländern einst von der Bevölkerung als negativ bewertet wurden - z.B. Justiz, Polizei bzw. die sonstigen staatlichen und öffentlichen Einrichtungen, weil diese früher Repräsentanten eines verhassten Staates waren.

Deswegen nimmt es nicht Wunder, warum z.B. in arabischen Ländern, die so lange unter Diktaturen gelebt haben, dem sog. Arabischen Frühling keinen dauerhaften Erfolg beschieden war oder ist. Selbst wenn da gewählt wird, dann heißt es meistens: one man, one vote, one time. Soll heißen, da wird nur einmal frei gewählt, danach sorgt das Militär oder der Gewählte, dass nicht mehr frei gewählt wird – als Illustration des Gesagten siehe z.B. Tunesien.
 
Wie Kommunismus/Sozialismus in der ex-DDR – und m.E. vermutlich auch in anderen Ländern Osteuropas – nachwirkt, zeigt eine Studie des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung - Zitat:

Anhand des natürlichen Experiments der deutschen Teilung und der späteren Wiedervereinigung zeigen wir, dass das Leben im Kommunismus dauerhafte Auswirkungen auf die Einstellung zur Meinungsfreiheit hatte und dass der Konvergenzprozess nur langsam vonstatten ging. Ostdeutsche sehen die Meinungsfreiheit immer noch seltener als eine der wichtigsten Prioritäten der Regierung an als Westdeutsche. Die Auswirkungen sind bei den Kohorten, die am längsten im Kommunismus gelebt haben, am größten. Dies ist ein Beleg dafür, dass eine längere Exposition gegenüber den Merkmalen des Sozialismus - einschließlich Indoktrination und Unterdrückung - die Wertschätzung der Redefreiheit kollektiv verringert.

Insofern wird jetzt verständlicher, warum die Rufe “System- bzw. Lügenpresse” besonders im Osten der Republik populär sind.

Ich sehe hier durchaus zwei Probleme, die allerdings nichts miteinander zu tun haben.
1.) es ist ja ein Widerspruch in sich, dass den Leuten Meinungsfreiheit nicht so wichtig sei, sie aber die Presse als Lügenpresse titulieren, denn dahinter steckt ja die verschwörungserzählerische Auffassung, von den vermeintlich staatsgelenkten Medien betrogen zu werden.
Man kann natürlich sagen, es geht nicht wirklich um Meinungsfreiheit, sondern darum, dass gewisse Kreise jede andere Meinung als die ihre als Angriff auf ihre Meinungsfreiheit sehen.

2.) Die unkritische Bezeichnung der Ostblockregime als sozialistisch/kommunistisch. Es waren Diktaturen, die Bezeichnungen Sozialismus/Kommunismus nichts weiter als die Rechtfertigung der Herrschaft der jeweiligen Parteien, welche die Deutungshoheit monopolisiert hatten.

Macht ist eine Frage der Organisiertheit. Fast überall in den Ostblockstaaten haben sich Leute, die bereits im Staatsapparat organisiert waren an die Spitze derjenigen revolutionären Bewegungen gestellt, welche die Machtvdes Staates in Frage stellten, das Wartin Ungarn so, das war in Rumänien so, das war in Russland so. In Polen und Dtld. lief es ein wenig anders, in Polen, weil dort eine bereits organisierte Opposition bestand, in Dtld. weil der Westen Einfluss nahm, insbesondere die CDU.
 
1.) es ist ja ein Widerspruch in sich, dass den Leuten Meinungsfreiheit nicht so wichtig sei, sie aber die Presse als Lügenpresse titulieren, denn dahinter steckt ja die verschwörungserzählerische Auffassung, von den vermeintlich staatsgelenkten Medien betrogen zu werden.
Ich sehe es anders: Diese Menschen sehen auch die freien Medien als vom Staat gelenkt, weil sie von früher nichts anderes kannten. Sie wurden immer wieder belogen, bis sich ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Medien entwickelte. Deswegen auch die Korrelation mit der Länge des Lebens in der Diktatur: Je länger, desto kritischer.
 
Ich sehe es anders: Diese Menschen sehen auch die freien Medien als vom Staat gelenkt,
Was genau siehst du jetzt anders? .

Deswegen auch die Korrelation mit der Länge des Lebens in der Diktatur: Je länger, desto kritischer.
Und genau hier sehe ich den Widerspruch. Die Behauptung ist ja, dass Meinungsfreiheit von Leuten mit Diktaturerfahrung eine zurückgesetzte Priorität habe. Also letztlich müssten solche Leute doch zufrieden sein mit jeglicher Pressearbeit, ob gut oder schlecht. Was wir aber erleben ist, dass eine diverse Presse in cummulo als regierungsgesteuert behauptet wird. Dass in derselben Zeitung, in denselben Nachrichtensendungen neben Bsrichterstattung positive wie negative Kommentare zu verschiedenen Sachverhalten veröffentlicht werden, wird gar nicht wahrgenommen.
Eine kritische Wahrnehmung dessen, was in der Presse veröffentlicht wird, ist ja grundsätzlich richtig und zwar unabhängig davon, ob es FAZ oder taz ist. Kritisch heißt aber nicht, alles als Lug und Trug abzutun, sondern selbst zu denken.
 
Es ist nicht die Distanz gegenüber den Medien alleine, sondern generell gegenüber allen Institutionen, welche das herrschende gesellschaftliche System tragen. In Juli Zehs Unterleuten wird das stark veranschaulicht. Aus Westdeutschland gekommen lebe ich in Ostdeutschland und kenne diese Einstellung aus eigener Erfahrung. Eigentlich ist das nicht so verwunderlich: Von 1933 bis 1989 gab es ja einen geschlossenen Herrschaftsapparat, zu dem neben Politik und Staatsmacht auch Medien und Kulturbetrieb gehörten. Seit1990 ist die Gesellschaft zwar freiheitlich organisiert, es konnte aber nicht anders sein, als dass die meisten Ostdeutschen die nun dominierenden West-Eliten, sei es in der Politik, in der Wirtschaft oder auch in den Medien, zunächst wiederum als eine fremde Macht, um nicht zu sagen als eine Fremdherrschaft empfanden. Und leider hat sich das bis heute kaum geändert, sicher auch deshalb, weil viele der Leute, die mit der neuen Welt nicht fremdelten, gar nicht mehr im Osten leben.
 
Ich sehe es anders: Diese Menschen sehen auch die freien Medien als vom Staat gelenkt, weil sie von früher nichts anderes kannten. Sie wurden immer wieder belogen, bis sich ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber Medien entwickelte. Deswegen auch die Korrelation mit der Länge des Lebens in der Diktatur: Je länger, desto kritischer.
Da wird man schon differenzieren müssen.

Es gibt sicherlich Leute, die ausgeprägt medienkritisch sind, aber das trifft auf den Großteil derer, die "Lügenpresse" u.ä. skandieren offenkundig nicht zu.
Das sind in weiten Teilen die gleichen Millieus, die offensichtlich extrem unkritisch, was Wahrheitsgehalte etc. angeht Inhalte von "Russia Today" & Co zu "Wahrheiten" erklären und weiter verbreiten.

Diese Leute wiederrum haben mit einer allgemein medienkritischen Haltung nichts zu tun, sondern sind einfach nur sauer darüber, dass die Öffentlichkeit ihrer persönlichen Ideolgie nicht den Raum einräumt, den sie gene dafür hätten und darüber, dass man nicht medial die Lügen, an die sie gern glauben möchten vermarktet und zur Grundlage des gesellschaftlichen Diskurses macht.
Diese Leute regen sich de facto nicht über tendenziöse oder verzerrte Darstellungen in den Medien auf, sondern nur darüber, das bei akkuraten oder möglicherweise auch verzerrten Darstellungen (man muss ja durchaus nicht so tun, als gäbe es die nicht durchaus auch, Bild und Co lassen grüßen), nicht die von ihnen gewünschten Verzerrungen in die von ihnen gewünschte politische Richtung bespielen.

Insofern halte ich Versuche dieses Phänomen generell mit irgendwelchen Lebenserfahrungen von anno Schnee zu erklären, für unbrauchbar, ein guter Teil der Leute, die "Lügenpresse" skandieren, tut das einfach aus dem Grund, dass er das aus ideologischen Gründen will.
 
Was wir aber erleben ist, dass eine diverse Presse in cummulo als regierungsgesteuert behauptet wird.
Eben. Deshalb muss man sich fragen, warum das in Ostdeutschland überproportional häufig so gesehen wird. Eine Möglichkeit zeigt die oben erwähnte Studie und eine andere Beobachtung hat @Clemens64 gebracht.

Diese letzte korrespondiert ein wenig mit der Hypothese von James Hawes, der zufolge es sich östlich der Elbe um einen historischen deutsch-slawisches-Konflikt handelt – Stichwort: Ostkolonisation –, der ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber den Herrschenden generierte.

Wir haben hier also 3 infrage kommenden Beobachtungen bzw. Annahmen, die zusammen erklären können, warum Ostdeutsche politisch anders denken als Westdeutsche.

Wer eine andere Erklärung hat, soll sie bitte hier bringen.
 
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