Die Boier - neuere Forschungen

Ich will die wissenschaftlichen Kontroversen von auf die Eisenzeit im östlichen Mitteleuropa und Südosteuropa spezialisierte Forscherinnen und Forscher aus mehreren Ländern, die 2012 bei einer Konferenz in Rzeszów „öffentlich wurde, versuchen "kurz" darzustellen. Auslöser der Kontroversen war die wohl überraschende Uneinigkeit über die Ausdehnung und Lokalisierung des Stammes der Boier auf dieser Konferenz (Thema war Erscheinungsformen von Gewalt in der Eisenzeit). Konsequenz war eine internationale Konferenz zum Boier-Thema zu organisieren, die dann im November 2013 in Ceský Krumlov unter dem Titel Boier zwischen Realität und Fiktion in Tschechien stattfand. Susanne Sievers (Frankfurt), Vladimir Salač (Prag) und Maciej Karwowski (Rzeszów) waren verantwortlich für die Realisierung.

Die „internen“ Kontroversen zwischen AlthistorikerInnen, ArchäologInnen und NumismatikerInnen aus Österreich, Tschechien, Deutschland, Slowakei, Ungarn und Polen drangen kaum nach „außen“ (Es waren auch Forscherinnen aus westeuropäischen Ländern wie Frankreich und England beteiligt, aber auch aus Kroatien und Bosnien-Herzogowina, ihre Beiträge zum Beispiel zu den Boiern in Frankreich enthielten sich jedoch eine Position in der Debatte zu beziehen). Mein Eindruck von außen ist, dass die Pole „Wien“ und „Prag“ (unterschiedlich stark ausgeprägt) sind. In einigen Beiträgen tauchen Anführungszeichen auf, als Anpassung an die Infragestellung alter Sicherheiten. So überschreibt der deutsche Numismatiker Bernward Ziegaus sein Referat „Boische“ Münzen in Süddeutschland – Fremde Prägungen mit überregionaler Gültigkeit?

Das traditionell als Boisches Münzsystem bezeichnete, seit dem dritten Jahrhundert BC archäologisch nachgewiesene Geldsystem, beruht auf der Lokalisierung der Boier anhand historischer Quellen (Cäsar, Strabon, V. Paterculus, Tacitus) und war bisher fest verankert, ist infrage gestellt, kann sich jedoch noch nicht von seiner ethnischen Verbindung lösen: sonst müsste das Münzsystem z.B. in (neutraler) mitteleuropäisch-ostkeltisches bimetallisches Münzsystem (im Kontrast zu einer Silberzone latènezeitlicher Münzsysteme im östlichen Mitteleuropa) umbenannt werden. Inwiefern die Debatte fruchtbar und produktiv war, und Ergebnisse hatte, kann ich leider nicht erkennen. Ich habe ergebnislos versucht in neueren Veröffentlichungen Anschlüsse zu finden, (und warte noch auf die Veröffentlichung von einer Konferenz 2022). Ich fand die Debatte jedoch so interessant, dass ich mein Versprechen von 2017 endlich einlösen wollte (warum noch einmal acht Jahre warten?).

Die Auseinandersetzung ist eine methodische und inhaltliche Kritik der auf Zirkelschlüssen beruhenden Aussagen und Ableitungen der Forschung seit dem 16.Jahrhundert. Zentrales Thema ist die Lokalisierung der Boier in Böhmen – darauf baut jede weitere Identifizierung auf. Daran entzündet sich die Kritik logisch folgend am Namen der Boier – sind es mehrere Gentes die den gleichen Namen benutzten?, und am boischen Geldsystem der Laténekultur, die auf der Identifizierung der Boier mit Böhmen beruht. Aufgrund der Kontroversen entwickelten sich weitere „Nebenkriegsschauplätze“ um die Lokalisierung der Boier-Einöde, der Realität eines Angriffs auf das Norikum, die Aussage Strabons, dass die Boier nach ihrer Niederlage in Norditalien an die Donau ausgewandert wären, die Beziehung der böhmischen Boier zum spätlaténezeitlichen Oppidum in Bratislava (Slowakei), und auch zur zeitlichen Chronologie der Ereignisgeschichte – die Kontroversen werden eingeleitet auch mit einer zum Teil radikalen Quellenkritik. Ich werde mit dem zentralen Thema, der Lokalisierung der Boier in Böhmen, auch anhand des überlieferten Begriffs des Boiohaemum bzw. Boihaemum (Velleius Paterculus 2,109,5) und Βουίαιμον (Strabon 7,1,3) beginnen, und sehen, wie stark hier Interesse an diesem doch speziellen Thema vorhanden ist.

Unten Kartenauszug aus Germania veteris von Abraham Ortelius, 1606
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Einige Artikel gibt es online, darunter Vladimír Salač, Urboiohaemum, Boiohaemum und Böhmen:


Oder Wolfgang David, Boier zwischen Norditalien und dem Donauraum:


Einen kurzen Lexikonartikel gibt es hier:
 
Die antiken Quellen zur Lokalisierung der Boier vor der römischen Okkupationszeit

Ich möchte anfangs die antiken Quellen und Nachrichten über die Boier, die auf eine mitteleuropäische Lokalisierung schließen lassen, kurz und wenig kommentiert voranstellen, eingeteilt in die Quellen, die eine allgemeinere räumliche Zuordnung treffen, und im zweiten Teil folgend die Quellen um die Zeitenwende, die konkret von einem „Boiohaemum“ sprechen.

Auch wenn der Name der Boier in der von Titus Livius geschilderten gallischen Auswanderungssage aus der Zeit des Lucius Tarquinius Priscus (legendärer römischer König im 6.Jahrhundert v.Chr.) nur im Zusammenhang mit einer dritten Einwanderungswelle nach Norditalien genannt wird, und in der Forschung im Kern der Sage ein Herkunftsmythos der norditalienischen Insubrer vermutet wird, gibt es in der Erzählung einen ersten Hinweis auf „Kelten in Germanien“: „Als Tarquinius Priscus in Rom herrschte, hatten bei den Kelten, die den dritten Teil Galliens ausmachen, die Biturigen die höchste Macht. Sie stellten innerhalb des keltischen Bevölkerungsteils (dem Celticum) den König. Das war damals Ambicatus, ein überaus mächtiger Mann durch seine Tüchtigkeit und weil das Glück ihm und vor allem auch seinem Volk hold war; denn unter seiner Herrschaft war Gallien so reich an Früchten und Menschen, dass es schien, als könne die übergroße Menge kaum noch regiert werden. Weil er das Königreich von der drückenden Übervölkerung zu entlasten wünschte, selbst aber schon hoch an Jahren war, erklärte er, er werde Bellovesus und Segovesus, die Söhne seiner Schwester, energische junge Männer, zu den Wohnsitzen schicken, die die Götter ihnen durch ihre Zeichen geben würden. Sie sollten eine Anzahl Leute aufbieten, so viele, wie sie selbst wollten, damit keine Völkerschaft die Ankommenden abwehren könne. Darauf erhielt Segovesus durch die Lose die Hercynischen Wälder; dem Bellovesus gaben die Götter den weit erfreulicheren Weg nach Italien (Liv. V,34) “und „Nachher gingen die Boier und Lingonen über den Poeninus (Großer St. Bernhard-Pass), und weil sie schon die ganze Gegend zwischen Po und Alpen besetzt fanden, fuhren sie mit Flößen über den Po und trieben nicht allein die Etrusker, sondern auch die Umbrier aus ihren Besitzungen. (Liv. V,35).“

Die Namen der Hauptpersonen sind keltisch, Ambicatus ist der „Nach zwei Seiten Kämpfende“ oder nach Birkhan der „Ringsumkämpfende“, Segovesos (keltische Form) der „Der Siege Würdig(e)“. In der Aufzählung der gallischen Stämme bezieht Titus Livius jedoch aktuelleres Wissen von Poseidonios und Cäsars Feldzügen mit ein. Auch die Matrilinearität (Auszug der Schwestersöhne) der Sage spricht für eine keltische Überlieferung.

Plutarch erzählt im „Leben des Camillus“ eine abgewandelte Wanderungslegende: „Die Gallier stammten aus keltischen Stämmen und waren so zahlreich, dass sie, wie man sagt, ihr eigenes Land verließen, das sie nicht alle ernähren konnte, und sich auf die Suche nach einem anderen machten. Sie waren viele Myriaden junger Krieger und nahmen eine noch größere Zahl Frauen und Kinder mit. Einige von ihnen überquerten die Rhipäischen Berge, strömten Richtung Nordmeer und besiedelten die entlegensten Teile Europas. (Plut. Cam,15).

Die Rhipäischen Berge „am Rand der Welt“ könnten bei Plutarch die Waldgebirge Hercynias sein, aber auch nur mythisch die nördlichste oder nordöstlichste Grenze kennzeichnen (der Name der Berge weist darauf hin, dass hier der Entstehungsort des Nordwinds Boreas verortet wird, altgriechisch ῥιπή „Windböe“ oder „Atemhauch“ (Plin. nat. IV 88). Die Riphäen (und mit ihnen die Hyperboreer, die „jenseits des Boreas „Nordwindes“ wohnen), wurden mit fortschreitender geographischer Kenntnis immer weiter verschoben. „Aristoteles verbindet damit die für ihn glaubwürdige und aus physikalischen Gründen unverzichtbare Annahme ›der alten Meteorologen‹ vom rhipäischen Nordgebirge (meteor. 2, 1, 354 a), das die Flüsse nach Süden entsendet, vermeidet aber den Widerspruch (und erklärt zugleich die Richtung der südrussischen Ströme) durch die (astronomisch begründete) Verschiebung der Rhipäen nach Osten.“ (Dieter Timpe) Der Hercynische Wald (vom indogermanischen Wort für Eiche abgeleitet „Eichenwald“) wurde in der mediterranen Welt durch die Geographika des Eratosthenes von Kyrene (275-195 v.Chr.) bekannt, und von Poseidonios von Apameia (ca. 135-51/50 v.Chr.) beschrieben. „Mit dieser Entdeckung wird auch die Kenntnis des ›hercynischen Waldgebirges‹ zusammenhängen. Aristoteles, der es für uns als erster erwähnt, bezeichnet damit die gesamte Mittelgebirgszone; er nennt die »ρη ’Aρkυνα« das »größte Gebirge« der Region nach Höhe und Ausdehnung und hält sie für das Quellgebiet nach Norden abfließender Ströme, lokalisiert also den hercynischen Wald nördlich der Donau. Damit ist grundsätzlich die südnördliche Gefällerichtung Mitteleuropas erkannt, das folglich am Nordozean enden musste, nicht an einem nördlichen Randgebirge.“ (Dieter Timpe, Mitteleuropa in den Augen der Römer)

Die ursprünglich von den älteren griechischen Ethnographen den Hyperboreern zugewiesenen Regionen Mitteleuropas wurden von dem Universalhistoriker Ephoros im 4. Jh. v. Chr. den Kelten zugewiesen, die Hyperboreer selbst weiter nördlich verschoben – bis sie schließlich „aus Platzmangel“ auf einer fiktiven Insel Helixoia im Ozean nördlich des Kontinents verortet werden (Diodor II,47, bei ihm erzählt nach Hekataios von Abdera - eine Insel nördlich der Kelten). Noch bis zu Diodor kennt die Ethnographie im Westen und Norden nur Kelten, im Nordosten Skythen,
an deren unbestimmten Grenze Keltoskythen, jedoch keine Germanen.

Eine die Boier im Hercynischen Wald verorteten Nachricht aus dem 2.Jahrhundert BC erfährt man über Strabon von Poseidonios:“Er sagt auch, die Boier hätten früher den Hercynischen Wald bewohnt, und die Cimbrer aber, welche bis in diese Gegend vorgedrungen, wären, von den Boiern zurückgeworfen, nach dem Ister und zu den gallischen Skordiskern hinabgezogen,“ (Strab VII,2,2)

Die Wanderungssage in den Hercynischen Wald lässt sich bei Cäsar (ca. 53 v.Chr.) fortsetzen: in Buch VI des Gallischen Kriegs nimmt er innerhalb seines Germanienexkurses und vor der Beschreibung des Hercynischen Walds (Caes. VI,24) einen Rückblick vor: früher wären die Gallier tapferer als die Germanen gewesen, und hätten Siedler über den Rhein geschickt. Interessanterweise lässt Cäsar nur die Volcae Tectosages (als gallischen Stamm) noch in seiner Zeit mitten im Hercynischen Wald in der fruchtbarsten Gegend siedeln. Die (ehemals?) rechtsrheinisch (jenseits des Rheins) siedelnden Boier erwähnt er nur beim Auszug der Helvetier. Diese hätten Noreia (in den Ostalpen) belagert (Cäs I,5). - im Vergleich zu den Helvetiern ist die Anzahl von 32.000 Boiern gering, die Gesamtzahl der auswandernden Helvetier gibt Cäsar mit 263.000 Helvetiern an (Cäs. I,29).

Erst bei Tacitus, sehr viel später, werden die Boier (und Helvetier) als einst mächtige gallische Völkerschaften bezeichnet, die aus Gallien ausgewandert wären, und rechts des Rheins gesiedelt hätten. Cäsar hat dies so eigentlich nicht gesagt, er erzählt konkret nur vom Rückzug der Helvetier und Boier aus den Ländern östlich des Rheins. Tacitus verortet im historischen Rückblick auf die Zeit vor Cäsar nun die Helvetier und Boier als Nachbarn in Germanien (Germania 28):“So haben also das Gebiet zwischen dem Hercynischen Wald, dem Rhein und dem Main die Helvetier in Besitz genommen, das ostwärts angrenzende die Boier, beide gallische Stämme.“

Zusammenfassend lässt sich aus den Quellen vor der römischen Okkupationszeit (oder wie bei Tacitus, der sich auf die Zeit vor Cäsar bezieht)
nur entnehmen, dass ein Stamm, der sich Boier nannte, irgendwo nördlich der Donau innerhalb des hercynischen Waldgebirges, östlich der Helvetier in Süddeutschland (Baden-Württemberg und Bayern?) mindestens im 2 Jahrhundert vor Christus gesiedelt haben muss.

Überleitend kann zusätzlich gesagt werden, dass der in den römisch-griechischen Quellen aus der Okkupationszeit erwähnte Begriff Boiohaemum älteren germanischen Ursprungs ist, und "Wohnsitze der Boier, Land, in dem die Boier leben" (V.Salac) , eine Fremdbezeichnung, die eine Grenzzone zwischen Laténekultur und germanischen Kulturgruppen in der Eisenzeit denken lässt. "Das Vorderglied ist das Ethnonym der Boier (keltisch *boiio-), und das Hinterglied ist germanisch *haima- ´Heim(at), Wohnsitz´, wobei nicht klar ist, ob es sich um eine lateinische Umbildung eines germanischen *Bajjahaima- handelt, bei der das germanische *Bajja- wieder durch die ursprüngliche keltische Form des Ethnonyms ersetzt wurde. Es ist nicht klar, ob es sich bei der Mischbildung Boiohaemum um eine sprachwirkliche Form handelt, die von den Landesbewohnern oder deren Nachbarn so verwendet wurde, oder aber um eine von den Römern geschaffene Kunstform. Für uns ist es wichtig, dass selbst wenn Boiohaemum eine künstliche römische „Neubildung“ darstellen sollte, dies nichts an Inhalt und Deutung ändern würde, dass nämlich der zweite Teil der Zusammensetzung *haima- germanischer Herkunft ist. Semantisch scheint der erste Teil der Zusammensetzung klar zu sein, es handelt sich um das Ethnonym der keltischen Boier. Der zweite Teil ist allerdings semantisch weniger deutlich: *haima- wird nämlich mit dem germanischen Haim gleichgestellt, das verschiedene Bedeutungen aufweist“.
Vladimír Salač, Urboiohaemum, Boiohaemum und Böhmen, 2015

unten Karte nach Eratosthenes
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Die antiken Quellen für das kaiserzeitliche „Land der Boier“ (Boiohaemum)

Strabon VII,1,3

Dort sind auch der Hercynische Wald und die Völker der Sueben, die teils innerhalb des Walds wohnen, wie die der Quaden; bei ihnen liegt auch Buiaimon, die Residenz des Marobodos, wohin dieser außer mehreren Anderen besonders seine Landsleute, die Markomannen, verpflanzt hat…“

Der Einzug der Markomannen in das ehemalige Land der Boier kann nur zwischen 8 und 1 v.Chr. erfolgt sein. Strabon schildert daher eine Situation, die erst um die Zeitenwende existiert haben wird.

Velleius Paterculus 2,109, 5
„Diesen Mann Marbod nun und diese Gegend beschloss Tiberius Caesar im nächsten Jahr von verschiedenen Seiten her anzugreifen. Sentius Saturnius erhielt den Auftrag, mit seinen Legionen durch das Gebiet der Chatten nach Boiohaemum zu marschieren (so heißt die Gegend, die Marbod bewohnt) und dabei sollte er eine Bresche durch die undurchdringlichen Hercynischen Wälder schlagen. Tiberius selbst wollte von Carnuntum aus, einem Ort im Königreich Noricum, der jener Gegend als nächster liegt, mit den Truppen, die in Illyrien dienten, gegen die Markomannen aufbrechen:“

Tacitus, Germania 28 und 42
Der Name Boiohaemum lebt noch heute und bezeugt die alte Geschichte der Gegend, wenn auch die Bewohner gewechselt haben.“ (28)
„Ausgezeichnet ist der Markomannen Ruhm und Stärke, und selbst ihren Wohnsitz haben sie sich, nachdem sie die Boier vertrieben hatten, erst durch Tapferkeit errungen
.“ (42)

Die Berichte über ein Boiohaemum, ein Land der Boier, das jetzt die Markomannen gehört, reflektiert eine ältere Zeit, denn um 50 v.Chr. endet die Laténekultur nördlich der mittleren Donau. Tacitus Nachricht von der Eroberung boischen Gebietes durch die Markomannen (die erst nach 8 v.Chr. dorthin übersiedelten) kann also nicht stimmen – wenn das böhmische Becken gemeint ist. Es muss sich aber um das nördliche böhmische Becken handeln, denn nur dort lässt sich nördlich des römischen Reichs an der mittleren Donau eine Siedlungskonzentration der Großromstedter Kultur und der RKZ B1 finden.

In den mittelalterlichen Quellen wie Cosmas von Prags Chronica Boemorum aus dem 12.Jahrhundert spielen die römischen und griechischen Autoren der Antike keine Rolle. Boemus ist die lateinische Bezeichnung des slawischen mythologischen Urvaters der Tschechen, Čech, der biblisch angelehnt an Moses sein Volk in ein unbesiedeltes Land führt, „welches euch gelobt ist, voller Wildes und Geflügels, überflüssig mit Honig und Milch, und wie ihr es selber sehet, zur Wohnung sehr angenehm und bequem, die Wasser ohne Mängel und sehr fischreich“ (Zitat aus Kronyka Czeská, Prag 1541), und aus Dankbarkeit nach ihm lateinisch Boemia (Čechy) genannt wurde. Cosmas von Prag erzählt einen vorchristlichen legendären Gründungsmythos des Herrschergeschlechts der christianisierten Przemysliden, und basiert auch auf älteren Heiligenlegenden aus dem 10.Jahrhundert wie der Christianslegende, anderen Wenzellegenden und einer weiteren Legende um die Nationalheilige Ludmilla „Fuit in provincia Boemorum“ (nach dem ersten Satz der Legende, „Es war einmal im Land der Böhmen“).

Die stark an die Bibel angelehnte mittelalterliche Herkunft Böhmens ist in der frühen Neuzeit von einer Rezeption antiker Werke verdrängt worden, die den Namen Böhmens vom Boiohaemum herleiteten, der „Heimat der Boier“, auf einen noch älteren vorchristlichen Gründungsmythos zurückgriffen. Wenn die mittelalterliche Legende den schon langen existierenden Namen des Landes christlich und slawisch vereinnahmte, (nach Salač wäre der Name der Baibari (Bayern) in Quellen des 6.Jahrhunderts von ihrer Herkunft aus Baiaheim /Böhmen abgeleitet), dann hat die Identifizierung Böhmens als ein Gebiet, in dem einst Boier lebten, seine Berechtigung. Rübekeil lehnt diese Herleitung des Namens der Bayern aus Boiohaemum ab:“ Eines ist den meisten Deutungen des Baiernnamens gemein: Sie gehen in der Mehrzahl davon aus, dass der Name in seiner frühen Form Baiovarii (und ähnlich) als Determinativkompositum anzusehen ist. Während nun die ältere Forschung das Erstglied Baio- ohne allzu skrupulöse Umwege auf den Stammesnamen der keltischen Boier bezog und daraus eine Einwanderung der Baiern aus boiischen Stammlanden erschloss , lehnt die jüngere Forschung mit der veralteten Einwanderungstheorie zugleich den namenkundlichen Rückgriff auf das Ethnikon Boii ab.“ Ludwig Rübekeil, Der Name Baiovarii und seine typologische Nachbarschaft, 2012

Vladimír Salač trennt das kaiserzeitliche Boiohaemum aus den o.g. römischen Quellen jedoch von einem älteren Boiohaemum, dass er Urboiohaemum nennt, dessen Lokalisierung unbekannt ist, und von Thüringen bis zu den Karpaten angesiedelt sein kann. Nach der archäologisch nachgewiesenen materiellen Kultur lässt sich kein Stammesgebiet zuordnen, es gibt Einheitlichkeit zum Beispiel in der Körpergrabsitte im 3.Jahrhundert v.Chr. (Horizont der Duxfibel), doch zerfällt diese Einheit der ostkeltischen Laténekultur bei näherer Betrachtung in unterschiedliche Grabausstattungen, Stilrichtungen des Schmucks, Unterschiede in der Keramikproduktion, deren Technologien, Materialien und Verzierungen, Unterschiede und Übereinstimmungen bei der Münzprägung, Differenzen bei Bautypen und Innenausstattung und der Siedlungsstrukturen. Die erhaltenen Stammesnamen (außer den Boiern eigentlich sinnvoll nur noch die Volcae Tectosagen) für das Gebiet der Laténekultur im östlichen Mitteleuropa nördlich der Donau sind im Vergleich zu den allein für Gallien erhaltenen sechzig Stammesnamen äußerst gering: „… ferner liegt das von allen Galatern [= Galliern] gemeinsam für Caesar Augustus [= Kaiser Augustus] gestiftete Heiligtum vor dieser Stadt an dem Zusammenfluss der Flüsse (es besteht aus einem stattlichen Altar mit einer Inschrift der Namen der Völker – sechzig an der Zahl –, Bildnissen eines jeden dieser Völker und einem großen anderen (verderbt Tempel?/Standbild des Kaisers?)“ Strabon zum Ara trium Galliarum, Zentralheiligtum in Lugdunum am Zusammenfluss von Arar (Saone) und Rhodanus (Rhone) Strab. 4,3,2

Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass, weil nur der Boier-Name zur Verfügung steht, er alle unbekannten und verschollenen Stammesnamen besetzt und "übernimmt", und dass dadurch in der Meistererzählung über die Boier immer wieder Widersprüchlichkeiten wegkonstruiert werden (müssen). Wie lassen sich die Nachricht (basierend auf Poseidonios) von den Boiern einbauen, dass diese mit den Thrakern vermischt wären, und diese mit den bastarnischen und den sarmatischen Völkern (VII,3,3)? Oder ist Plinius Aussage über die deserta boiorum (Boier-Einöde), der in diesem Gebiet die claudische Colonia Savaria und dem oppidum Iulia Scarabantia an der Trasse der Bernsteinstraße in Westungarn um den Neusiedler See (Lacus Peiso) (Plin.3,146) ansiedelt, als ein nach Osten ehemals expandiertes Stammesgebiet der Boier zu interpretieren?

Es kann auch sein, dass die germanische Bezeichnung der Boier entweder eine Sammelbezeichnung für die südlichen Bewohner war, ähnlich wie *walhoz/walhaz abgeleitet von den Volcae Tectosages, oder die Bezeichnung den führenden Stamm herausgriff, Boiohaemum das Land war, „wo die mächtigsten, reichsten, schrecklichsten, tapfersten von allen Stämmen die Boier waren“ (Salač, S.129).Dazu passend Karl Strobel: „Der Boier-Name mit seiner allgemeinkeltischen Grundbedeutung „die (schrecklichen) Kämpfer, Krieger“ ist ein Prunkname, der zudem keineswegs auf einen einzigen Volksverband beschränkt gewesen war. Dass der Personenname Boiorix, so der Name des Königs der Kimbern in den Schlachten von Arausio und Vercellae, im germanischen Elitenmilieu übernommen wurde, lässt kaum einen Aussagegehalt wie „Rinderzüchter-König“ zu (andere Deutung des Namens, z.B. Anreiter, P. de Bernardo Stempel), entspricht aber sehr wohl die Bedeutung Kriegerkönig.“ Karl Strobel Die Boii – ein Volk oder nur ein Name? (S.51)
Damit würde, folgt man Strobel, der Boier-Name in direkter Konkurrenz zur anderen germanischen Fremdbezeichnung der „südlichen Nachbarn“ *walhoz / walhaz stehen, der wahllos auf alle möglichen Fremden übertragen wurde. Bei einer germanischen Übernahme des Kriegerbegriffs Boio (wofür auch die Tradierung des Boiohaemum nach markomannischer Besiedlung sprechen könnte.

Die Besiedlung Böhmens zur Zeit Marbods. Links in den letzten Jahrzehnten v. Chr. (RKZ A); rechts in den ersten Jahrzehnten n. Chr. (RKZ B1).
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Positionen zur Identifizierung der Boii in der laténezeitlichen und kaiserzeitlichen Geschichte

Die traditionelle Position
und Erzählung der Boier wird auf der Konferenz zur Eröffnung vorangestellt und vertreten von Jan Bouzeck. „Jan Bouzek, einer der Altmeister der tschechischen Eisenzeitforschung, schöpft für seinen Aufsatz ›The story of the Boii‹ (S. 15–34) aus dem Quellenschatz von Legende (!), antiker Historiographie und Archäologie. Sein Ziel ist es ausdrücklich, die traditionelle Lehrmeinung eines Stammesbundes mit der Eigen- und Fremdbezeichnung Boii zu verteidigen. (von Kysela S. 155 als »romantic narrative« tituliert)…“ (Rezension von Janine Fries Knoblach, 2020)
Jan Bouzeck ist der Meinung, dass die Kritiker der traditionellen Erzählung einige nützliche Hinweise für sich hätten (Collis 2003, Rieckhoff 2009), jedoch einen Teil der historischen Quellen ignorieren würden und keine alternative kohärente Erzählung bieten könnten.
Ich fasse die traditionelle Erzählung, die sich eingangs auf Václav Kruta (2000), Petr Drda und Alena Rybová rekurriert, kurz zusammen.

Jan Bouzeck lässt die Geschichte der Boier mit der Hallstattzeit (8. Und 7.th centuries BC) in Böhmen beginnen, es entwickelte sich eine reiche Kultur, die am Import etrsukischer Waren teilnimmt, und eine repräsentative aristokratische Elite ausbildet, mit in Hallstatt D zwei, in der letzten Hälfte des 5.Jahrhunderts BC einem Zentrum in Závist. Bouzeck nimmt Priesterkönige an der Spitze der Gesellschaft an, die auch von einer Westverschiebung der Bernsteinstraße profitiert, von der Adria erreicht attische Keramik Böhmen (2. Und 3. Viertel des 5.Jahrhunderts BC). Závist wäre das Zentrum der jetzt (5.Jhrdt. BC) schon existierenden Boii-Föderation, die über den St. Bernhard-Pass und die östlichen Alpen nach Norditalien eingedrungen wäre.

Das Verlassen von Befestigungen und den Wechsel der Gräbersitte (Körpergräber) im mittleren Laténe in Böhmen erklärt Bouzeck mit einem Bevölkerungswechsel oder Zuzug aus dem Westen, und dem Abzug der ursprünglichen Bewohner nach Norditalien. Er zitiert Kruta, der die neuen Siedler mit den Volcae Tectosagen verbindet: die Fibel-Leitform der Einwanderer wären die Dux-Fibeln (nach einem Schatzfund von mehr als 2000 Schmuckgegenständen in einem Quellkessel bei Duchov), die in der westlichen Schweiz produziert worden wären, andere Schmuckherkünfte streuen jedoch vom zentralen Rheinland (Silberring von Libenice), das Armband der gleichen Frau möglicherweise aus der Champagne, ihr Grab hat Parallelen in Nordostfrankreich. Diese Volcae - Tectosagen tauchen in den griechischen Quellen bei der Invasion in Hellas (Plünderung von Delphi) ab 279 v.Chr. auf, ziehen daher wieder weiter (?), Bouzeck postuliert am Ende seines Artikels jedoch, dass die Volcae Tectosages (siehe Cäsar) im Norden des Böhmischen Beckens gesiedelt hätten. Rückkehrer aus den Griechenlandfeldzügen hätten die Münzprägung der Vorgänger der Boii (?) begonnen, große unbefestigte Siedlungen sind entstanden (Roseldorf in Österreich (!), Němčice (Mähren!) und Lovosice (Nordböhmen) – da es keine namentliche Überlieferung gebe, könnten dies Volcae Tectosages oder Boier gewesen sein, so Bouzeck.

Er greift dann eine Stelle bei Strabon auf, dass die Boier nach ihrer endgültigen Niederlage gegen die römische Republik 191 v.Chr. an die Donau ausgewandert wären und dort mit den Tauriskern lebten (Strab. V, 1,6). Bouzeck nimmt an, dass der größte Teil der Boier nach der Niederlage versklavt worden wäre. Noch Jahrhunderte später wird bei Ptolemaios in der Geographie und bei Sextus Pompeius in einem Glossar die ehemaligen Boierländer in Norditalien erwähnt, Ptol. geogr. 3, 1, 20; Fest. 36: „Boicus ager dicitur, qui fuit Boiorum Gallorum. Is autem est in Gallia citra Alpes, quae togata dicitur; in quibus sunt Mediolanenses.“
Giovanni Brizzi und Gerhard Dobesch halten den Bericht Strabons für falsch, Dobesch spricht von einem „Autoschediasma aus der Namensgleichheit“ (1993). Für noch kritischer halte ich jedoch die Erzählung von Bouzeck, der die Auswanderung glaubt und mit dem Bau neuer Oppida im Spätlaténe ( Třísov, Česká Lhotice, Stradonice, Staré Hradisko, Hrazany, Nedvězice) und der Neuerrichtung von Závist (175 v.Chr.) in Südböhmen mit der Rückwanderung der Boier an einen Ort der Erinnerung (place of memory) verbindet. Würde die Nachricht von Strabon ernst genommen, wäre geographisch eher eine Ansiedlung südlich der Donau in Nachbarschaft zu den ostalpinen Tauriskern anzunehmen.
Nach dieser Blütezeit der Oppidakultur im Spätlaténe werden viele Oppida schon in der ersten Hälfte des 1.Jahrhunderts (D1) langsam verlassen, oder regredieren zu weniger organisierten Siedlungen, nur in Závist gibt es Spuren einer militärischen Verteidigung gegen einen unbekannten Angreifer. Der Angriff auf Noreia vor 60 v.Chr., die Auswanderung zu den Helvetiern und nach Bratislava wären mit dieser Migration aus Böhmen verbunden. Eine letzte Blüte hätte eine Boische Föderation um den Zentralort Bratislava an der Donau erlebt, diese wäre jedoch unter ihrem König Kritasiros von den Dakern und Skordiskern unter Burebista vernichtend geschlagen und danach untergegangen (Strabon VII,5,2: V,1.6 und VII,3.11). Übriggeblieben ist in der Provinz Pannonia superior eine civitas boiorum als Teil des römischen Reichs.

Einige kritische Anmerkungen von mir:
  • Eine Boier-Föderation im Frühlaténe lässt sich nur rechtfertigen, wenn die boische Einwanderung in Norditalien aus Böhmen (und Mähren?) erfolgt wäre – streng nach den Quellen berichtet Titus Livius nur von einem Übergang über den St.Bernhard, vom Rhonetal im Wallis zum Aostatal in Norditalien – diese Einwanderungsroute ist aus Sicht des östlichen Mitteleuropas sehr unwahrscheinlich, eher ist an eine über die Bernsteinstraße zu denken, Richtung Aquileia gibt es im 2.Jahrhundert BC Einwanderungsversuche von Tauriskern, die von den Römern verhindert werden. „In demselben Jahr (186 v.Chr.) kamen Gallier (Galli Transalpini) aus dem Land jenseits der Alpen nach Venetien hinüber und nahmen, ohne das Land zu verwüsten oder Krieg zu führen, nicht weit von der Stelle, wo jetzt Aquileia liegt, einen Platz in Besitz, um dort eine Stadt zu gründen. Als römische Gesandte deswegen über die Alpen geschickt wurden, erhielten sie die Antwort, diese seien nicht auf Grund einer Empfehlung ihres Volkes (gentis) aufgebrochen, und sie wüssten auch nicht, was sie in Italien täten.“ Liv. 39,22,6-7

  • Mir fehlen alternative Deutungen zum Ende der Königsherrschaft im Frühlaténe, Bouzeck spricht selbst von einer Revolution, einer Egalisierung der Gesellschaft, die sich im Fehlen von Elitegräbern zeigt; die gesellschaftlichen Veränderungen können auch mit einer Offenheit für neue kulturelle Einflüsse aus allen Richtungen erklären, Bouzeck erwähnt Kleisthenes Reformen in Athen und den Sturz der Königsherrschaft in Rom (und in Etrurien). Das Auflassen von Befestigungen muss nicht mit einer Auswanderung nach Norditalien zusammenhängen.

  • Cäsar berichtet, dass noch zu seiner Zeit die Volcae Tectosages im Hercynischen Wald leben, dies ist schwer mit der Vermutung tschechischer Historiker und Archäologen zu verbinden, die die Volcae Tectosages aufgrund der gravierenden kulturellen Unterschiede in Nordböhmen ansiedeln, und in Südböhmen mit den neuen Oppida die Boier aus Norditalien. Zur Zeit Cäsars, die Zeit des Durchdringens der germanischen Großromstedter Kultur nach Böhmen in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts vor Chr. (erste Einwanderungswelle in Nordböhmen) war die keltische Besiedlung und Wirtschaft in Nordböhmen schon am zerfallen.

  • Noch aus einem anderen Grund halte ich die Verortung der Volcae Tectosages in Nordböhmen für unwahrscheinlich. Wenn Boiohaemum eine germanische Fremdbezeichnung ist, ist eine Kontaktzone zwischen Germanisch-Sprechenden und Keltisch-Sprechenden wahrscheinlich – die allgemeine Fremdbezeichnung walhaz abgeleitet von den Volcae auf keltische Nachbarn hätte eine zweite ruhmreiche Kennzeichnung „Land der schrecklichen Krieger“ überlagert. Warum hätten sie Böhmen nicht nach den walhaz nennen sollen, Walhazhaemum oder als römische Kunstbildung Volcaehaemum beispielsweise?

  • Bouzeck geht stillschweigend in seiner Meistererzählung der Boier davon aus, dass Boiohaemum „Heimat der Boier bzw. Ursprung der Boier“ bedeutet, damit müssen alle Boier (in Norditalien, Böhmen oder Pannonien eines gentilen /ethnischen Ursprungs sein, aus dem sie gekommen sind oder zu dem sie nach hunderten von Jahren wieder zurückwanderten (man stelle sich vor die Goten, Vandalen oder Langobarden wären nach Niederlagen wieder zurückgewandert). Salač macht meiner Ansicht nach überzeugend die Bedeutung „Land oder Wohnsitze der Boier“ stark: “Archäologen, Althistoriker und nicht selten auch Philologen fassen Boiohaemum als die Heimat der Boier auf und deuten es folglich als ein Gebiet, aus dem dieser Stamm kommt. Infolge dieser Bedeutungsverschiebung wird Boiohaemum zur Urheimat der Boier, die mit Böhmen identisch ist. Diese Ansicht ist dermaßen verwurzelt, dass sie manchmal als Behauptung aus schriftlichen Quellen präsentiert wird. In Wirklichkeit bezeichnete das gemeingermanische Wort Haim im Mittelalter allerdings vor allem einen „Ort, wo man sich niederlässt“ (im Ahd. und Mhd.), und in noch früheren Zeiten (Gt. Anord) bedeutete es vor allem Siedlung, Wohnsitz, Hof, Dorf, Landgut, Land u. ä. Die Bedeutung Heimat oder gar ein Gebiet, woher ein Ethnikum oder ein Volk stammt, erscheint sekundär und später.“





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Wenn man sich endlich von Begriffen wie "Urheimat" und "Stamm" verabschiedet und das Wort "Boier" tatsächlich von einem keltischen Begriff für "Kämpfer" oder "Krieger" herkommt, bedeutet Boiohaemum also nicht viel mehr als "Ort, wo Krieger wohnen".

Dann verwundert auch nicht, dass dieser Begriff ("Boier") über halb Europa verteilt auftaucht und vermutlich wenig bis gar nichts über Verwandschaftsverhältnisse aussagt.

Dann wäre dies ein weiterer Fall, wo die Ideologie des 19. Jahrhunderts die Sinne der Forscher bis heute vernebelt.
Das krampfhafte Festhalten am Nationen- bzw. Stammesgedanken führt dann zu seltsamen Ideen wie dem hin- und herwandern der Boier, nur weil an verschiedenen Gegenden zu verschiedenen Zeiten "Krieger"- Gruppen genannt werden.
 
Im Fall der Boier liegst Du vielleicht richtig. Allerdings hat doch nicht erst die Ideologie des 19. Jahrhunderts in den Boiern einen Stamm gesehen. Die Römer haben sie doch wohl, irrig oder nicht, als gens gesehen, also als Leute, die unter anderem auch untereinander enger verwandt waren.
 
Im Prinzip habt Ihr beide recht, allerdings entsteht die Identifizierung Böhmens mit Boioheimum in der Rezeption der antiken Quellen des 16.Jahrhunderts, es ist auch ein Problem der antiken Ethnographie ähnliche Namen für gleiche Ursprünge bzw. Verwandschaft zu halten. Möglicherweise ist die innere und äußere Quellenkritik im 16.Jahrhundert noch nicht ausgeprägt, daher ist die kritiklose Übernahme von antiken Informationen auch ein wissenschaftliches Problem, und nicht (nur) ein ideologisches.

Rein auf Faktizität aus den schriftlichen Quellen bezogen haben wir in Europa mehrere Hinweise auf das Ethnonym Boii/Boier:

1. In Norditalien,
eine erste epigraphische Erwähnung in den fasti triumphalis von 191 v.Chr. mit dem Namen des Konsuls Publius Cornelius Scipio Nasica als "Consul de Galleis Boieis"; die Ereignisgeschichte erzählt Livius in 36,1,8-9 und 38,5-7. Titus Livius und Polybios berichten über die Keltenkriege des 3. und 2. Jahrhunderts BC. Der schriftliche Nachweis reicht bis Plinius und bis zur Erwähnung bei Ptolemaios.
2. Im Hercynischen Wald: Von Poseidonios vermittelt über Strabon Boier im 2. Jahundert v.Chr., die die Kimbern abdrängen (vor 113 v.Chr.). Bei Tacitus Cäsar korrigierend neben oder vom Rhein aus betrachtet hinter den Helvetiern Boier in der Germania, vor dem Gallischen Krieg (im 2.Jahrhundert v.Chr.?= Quelle Poseidonios?)
3. In Frankreich: Boier aus der Germania kommend werden den Haeduern zugeordnet, und gründen ein Oppidum (Gorgobina/Gortona= Sancerre) im 1.Jahrhundert v. Chr. (nach 58 v.Chr.). Boii/ Boiates siedeln sich unterhalb der Bituriges Viviski südlich von Burdigala an. (Cäsar, Plinius)
4. an der mittleren Donau (Österreich, Westslowakei): Boier wandern an die Donau zurück, leben bei den Tauriskern, und gehen im Krieg gegen die Daker und Skordisker unter 2. Jahrhundert BC bis 40 v.Chr. ? (Strabon)
5. Böhmen: Marbod und die Markomannen siedeln im ehemaligen Land der Boier Boiohaemum um die Zeitenwende (nach 8 v.Chr.) (Strabon, V.Paterculus, Tacitus); Strabon verbindet die beiden Nachrichten (Boiohaemum in Böhmen, Boier an der Donau) nicht.
6. In Pannonien: in der frühen Kaiserzeit existiert in Pannonia superior (Westungarn) eine Civitas boiorum (epigraphische Quellen, Plinius Nat. 3,146), und in einer spätantiken Provinzbeschreibung Dimensuratio Provinciarum.
Unten Karte nach Manfred Hainzmann, Zur epigraphischen Hinterlassenschaft der Boier, 2015

Karte_Boier_Verbreitung.jpg
 
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