Die antiken Quellen zur Lokalisierung der Boier vor der römischen Okkupationszeit
Ich möchte anfangs die antiken Quellen und Nachrichten über die Boier, die auf eine mitteleuropäische Lokalisierung schließen lassen, kurz und wenig kommentiert voranstellen, eingeteilt in die Quellen, die eine allgemeinere räumliche Zuordnung treffen, und im zweiten Teil folgend die Quellen um die Zeitenwende, die konkret von einem „Boiohaemum“ sprechen.
Auch wenn der Name der Boier in der von
Titus Livius geschilderten gallischen Auswanderungssage aus der Zeit des Lucius Tarquinius Priscus (legendärer römischer König im 6.Jahrhundert v.Chr.) nur im Zusammenhang mit einer dritten Einwanderungswelle nach Norditalien genannt wird, und in der Forschung im Kern der Sage ein Herkunftsmythos der norditalienischen Insubrer vermutet wird, gibt es in der Erzählung einen ersten Hinweis auf „Kelten in Germanien“: „
Als Tarquinius Priscus in Rom herrschte, hatten bei den Kelten, die den dritten Teil Galliens ausmachen, die Biturigen die höchste Macht. Sie stellten innerhalb des keltischen Bevölkerungsteils (dem Celticum) den König. Das war damals Ambicatus, ein überaus mächtiger Mann durch seine Tüchtigkeit und weil das Glück ihm und vor allem auch seinem Volk hold war; denn unter seiner Herrschaft war Gallien so reich an Früchten und Menschen, dass es schien, als könne die übergroße Menge kaum noch regiert werden. Weil er das Königreich von der drückenden Übervölkerung zu entlasten wünschte, selbst aber schon hoch an Jahren war, erklärte er, er werde Bellovesus und Segovesus, die Söhne seiner Schwester, energische junge Männer, zu den Wohnsitzen schicken, die die Götter ihnen durch ihre Zeichen geben würden. Sie sollten eine Anzahl Leute aufbieten, so viele, wie sie selbst wollten, damit keine Völkerschaft die Ankommenden abwehren könne. Darauf erhielt Segovesus durch die Lose die Hercynischen Wälder; dem Bellovesus gaben die Götter den weit erfreulicheren Weg nach Italien (Liv. V,34) “und „Nachher gingen die Boier und Lingonen über den Poeninus (Großer St. Bernhard-Pass), und weil sie schon die ganze Gegend zwischen Po und Alpen besetzt fanden, fuhren sie mit Flößen über den Po und trieben nicht allein die Etrusker, sondern auch die Umbrier aus ihren Besitzungen. (Liv. V,35).“
Die Namen der Hauptpersonen sind keltisch, Ambicatus ist der „Nach zwei Seiten Kämpfende“ oder nach Birkhan der „Ringsumkämpfende“, Segovesos (keltische Form) der „Der Siege Würdig(e)“. In der Aufzählung der gallischen Stämme bezieht Titus Livius jedoch aktuelleres Wissen von Poseidonios und Cäsars Feldzügen mit ein. Auch die Matrilinearität (Auszug der Schwestersöhne) der Sage spricht für eine keltische Überlieferung.
Plutarch erzählt im „Leben des Camillus“ eine abgewandelte Wanderungslegende: „
Die Gallier stammten aus keltischen Stämmen und waren so zahlreich, dass sie, wie man sagt, ihr eigenes Land verließen, das sie nicht alle ernähren konnte, und sich auf die Suche nach einem anderen machten. Sie waren viele Myriaden junger Krieger und nahmen eine noch größere Zahl Frauen und Kinder mit. Einige von ihnen überquerten die Rhipäischen Berge, strömten Richtung Nordmeer und besiedelten die entlegensten Teile Europas. (Plut. Cam,15).
“
Die Rhipäischen Berge „am Rand der Welt“ könnten bei Plutarch die Waldgebirge Hercynias sein, aber auch nur mythisch die nördlichste oder nordöstlichste Grenze kennzeichnen (der Name der Berge weist darauf hin, dass hier der Entstehungsort des Nordwinds Boreas verortet wird, altgriechisch ῥιπή „Windböe“ oder „Atemhauch“ (Plin. nat. IV 88). Die Riphäen (und mit ihnen die Hyperboreer, die „jenseits des Boreas „Nordwindes“ wohnen), wurden mit fortschreitender geographischer Kenntnis immer weiter verschoben. „
Aristoteles verbindet damit die für ihn glaubwürdige und aus physikalischen Gründen unverzichtbare Annahme ›der alten Meteorologen‹ vom rhipäischen Nordgebirge (meteor. 2, 1, 354 a), das die Flüsse nach Süden entsendet, vermeidet aber den Widerspruch (und erklärt zugleich die Richtung der südrussischen Ströme) durch die (astronomisch begründete) Verschiebung der Rhipäen nach Osten.“ (Dieter Timpe) Der Hercynische Wald (vom indogermanischen Wort für Eiche abgeleitet „Eichenwald“) wurde in der mediterranen Welt durch die Geographika des Eratosthenes von Kyrene (275-195 v.Chr.) bekannt, und von Poseidonios von Apameia (ca. 135-51/50 v.Chr.) beschrieben. „
Mit dieser Entdeckung wird auch die Kenntnis des ›hercynischen Waldgebirges‹ zusammenhängen. Aristoteles, der es für uns als erster erwähnt, bezeichnet damit die gesamte Mittelgebirgszone; er nennt die »ρη ’Aρkυνα« das »größte Gebirge« der Region nach Höhe und Ausdehnung und hält sie für das Quellgebiet nach Norden abfließender Ströme, lokalisiert also den hercynischen Wald nördlich der Donau. Damit ist grundsätzlich die südnördliche Gefällerichtung Mitteleuropas erkannt, das folglich am Nordozean enden musste, nicht an einem nördlichen Randgebirge.“ (Dieter Timpe, Mitteleuropa in den Augen der Römer)
Die ursprünglich von den älteren griechischen Ethnographen den Hyperboreern zugewiesenen Regionen Mitteleuropas wurden von dem Universalhistoriker
Ephoros im 4. Jh. v. Chr. den
Kelten zugewiesen, die Hyperboreer selbst weiter nördlich verschoben – bis sie schließlich „aus Platzmangel“ auf einer fiktiven Insel Helixoia im Ozean nördlich des Kontinents verortet werden (Diodor II,47, bei ihm erzählt nach Hekataios von Abdera - eine Insel nördlich der Kelten). Noch bis zu Diodor kennt die Ethnographie im Westen und Norden nur Kelten, im Nordosten Skythen,
an deren unbestimmten Grenze Keltoskythen, jedoch keine Germanen.
Eine die Boier im Hercynischen Wald verorteten
Nachricht aus dem 2.Jahrhundert BC erfährt man über Strabon von Poseidonios:“Er sagt auch, die Boier hätten früher den Hercynischen Wald bewohnt, und die Cimbrer aber, welche bis in diese Gegend vorgedrungen, wären, von den Boiern zurückgeworfen, nach dem Ister und zu den gallischen Skordiskern hinabgezogen,“
(Strab VII,2,2)
Die Wanderungssage in den Hercynischen Wald lässt sich bei
Cäsar (ca. 53 v.Chr.) fortsetzen: in Buch VI des Gallischen Kriegs nimmt er innerhalb seines Germanienexkurses und vor der Beschreibung des Hercynischen Walds (Caes. VI,24) einen Rückblick vor: früher wären die Gallier tapferer als die Germanen gewesen, und hätten Siedler über den Rhein geschickt. Interessanterweise lässt Cäsar nur die Volcae Tectosages (als gallischen Stamm) noch in seiner Zeit mitten im Hercynischen Wald in der fruchtbarsten Gegend siedeln. Die (ehemals?) rechtsrheinisch (jenseits des Rheins) siedelnden Boier erwähnt er nur beim Auszug der Helvetier. Diese hätten Noreia (in den Ostalpen) belagert (Cäs I,5). - im Vergleich zu den Helvetiern ist die Anzahl von 32.000 Boiern gering, die Gesamtzahl der auswandernden Helvetier gibt Cäsar mit 263.000 Helvetiern an (Cäs. I,29).
Erst bei Tacitus, sehr viel später, werden die Boier (und Helvetier) als einst mächtige gallische Völkerschaften bezeichnet, die aus Gallien ausgewandert wären, und rechts des Rheins gesiedelt hätten. Cäsar hat dies so eigentlich nicht gesagt, er erzählt konkret nur vom Rückzug der Helvetier und Boier aus den Ländern östlich des Rheins. Tacitus verortet im historischen Rückblick auf die Zeit vor Cäsar nun die Helvetier und Boier als Nachbarn in Germanien (Germania 28):“
So haben also das Gebiet zwischen dem Hercynischen Wald, dem Rhein und dem Main die Helvetier in Besitz genommen, das ostwärts angrenzende die Boier, beide gallische Stämme.“
Zusammenfassend lässt sich aus den Quellen vor der römischen Okkupationszeit (oder wie bei Tacitus, der sich auf die Zeit vor Cäsar bezieht)
nur entnehmen, dass ein Stamm, der sich Boier nannte, irgendwo nördlich der Donau innerhalb des hercynischen Waldgebirges, östlich der Helvetier in Süddeutschland (Baden-Württemberg und Bayern?) mindestens im 2 Jahrhundert vor Christus gesiedelt haben muss.
Überleitend kann zusätzlich gesagt werden, dass der in den römisch-griechischen Quellen aus der Okkupationszeit erwähnte Begriff
Boiohaemum älteren germanischen Ursprungs ist, und "Wohnsitze der Boier, Land, in dem die Boier leben" (V.Salac) , eine Fremdbezeichnung, die eine Grenzzone zwischen Laténekultur und germanischen Kulturgruppen in der Eisenzeit denken lässt. "
Das Vorderglied ist das Ethnonym der Boier (keltisch *boiio-), und das Hinterglied ist germanisch *haima- ´Heim(at), Wohnsitz´, wobei nicht klar ist, ob es sich um eine lateinische Umbildung eines germanischen *Bajjahaima- handelt, bei der das germanische *Bajja- wieder durch die ursprüngliche keltische Form des Ethnonyms ersetzt wurde. Es ist nicht klar, ob es sich bei der Mischbildung Boiohaemum um eine sprachwirkliche Form handelt, die von den Landesbewohnern oder deren Nachbarn so verwendet wurde, oder aber um eine von den Römern geschaffene Kunstform. Für uns ist es wichtig, dass selbst wenn Boiohaemum eine künstliche römische „Neubildung“ darstellen sollte, dies nichts an Inhalt und Deutung ändern würde, dass nämlich der zweite Teil der Zusammensetzung *haima- germanischer Herkunft ist. Semantisch scheint der erste Teil der Zusammensetzung klar zu sein, es handelt sich um das Ethnonym der keltischen Boier. Der zweite Teil ist allerdings semantisch weniger deutlich: *haima- wird nämlich mit dem germanischen Haim gleichgestellt, das verschiedene Bedeutungen aufweist“.
Vladimír Salač, Urboiohaemum, Boiohaemum und Böhmen, 2015
unten Karte nach Eratosthenes