Die Boier - neuere Forschungen

Ich will die wissenschaftlichen Kontroversen von auf die Eisenzeit im östlichen Mitteleuropa und Südosteuropa spezialisierte Forscherinnen und Forscher aus mehreren Ländern, die 2012 bei einer Konferenz in Rzeszów „öffentlich wurde, versuchen "kurz" darzustellen. Auslöser der Kontroversen war die wohl überraschende Uneinigkeit über die Ausdehnung und Lokalisierung des Stammes der Boier auf dieser Konferenz (Thema war Erscheinungsformen von Gewalt in der Eisenzeit). Konsequenz war eine internationale Konferenz zum Boier-Thema zu organisieren, die dann im November 2013 in Ceský Krumlov unter dem Titel Boier zwischen Realität und Fiktion in Tschechien stattfand. Susanne Sievers (Frankfurt), Vladimir Salač (Prag) und Maciej Karwowski (Rzeszów) waren verantwortlich für die Realisierung.

Die „internen“ Kontroversen zwischen AlthistorikerInnen, ArchäologInnen und NumismatikerInnen aus Österreich, Tschechien, Deutschland, Slowakei, Ungarn und Polen drangen kaum nach „außen“ (Es waren auch Forscherinnen aus westeuropäischen Ländern wie Frankreich und England beteiligt, aber auch aus Kroatien und Bosnien-Herzogowina, ihre Beiträge zum Beispiel zu den Boiern in Frankreich enthielten sich jedoch eine Position in der Debatte zu beziehen). Mein Eindruck von außen ist, dass die Pole „Wien“ und „Prag“ (unterschiedlich stark ausgeprägt) sind. In einigen Beiträgen tauchen Anführungszeichen auf, als Anpassung an die Infragestellung alter Sicherheiten. So überschreibt der deutsche Numismatiker Bernward Ziegaus sein Referat „Boische“ Münzen in Süddeutschland – Fremde Prägungen mit überregionaler Gültigkeit?

Das traditionell als Boisches Münzsystem bezeichnete, seit dem dritten Jahrhundert BC archäologisch nachgewiesene Geldsystem, beruht auf der Lokalisierung der Boier anhand historischer Quellen (Cäsar, Strabon, V. Paterculus, Tacitus) und war bisher fest verankert, ist infrage gestellt, kann sich jedoch noch nicht von seiner ethnischen Verbindung lösen: sonst müsste das Münzsystem z.B. in (neutraler) mitteleuropäisch-ostkeltisches bimetallisches Münzsystem (im Kontrast zu einer Silberzone latènezeitlicher Münzsysteme im östlichen Mitteleuropa) umbenannt werden. Inwiefern die Debatte fruchtbar und produktiv war, und Ergebnisse hatte, kann ich leider nicht erkennen. Ich habe ergebnislos versucht in neueren Veröffentlichungen Anschlüsse zu finden, (und warte noch auf die Veröffentlichung von einer Konferenz 2022). Ich fand die Debatte jedoch so interessant, dass ich mein Versprechen von 2017 endlich einlösen wollte (warum noch einmal acht Jahre warten?).

Die Auseinandersetzung ist eine methodische und inhaltliche Kritik der auf Zirkelschlüssen beruhenden Aussagen und Ableitungen der Forschung seit dem 16.Jahrhundert. Zentrales Thema ist die Lokalisierung der Boier in Böhmen – darauf baut jede weitere Identifizierung auf. Daran entzündet sich die Kritik logisch folgend am Namen der Boier – sind es mehrere Gentes die den gleichen Namen benutzten?, und am boischen Geldsystem der Laténekultur, die auf der Identifizierung der Boier mit Böhmen beruht. Aufgrund der Kontroversen entwickelten sich weitere „Nebenkriegsschauplätze“ um die Lokalisierung der Boier-Einöde, der Realität eines Angriffs auf das Norikum, die Aussage Strabons, dass die Boier nach ihrer Niederlage in Norditalien an die Donau ausgewandert wären, die Beziehung der böhmischen Boier zum spätlaténezeitlichen Oppidum in Bratislava (Slowakei), und auch zur zeitlichen Chronologie der Ereignisgeschichte – die Kontroversen werden eingeleitet auch mit einer zum Teil radikalen Quellenkritik. Ich werde mit dem zentralen Thema, der Lokalisierung der Boier in Böhmen, auch anhand des überlieferten Begriffs des Boiohaemum bzw. Boihaemum (Velleius Paterculus 2,109,5) und Βουίαιμον (Strabon 7,1,3) beginnen, und sehen, wie stark hier Interesse an diesem doch speziellen Thema vorhanden ist.

Unten Kartenauszug aus Germania veteris von Abraham Ortelius, 1606
Screenshot 2025-10-07 at 23-17-58 Map_of_Germania_by_Abraham_Ortelius.jpeg (JPEG-Grafik 3051 ×...png
 
Zuletzt bearbeitet:
Einige Artikel gibt es online, darunter Vladimír Salač, Urboiohaemum, Boiohaemum und Böhmen:


Oder Wolfgang David, Boier zwischen Norditalien und dem Donauraum:


Einen kurzen Lexikonartikel gibt es hier:
 
Die antiken Quellen zur Lokalisierung der Boier vor der römischen Okkupationszeit

Ich möchte anfangs die antiken Quellen und Nachrichten über die Boier, die auf eine mitteleuropäische Lokalisierung schließen lassen, kurz und wenig kommentiert voranstellen, eingeteilt in die Quellen, die eine allgemeinere räumliche Zuordnung treffen, und im zweiten Teil folgend die Quellen um die Zeitenwende, die konkret von einem „Boiohaemum“ sprechen.

Auch wenn der Name der Boier in der von Titus Livius geschilderten gallischen Auswanderungssage aus der Zeit des Lucius Tarquinius Priscus (legendärer römischer König im 6.Jahrhundert v.Chr.) nur im Zusammenhang mit einer dritten Einwanderungswelle nach Norditalien genannt wird, und in der Forschung im Kern der Sage ein Herkunftsmythos der norditalienischen Insubrer vermutet wird, gibt es in der Erzählung einen ersten Hinweis auf „Kelten in Germanien“: „Als Tarquinius Priscus in Rom herrschte, hatten bei den Kelten, die den dritten Teil Galliens ausmachen, die Biturigen die höchste Macht. Sie stellten innerhalb des keltischen Bevölkerungsteils (dem Celticum) den König. Das war damals Ambicatus, ein überaus mächtiger Mann durch seine Tüchtigkeit und weil das Glück ihm und vor allem auch seinem Volk hold war; denn unter seiner Herrschaft war Gallien so reich an Früchten und Menschen, dass es schien, als könne die übergroße Menge kaum noch regiert werden. Weil er das Königreich von der drückenden Übervölkerung zu entlasten wünschte, selbst aber schon hoch an Jahren war, erklärte er, er werde Bellovesus und Segovesus, die Söhne seiner Schwester, energische junge Männer, zu den Wohnsitzen schicken, die die Götter ihnen durch ihre Zeichen geben würden. Sie sollten eine Anzahl Leute aufbieten, so viele, wie sie selbst wollten, damit keine Völkerschaft die Ankommenden abwehren könne. Darauf erhielt Segovesus durch die Lose die Hercynischen Wälder; dem Bellovesus gaben die Götter den weit erfreulicheren Weg nach Italien (Liv. V,34) “und „Nachher gingen die Boier und Lingonen über den Poeninus (Großer St. Bernhard-Pass), und weil sie schon die ganze Gegend zwischen Po und Alpen besetzt fanden, fuhren sie mit Flößen über den Po und trieben nicht allein die Etrusker, sondern auch die Umbrier aus ihren Besitzungen. (Liv. V,35).“

Die Namen der Hauptpersonen sind keltisch, Ambicatus ist der „Nach zwei Seiten Kämpfende“ oder nach Birkhan der „Ringsumkämpfende“, Segovesos (keltische Form) der „Der Siege Würdig(e)“. In der Aufzählung der gallischen Stämme bezieht Titus Livius jedoch aktuelleres Wissen von Poseidonios und Cäsars Feldzügen mit ein. Auch die Matrilinearität (Auszug der Schwestersöhne) der Sage spricht für eine keltische Überlieferung.

Plutarch erzählt im „Leben des Camillus“ eine abgewandelte Wanderungslegende: „Die Gallier stammten aus keltischen Stämmen und waren so zahlreich, dass sie, wie man sagt, ihr eigenes Land verließen, das sie nicht alle ernähren konnte, und sich auf die Suche nach einem anderen machten. Sie waren viele Myriaden junger Krieger und nahmen eine noch größere Zahl Frauen und Kinder mit. Einige von ihnen überquerten die Rhipäischen Berge, strömten Richtung Nordmeer und besiedelten die entlegensten Teile Europas. (Plut. Cam,15).

Die Rhipäischen Berge „am Rand der Welt“ könnten bei Plutarch die Waldgebirge Hercynias sein, aber auch nur mythisch die nördlichste oder nordöstlichste Grenze kennzeichnen (der Name der Berge weist darauf hin, dass hier der Entstehungsort des Nordwinds Boreas verortet wird, altgriechisch ῥιπή „Windböe“ oder „Atemhauch“ (Plin. nat. IV 88). Die Riphäen (und mit ihnen die Hyperboreer, die „jenseits des Boreas „Nordwindes“ wohnen), wurden mit fortschreitender geographischer Kenntnis immer weiter verschoben. „Aristoteles verbindet damit die für ihn glaubwürdige und aus physikalischen Gründen unverzichtbare Annahme ›der alten Meteorologen‹ vom rhipäischen Nordgebirge (meteor. 2, 1, 354 a), das die Flüsse nach Süden entsendet, vermeidet aber den Widerspruch (und erklärt zugleich die Richtung der südrussischen Ströme) durch die (astronomisch begründete) Verschiebung der Rhipäen nach Osten.“ (Dieter Timpe) Der Hercynische Wald (vom indogermanischen Wort für Eiche abgeleitet „Eichenwald“) wurde in der mediterranen Welt durch die Geographika des Eratosthenes von Kyrene (275-195 v.Chr.) bekannt, und von Poseidonios von Apameia (ca. 135-51/50 v.Chr.) beschrieben. „Mit dieser Entdeckung wird auch die Kenntnis des ›hercynischen Waldgebirges‹ zusammenhängen. Aristoteles, der es für uns als erster erwähnt, bezeichnet damit die gesamte Mittelgebirgszone; er nennt die »ρη ’Aρkυνα« das »größte Gebirge« der Region nach Höhe und Ausdehnung und hält sie für das Quellgebiet nach Norden abfließender Ströme, lokalisiert also den hercynischen Wald nördlich der Donau. Damit ist grundsätzlich die südnördliche Gefällerichtung Mitteleuropas erkannt, das folglich am Nordozean enden musste, nicht an einem nördlichen Randgebirge.“ (Dieter Timpe, Mitteleuropa in den Augen der Römer)

Die ursprünglich von den älteren griechischen Ethnographen den Hyperboreern zugewiesenen Regionen Mitteleuropas wurden von dem Universalhistoriker Ephoros im 4. Jh. v. Chr. den Kelten zugewiesen, die Hyperboreer selbst weiter nördlich verschoben – bis sie schließlich „aus Platzmangel“ auf einer fiktiven Insel Helixoia im Ozean nördlich des Kontinents verortet werden (Diodor II,47, bei ihm erzählt nach Hekataios von Abdera - eine Insel nördlich der Kelten). Noch bis zu Diodor kennt die Ethnographie im Westen und Norden nur Kelten, im Nordosten Skythen,
an deren unbestimmten Grenze Keltoskythen, jedoch keine Germanen.

Eine die Boier im Hercynischen Wald verorteten Nachricht aus dem 2.Jahrhundert BC erfährt man über Strabon von Poseidonios:“Er sagt auch, die Boier hätten früher den Hercynischen Wald bewohnt, und die Cimbrer aber, welche bis in diese Gegend vorgedrungen, wären, von den Boiern zurückgeworfen, nach dem Ister und zu den gallischen Skordiskern hinabgezogen,“ (Strab VII,2,2)

Die Wanderungssage in den Hercynischen Wald lässt sich bei Cäsar (ca. 53 v.Chr.) fortsetzen: in Buch VI des Gallischen Kriegs nimmt er innerhalb seines Germanienexkurses und vor der Beschreibung des Hercynischen Walds (Caes. VI,24) einen Rückblick vor: früher wären die Gallier tapferer als die Germanen gewesen, und hätten Siedler über den Rhein geschickt. Interessanterweise lässt Cäsar nur die Volcae Tectosages (als gallischen Stamm) noch in seiner Zeit mitten im Hercynischen Wald in der fruchtbarsten Gegend siedeln. Die (ehemals?) rechtsrheinisch (jenseits des Rheins) siedelnden Boier erwähnt er nur beim Auszug der Helvetier. Diese hätten Noreia (in den Ostalpen) belagert (Cäs I,5). - im Vergleich zu den Helvetiern ist die Anzahl von 32.000 Boiern gering, die Gesamtzahl der auswandernden Helvetier gibt Cäsar mit 263.000 Helvetiern an (Cäs. I,29).

Erst bei Tacitus, sehr viel später, werden die Boier (und Helvetier) als einst mächtige gallische Völkerschaften bezeichnet, die aus Gallien ausgewandert wären, und rechts des Rheins gesiedelt hätten. Cäsar hat dies so eigentlich nicht gesagt, er erzählt konkret nur vom Rückzug der Helvetier und Boier aus den Ländern östlich des Rheins. Tacitus verortet im historischen Rückblick auf die Zeit vor Cäsar nun die Helvetier und Boier als Nachbarn in Germanien (Germania 28):“So haben also das Gebiet zwischen dem Hercynischen Wald, dem Rhein und dem Main die Helvetier in Besitz genommen, das ostwärts angrenzende die Boier, beide gallische Stämme.“

Zusammenfassend lässt sich aus den Quellen vor der römischen Okkupationszeit (oder wie bei Tacitus, der sich auf die Zeit vor Cäsar bezieht)
nur entnehmen, dass ein Stamm, der sich Boier nannte, irgendwo nördlich der Donau innerhalb des hercynischen Waldgebirges, östlich der Helvetier in Süddeutschland (Baden-Württemberg und Bayern?) mindestens im 2 Jahrhundert vor Christus gesiedelt haben muss.

Überleitend kann zusätzlich gesagt werden, dass der in den römisch-griechischen Quellen aus der Okkupationszeit erwähnte Begriff Boiohaemum älteren germanischen Ursprungs ist, und "Wohnsitze der Boier, Land, in dem die Boier leben" (V.Salac) , eine Fremdbezeichnung, die eine Grenzzone zwischen Laténekultur und germanischen Kulturgruppen in der Eisenzeit denken lässt. "Das Vorderglied ist das Ethnonym der Boier (keltisch *boiio-), und das Hinterglied ist germanisch *haima- ´Heim(at), Wohnsitz´, wobei nicht klar ist, ob es sich um eine lateinische Umbildung eines germanischen *Bajjahaima- handelt, bei der das germanische *Bajja- wieder durch die ursprüngliche keltische Form des Ethnonyms ersetzt wurde. Es ist nicht klar, ob es sich bei der Mischbildung Boiohaemum um eine sprachwirkliche Form handelt, die von den Landesbewohnern oder deren Nachbarn so verwendet wurde, oder aber um eine von den Römern geschaffene Kunstform. Für uns ist es wichtig, dass selbst wenn Boiohaemum eine künstliche römische „Neubildung“ darstellen sollte, dies nichts an Inhalt und Deutung ändern würde, dass nämlich der zweite Teil der Zusammensetzung *haima- germanischer Herkunft ist. Semantisch scheint der erste Teil der Zusammensetzung klar zu sein, es handelt sich um das Ethnonym der keltischen Boier. Der zweite Teil ist allerdings semantisch weniger deutlich: *haima- wird nämlich mit dem germanischen Haim gleichgestellt, das verschiedene Bedeutungen aufweist“.
Vladimír Salač, Urboiohaemum, Boiohaemum und Böhmen, 2015

unten Karte nach Eratosthenes
10489.jpg
 
Zuletzt bearbeitet:
Die antiken Quellen für das kaiserzeitliche „Land der Boier“ (Boiohaemum)

Strabon VII,1,3

Dort sind auch der Hercynische Wald und die Völker der Sueben, die teils innerhalb des Walds wohnen, wie die der Quaden; bei ihnen liegt auch Buiaimon, die Residenz des Marobodos, wohin dieser außer mehreren Anderen besonders seine Landsleute, die Markomannen, verpflanzt hat…“

Der Einzug der Markomannen in das ehemalige Land der Boier kann nur zwischen 8 und 1 v.Chr. erfolgt sein. Strabon schildert daher eine Situation, die erst um die Zeitenwende existiert haben wird.

Velleius Paterculus 2,109, 5
„Diesen Mann Marbod nun und diese Gegend beschloss Tiberius Caesar im nächsten Jahr von verschiedenen Seiten her anzugreifen. Sentius Saturnius erhielt den Auftrag, mit seinen Legionen durch das Gebiet der Chatten nach Boiohaemum zu marschieren (so heißt die Gegend, die Marbod bewohnt) und dabei sollte er eine Bresche durch die undurchdringlichen Hercynischen Wälder schlagen. Tiberius selbst wollte von Carnuntum aus, einem Ort im Königreich Noricum, der jener Gegend als nächster liegt, mit den Truppen, die in Illyrien dienten, gegen die Markomannen aufbrechen:“

Tacitus, Germania 28 und 42
Der Name Boiohaemum lebt noch heute und bezeugt die alte Geschichte der Gegend, wenn auch die Bewohner gewechselt haben.“ (28)
„Ausgezeichnet ist der Markomannen Ruhm und Stärke, und selbst ihren Wohnsitz haben sie sich, nachdem sie die Boier vertrieben hatten, erst durch Tapferkeit errungen
.“ (42)

Die Berichte über ein Boiohaemum, ein Land der Boier, das jetzt die Markomannen gehört, reflektiert eine ältere Zeit, denn um 50 v.Chr. endet die Laténekultur nördlich der mittleren Donau. Tacitus Nachricht von der Eroberung boischen Gebietes durch die Markomannen (die erst nach 8 v.Chr. dorthin übersiedelten) kann also nicht stimmen – wenn das böhmische Becken gemeint ist. Es muss sich aber um das nördliche böhmische Becken handeln, denn nur dort lässt sich nördlich des römischen Reichs an der mittleren Donau eine Siedlungskonzentration der Großromstedter Kultur und der RKZ B1 finden.

In den mittelalterlichen Quellen wie Cosmas von Prags Chronica Boemorum aus dem 12.Jahrhundert spielen die römischen und griechischen Autoren der Antike keine Rolle. Boemus ist die lateinische Bezeichnung des slawischen mythologischen Urvaters der Tschechen, Čech, der biblisch angelehnt an Moses sein Volk in ein unbesiedeltes Land führt, „welches euch gelobt ist, voller Wildes und Geflügels, überflüssig mit Honig und Milch, und wie ihr es selber sehet, zur Wohnung sehr angenehm und bequem, die Wasser ohne Mängel und sehr fischreich“ (Zitat aus Kronyka Czeská, Prag 1541), und aus Dankbarkeit nach ihm lateinisch Boemia (Čechy) genannt wurde. Cosmas von Prag erzählt einen vorchristlichen legendären Gründungsmythos des Herrschergeschlechts der christianisierten Przemysliden, und basiert auch auf älteren Heiligenlegenden aus dem 10.Jahrhundert wie der Christianslegende, anderen Wenzellegenden und einer weiteren Legende um die Nationalheilige Ludmilla „Fuit in provincia Boemorum“ (nach dem ersten Satz der Legende, „Es war einmal im Land der Böhmen“).

Die stark an die Bibel angelehnte mittelalterliche Herkunft Böhmens ist in der frühen Neuzeit von einer Rezeption antiker Werke verdrängt worden, die den Namen Böhmens vom Boiohaemum herleiteten, der „Heimat der Boier“, auf einen noch älteren vorchristlichen Gründungsmythos zurückgriffen. Wenn die mittelalterliche Legende den schon langen existierenden Namen des Landes christlich und slawisch vereinnahmte, (nach Salač wäre der Name der Baibari (Bayern) in Quellen des 6.Jahrhunderts von ihrer Herkunft aus Baiaheim /Böhmen abgeleitet), dann hat die Identifizierung Böhmens als ein Gebiet, in dem einst Boier lebten, seine Berechtigung. Rübekeil lehnt diese Herleitung des Namens der Bayern aus Boiohaemum ab:“ Eines ist den meisten Deutungen des Baiernnamens gemein: Sie gehen in der Mehrzahl davon aus, dass der Name in seiner frühen Form Baiovarii (und ähnlich) als Determinativkompositum anzusehen ist. Während nun die ältere Forschung das Erstglied Baio- ohne allzu skrupulöse Umwege auf den Stammesnamen der keltischen Boier bezog und daraus eine Einwanderung der Baiern aus boiischen Stammlanden erschloss , lehnt die jüngere Forschung mit der veralteten Einwanderungstheorie zugleich den namenkundlichen Rückgriff auf das Ethnikon Boii ab.“ Ludwig Rübekeil, Der Name Baiovarii und seine typologische Nachbarschaft, 2012

Vladimír Salač trennt das kaiserzeitliche Boiohaemum aus den o.g. römischen Quellen jedoch von einem älteren Boiohaemum, dass er Urboiohaemum nennt, dessen Lokalisierung unbekannt ist, und von Thüringen bis zu den Karpaten angesiedelt sein kann. Nach der archäologisch nachgewiesenen materiellen Kultur lässt sich kein Stammesgebiet zuordnen, es gibt Einheitlichkeit zum Beispiel in der Körpergrabsitte im 3.Jahrhundert v.Chr. (Horizont der Duxfibel), doch zerfällt diese Einheit der ostkeltischen Laténekultur bei näherer Betrachtung in unterschiedliche Grabausstattungen, Stilrichtungen des Schmucks, Unterschiede in der Keramikproduktion, deren Technologien, Materialien und Verzierungen, Unterschiede und Übereinstimmungen bei der Münzprägung, Differenzen bei Bautypen und Innenausstattung und der Siedlungsstrukturen. Die erhaltenen Stammesnamen (außer den Boiern eigentlich sinnvoll nur noch die Volcae Tectosagen) für das Gebiet der Laténekultur im östlichen Mitteleuropa nördlich der Donau sind im Vergleich zu den allein für Gallien erhaltenen sechzig Stammesnamen äußerst gering: „… ferner liegt das von allen Galatern [= Galliern] gemeinsam für Caesar Augustus [= Kaiser Augustus] gestiftete Heiligtum vor dieser Stadt an dem Zusammenfluss der Flüsse (es besteht aus einem stattlichen Altar mit einer Inschrift der Namen der Völker – sechzig an der Zahl –, Bildnissen eines jeden dieser Völker und einem großen anderen (verderbt Tempel?/Standbild des Kaisers?)“ Strabon zum Ara trium Galliarum, Zentralheiligtum in Lugdunum am Zusammenfluss von Arar (Saone) und Rhodanus (Rhone) Strab. 4,3,2

Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass, weil nur der Boier-Name zur Verfügung steht, er alle unbekannten und verschollenen Stammesnamen besetzt und "übernimmt", und dass dadurch in der Meistererzählung über die Boier immer wieder Widersprüchlichkeiten wegkonstruiert werden (müssen). Wie lassen sich die Nachricht (basierend auf Poseidonios) von den Boiern einbauen, dass diese mit den Thrakern vermischt wären, und diese mit den bastarnischen und den sarmatischen Völkern (VII,3,3)? Oder ist Plinius Aussage über die deserta boiorum (Boier-Einöde), der in diesem Gebiet die claudische Colonia Savaria und dem oppidum Iulia Scarabantia an der Trasse der Bernsteinstraße in Westungarn um den Neusiedler See (Lacus Peiso) (Plin.3,146) ansiedelt, als ein nach Osten ehemals expandiertes Stammesgebiet der Boier zu interpretieren?

Es kann auch sein, dass die germanische Bezeichnung der Boier entweder eine Sammelbezeichnung für die südlichen Bewohner war, ähnlich wie *walhoz/walhaz abgeleitet von den Volcae Tectosages, oder die Bezeichnung den führenden Stamm herausgriff, Boiohaemum das Land war, „wo die mächtigsten, reichsten, schrecklichsten, tapfersten von allen Stämmen die Boier waren“ (Salač, S.129).Dazu passend Karl Strobel: „Der Boier-Name mit seiner allgemeinkeltischen Grundbedeutung „die (schrecklichen) Kämpfer, Krieger“ ist ein Prunkname, der zudem keineswegs auf einen einzigen Volksverband beschränkt gewesen war. Dass der Personenname Boiorix, so der Name des Königs der Kimbern in den Schlachten von Arausio und Vercellae, im germanischen Elitenmilieu übernommen wurde, lässt kaum einen Aussagegehalt wie „Rinderzüchter-König“ zu (andere Deutung des Namens, z.B. Anreiter, P. de Bernardo Stempel), entspricht aber sehr wohl die Bedeutung Kriegerkönig.“ Karl Strobel Die Boii – ein Volk oder nur ein Name? (S.51)
Damit würde, folgt man Strobel, der Boier-Name in direkter Konkurrenz zur anderen germanischen Fremdbezeichnung der „südlichen Nachbarn“ *walhoz / walhaz stehen, der wahllos auf alle möglichen Fremden übertragen wurde. Bei einer germanischen Übernahme des Kriegerbegriffs Boio (wofür auch die Tradierung des Boiohaemum nach markomannischer Besiedlung sprechen könnte.

Die Besiedlung Böhmens zur Zeit Marbods. Links in den letzten Jahrzehnten v. Chr. (RKZ A); rechts in den ersten Jahrzehnten n. Chr. (RKZ B1).
1760199340949.png
 
Zuletzt bearbeitet:
Zurück
Oben