Ich versuche mich mal dem Thema mit einem eigentlich untypischen Ansatz - nämlich dem sog. "Wissensmanagement" - zu nähern. Grundsätzlich ist Erinnerung ja Wissen, sei es nun in Bezug auf Individuen als auch in Bezug auf Gruppen.
Diesem Ansatz folgend kann man "Wissen" grundsätzlich in implizites und explizites Wissen gliedern. Implizites Wissen ist dabei platt formuliert alles was man eben weiß und/oder kann, ohne es wirklich erklären zu können (Fahrrad fahren bspw.). Explizites Wissen hingegen ist in irgendeiner Form kodifizierbares Wissen.
Der Schlüssel zur Entwicklung impliziten Wissens ist dabei die Sozialisation, wobei noch nicht mal unbedingt Sprache erforderlich sein muss. Implizites Wissen kann man sich auch beobachten. (Hierzu zählen z.B. bestimmte Gesten, die man innerhalb einer Gruppe eher unbewusst adaptiert.)
Aus diesem impliziten Wissen durch Sozialisation kann man, dem SECI-Modell von Nonaka und Takeuchi folgend, durch Externalisierung explizites Wissen durch das beschreiben von Merkregeln oder Metaphern generieren. Ein klassisches Beipsiel hierfür sind die sog. Bauernregeln: die Entwicklung impliziten Wissens erfolgte durch Beobachtung - hier des Wetters. Mangels der Kenntnisse die tatsächlichen Ursachen erfassen und beschreiben zu können, bildete man im Externalisierungsprozess Merkregeln, die den Sachverhalt zwar nicht beschreiben, die Beobachtung aber wiederspiegeln. Hierdurch wird auch direkt die Weitergabe des Wissens an folgende Generationen ermöglicht.
Im nächsten Schritt, der Kombination, wird bereits vorhandenes explizites Wissen mit neuen Informationen verknüpft und verarbeitet (ich mache das beispielsweise gerade indem ich die Infos in diesem Thread mit dem mir bekannten Wissensmanagement verknüpfe). Um aber beim Beispiel der Bauernregeln zu verbleiben: Ihr kennt vielleicht diese Bauernregel "Wenn Schwalben niedrig fliegen, wird man Regenwetter kriegen. Fliegen sie bis in die Höh´n, bleibt das Wetter noch recht schön!" Wenn man nun lernt, dass Insekten bei einer sich abzeichnenden Wetterverschlechterung aufgrund von Wind und Luftfeuchtigkeit nicht mehr so hoch fliegen können und ihnen die hungrigen Schwalben (und auch alle anderen insektenfressenden Vögel) nur folgen und dann ebenfalls niedriger fliegen sowie vice versa, so hat man die bekannte Bauernregel mit neuem Wissen kombiniert und kann nun auch die Ursachen erklären.
Im letzten Schritt der Internalisierung wird dieses durch Kombinatorik geschaffene explizite Wissen wieder in implzites Wissen umgewandelt (Autofahren ist für jeden Fahranfänger mühsam, geht aber irgendwann quasi in Fleisch und Blut über). Um bei der Bauernregel zu bleiben: die Ursache der Bauernregel, die tief fliegenden Insekten und die ihnen folgenden Vögel bei einer Wetterverschlechterung werden in implizites Wissen umgewandelt (man weiß es halt), die zugehörige Bauernregel braucht man jetzt nicht mehr, man kann sie also vergessen oder braucht sie auch nicht mehr an nachfolgende Generationen weitergeben.
Dieser Transformationsprozess läuft quasi laufend ab, sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene. (Wissensmanagement befasst sich dabei mit dem Umgang mit diesem Prozess, das aber nur am Rande)
Jetzt mal zu deinen Fragen, wobei ich oben beschriebenem Ansatz folge:
Was passiert, wenn sich die Kollektive vermischen, überlagern oder sonstwie durcheinandergeraten?
Die Wissensbasis beider erweitert sich. Allerdings entsteht dadurch nicht automatisch das doppelte an Wissen. Überlicherweise kann hier von einer bestimmten Schnittmenge ausgegangen werden. Diese Schnittmenge muss nicht tatsächlich deckungsgleich sein, es kann auch einfach nur angenommen werden, dass sie deckungsgleich wäre. Die Übernahme bestimmter Götter anderer Kulturen in den eigenen Kult wäre hierfür ein Beispiel. Diese Götter können sowohl zusätzlich als auch ersetzend übernommen werden. Ein weiteres Beispiel wäre die Sprache: hier erfolgt sowohl eine Erweiterung des Wortschatzes durch die Übernahme von Begriffen für Dinge für die es bisher keine Benennung gab als auch die Übernahme von Begriffen die synonym verwandt werden konnten. Zusätzlich gibt es Wissen, welches man mit in Berührung kommen mit der anderen Gruppe nicht mehr benötigt, also vergessen werden konnte (das Wissen bzgl. der heidnischen Götter im Zusammenhang mit der Christianisierung bspw.). Daudrch bildet sich durch die Vermischung quasi eine neue Wissensbasis heraus. Bei Fallbetrachtungen muss man hier allerdings unterscheiden, wie die Kollektive miteinander in berührung kamen. Waren es freundschaftliche Beziehungen und der Austausch erfolgte demnach auch nur auf freundschaftlicher Basis, oder erfolgte der Wissensaustausch gezwungendermaßen aufgrund von Unterwerfung/Unterordnung? Slebstverständlich lief dieser Prozess auch nicht von heute auf morgen ab, sondern dauerte mit Sicherheit einige Generationen. Hierzu passt wieder das von dir vorgestellte Modell der zwei Gedächtnisebenen nach Assmann und Halbwachs. Ich bleib mal bei dem Götterbeispiel und der Christianisierung:
Generation 1 kannte nur die heidnischen Götter und wird nun christianisiert
Generation 2 wird bereits als Christen erzogen, kennt die Götter aber noch aus den Erzählungen der Alten, bestimmte Riten und Feiertage sowie Kultorte werden bereits nicht mehr so gut gemerkt, weil sie für die christianisierte Generation nicht mehr die Bedeutung haben, wie sie diese noch für die letzte heidnische Generation hatten
Generation 3 erfährt daher von ihrer Elterngeneration bereits anteilig weniger über die alte Götterwelt, als diese noch selbst von ihren Eltern. Manche Geschichten sind allerdings so gut, dass sie sich noch eine Vielzahl von Generationen halten werden, solange diese aber nicht niedergeschrieben werden, werden diese Geschichten immer wieder durch das neu erworbene explizite Wissen der Weitergebenden verändert. Tja und irgendwann kommen dann die Gebrüder Grimm und schreiben "Frau Holle" auf, ohne noch zu wissen welchen Ursprung dieses "Märchen" hat. Womit "Frau Holle", da kodifiziert, jetzt zwar explizites Wissen ist, die Inhalte beschreiben jedoch implizites Wissen, welches man mittels entsprechender Forschungsarbeit wieder als explizites Wissen zugänglich machen kann.
Und was passiert, wenn sich die Alltagskultur durch gesellschaftliche Veränderungen anpassen muß, muß das kulturelle Gedächtnis dann nicht große Teile einfach "vergessen"?
Kurze Antwort: ja. Nicht mehr für erforderlich gehaltenes Wissen wird nicht mehr weitergegeben. Hast du von deiner Mutter noch beigebracht bekommen, wie man mit Waschbrett Wäsche wäscht? Also ich nicht, gibt ja Waschmaschinen (obwohl sie es noch gelernt hat
).
Ich stelle mir vor, dass solche Brüche mit anschließendem Vergessen mehrfach stattgefunden haben, z.B. beim Übergang vom religiös geregelten Mittelalter in die Neuzeit oder noch extremer bei der Umstellung des Erwerbslebens im Zuge der industriellen Revolution.
Die großen Brüche ja, viele kleine Brüche dazwischen gibt es allerdings auch, nämlich immer dann, wenn Erinnerungen von einer Generation auf die nächste weitergegeben oder eben nicht weitergegeben werden.
Erinnerung kann man nach Assmann und Halbwachs nur aus der Gegenwart betrachten, sie ist eine aktive Gedächtnisleistung, die sich aus der Kommunikation einer Gruppe ergibt. Wenn nun aber ein Teil des kollektiven Gedächtnisses verloren / vergessen wurde, müßte dieser Vorgang doch unwiderbringlich sein?
Nicht unbedingt, durch mühsame Forschung lässt sich einiges doch wieder rekunstruieren, was nachträglich doch als erinnerungswürdig erachtet wird. Zudem vergisst ja eine Gruppe nicht schlagartig und gleichzeitig. Und selbst wenn ein Kollektivum bereits gesamthaft vergessen haben sollte, so gibt es evtl. noch andere Gruppen, die eben nicht vergessen haben und dieses Wissen im Gegensatz zur anderen Gruppe als erinnerungswürdig erachten. Allerdings sollte man hier auch beachten, dass man ja nicht vergisst, weil man sein Hirn gern grad leichter haben möchte, sondern weil es "besseres" Wissen gibt. Durch diese Bereitschaft zu vergessen ist auch erst Fortschritt möglich.
Nun erst kommen für mich die schriftlichen Quellen ins Spiel und ich nehme als Beispiel die Varusschlacht.
Im kulturellen Gedächtnis kann sie sich nicht erhalten haben, da wir sonst u.a. noch wüßten, wo sie stattgefunden hat, da herausragende Ereignisse an gedanklichen Erinnerungsorten gespeichert werden.
Ich stelle mir vor, dass die Menschen am Schlachtort vorbeikamen und ihren Kindern erzählten: hier hat die Schlacht stattgefunden und wir haben gewonnen und reiche Beute gemacht. Man hätte einen so wichtigen Ort wahrscheinlich markiert, durch einen Stein, besonderen Baum oder was auch immer.
Für welche Kultur? Nachdem es seit der Varusschlacht etliche kulturelle Vermischungen gab, ist es mE nicht überraschend, dass der Ort der Varusschlacht quasi aus dem kollektiven Gedächtnis getilgt wurde, da die Gruppe für die die Varusschlacht eine herausragende Bedeutung hatte im Vergleich zur Größe der mit ihr vermischten Kollektive doch vergleichsweise klein ist.
Nun hatten und haben viele Staaten in Europa und anderswo ihre Nationenbildungsphase. In dieser Phase wird das kulturelle Gedächtnis nachgeschöpft. Vielleicht gab es in Einzelfällen noch echte Überlieferungen, vielleicht wurden Heroen aus der Geschichte als Ahnen adoptiert oder sonstwie umintepretiert.
Ist die Überprüfung der Fakten denn überhaupt entscheidend, wenn das kulturelle Gedächtnis diesen Gegenwartsbezug hat?
Für das Empfinden als Nation: nein. Im Zusammenhang der Weiterentwicklung von Wissen: ja. Durch entsprechende Forschung sehen wir heute "Nation" und zughörige Mythen viel differenzierter, als dies früher der Fall war.
Verwirrt die Schriftquellenbetrachtung der Historiker die Ahnenbezüge der Neuerinnerer nicht unnötig, denn gäbe es keine schriftlichen Hinterlassenschaften wäre dann unser kuturelles Gedächtnis ähnlich mythisch-nebulös wie das der alten Ägypter?
Nein, ist ja unser Wissen, das eigene Wissen ist nie mythisch-nebulös, das ist immer nur das Wissen der anderen.
(Ich hoffe jetzt mal ich war nicht zu mythisch-nebulös, leider neige ich genau dazu wenn ich sehr tief in einem Thema drinstecke, im Zweifelsfalle einfach schreien...)