Ich kanns nicht abschätzen, hörte sich jedenfalls interessant und soweit schlüssig an. Ist aber eine umstrittene These, und ich kenn die Gegenargumente nicht.
Zu Haefs kann ich nichts sagen; zu Ritter haben sich schon einige Leute geäußert, die es abschätzen können, siehe weiter unten.
Mittlerweile habe ich über Google books ein paar Schnipsel von Ritters Buch "Die Nibelungen zogen nordwärts" einsehen können, so kann ich wenigstens ein bisschen beisteuern.
Ritter hält die relativ spät (um 1500) überlieferte schwedische Version der Thidrekssaga für die ursprüngliche. Sie sei keine Dichtung, sondern ein authentischer Bericht:
"Die Thidrekssaga wird ihre wirkliche Bedeutung erst langsam zu erkennen geben. Aus einer für Norddeutschland stummen Zeit spricht sie mit einem Mal deutlich und vernehmlich, stellt uns plastisch und dramatisch die handelnden Personen jener Zeit vor Augen und die bedeutenden Verflechtungen und Schicksale, die sich zwischen ihnen und um sie abspielten. Sie dichtet nicht, sie berichtet. Und wo sie zu Dichtung wird, ist sie Bericht in dichterischer Form, keine willkürliche Erfindung."
[...]
'Sie dürfen die Thidrekssaga nicht wie eine Chronik behandeln!' wurde mir von fachkundiger Seite geschrieben. 'Es ist eine Saga, kein Bericht!' - Ich möchte erwidern: 'Im Gegenteil! Da sich die Thidrekssaga wie ein Bericht gibt, muß zunächst geprüft werden, ob und wieviel Wahrheit in diesem (vorgeblichen) Bericht steckt. Diese Prüfung ist früher nicht vorgenommen worden. Meine bisherigen Bemühungen darum aber haben mich nicht enttäuscht.' "
Ziemlich schnell bin ich auf Ritters "Erklärung" des Namens der Niflungenburg gestoßen, der in der schwedischen Fassung gar nicht überliefert ist. Ritter zieht die Namenvarianten der sog. "Membrane" heran, wo sich Formen wie
Werminza/Verminza/Verniza finden (vgl. die mittelalterlich überlieferten Formen
Warmacia/Wormez für Worms) - und stellt die Frage: "Wie würden nun diese Namen VERNIZA und VERMINZA heute lauten, wenn sie aus dem 5.-8. Jahrhundert stammten?"
Diese Frage ließe sich nun anhand von frühmittelalterlich überlieferten Namen wie
Mogontia oder
Constantia (in frühmittelalterlicher Aussprache also
Mogonzia und
Konstanzia) recht klar und eindeutig beantworten: Mit einem auslautendem
-z, siehe
Mainz und
Konstanz.Oder allenfalls mit einem auslautenden
-s, siehe
Worms.
Stattdessen fährt Ritter mit atemberaubender Unlogik fort: "Aus VERMINZA konnte (oder mußte?) entsprechend VIRMINICH-VIRMENICH werden."
Eine kurze Rezension verfasste
Henry Kratz in: The German Quarterly, Vol. 56/4 (1983).
Kritikpunkte sind:
- Ritter ignoriert den größten Teil der Thidrekssaga und sucht sich nur heraus, was in sein Schema passt. Dazu gehören historische Figuren wie Ermanarich und historische Ereignisse wie die Ravennaschlacht, die geographisch beim besten Willen nicht ins Rheinland oder nach Norddeutschland passen. Folgt man Ritter, müsste man von zwei verschiedenen Theoderichs ausgehen, die in zwei verschiedenen Veronas residierten und sich mit zwei verschiedenen Attilas auseinandersetzten.
- Ritter ignoriert auch den größten Teil der vorliegenden Forschungsliteratur.
- Ritter hält die Thidrekssage für eine realistische Chronik, ungeachtet aller Drachen, Riesen, Zwerge und unmöglichen Ereignisse.*
- Ritter übersieht auch die Anachronismen (Beschreibungen von Burgen und Waffen des 13. Jahrhunderts), die seiner Prämisse widersprechen.
- Ritter leistet sich auch sprachwissenschaftliche Klopper, etwa die Fehlinterpretation von
Bertangaland als "Bardengau".
Ausführlicher siehe dazu die Rezension von
Johannes Janota und
Jürgen Kühnel:
https://www.mgh-bibliothek.de/dokumente/a/a138413.pdf
"Da werden Fakten verschwiegen und sachliche wie argumentative Zusammenhänge zerrissen, wobei offen bleiben muß, ob Ritter-Schaumburg selbst die notwendige fachliche Kompetenz fehlt, oder ob er seinen mit der Probolematik ja nicht grundsätzlich vertruaten Lesern bewußt etwas verschweigt, um sie auf diese Weise nur um so mehr von seinen eigenen Ansichten zu überzeugen. Wie dem auch sei, es gehört zu den Grundübeln des Buchs, daß seine Überzeugungskraft für den interessierten Laien sehr stark auf mangelnden Informationen beruht.
Nicht anders zu beurteilen ist das Verfahren des Autors, Zusammenhänge herzustellen oder wenigstens zu suggerieren, die schlechthin falsch, für den Leser aber eben nicht nachprüfbar sind und sich dabei doch so schön in Ritter-Schaumburgs Argumentation 'einpassen'.
[...]
Alle bisher dargestellten Fehler und Unzulänglichkeiten seines Buches beruhen auf einer grundsätzlichen Fehleinschätzung der handschriftlichen Überlieferungslage. Eine eingehende Beschäftigung mit mittelalterlichen Texten und erst recht die angestrebte Revolutionierung der fast 200jährigen germanistischen Bemühungen um die Nibelungensage und ihre literarischen Gestaltungen erfordern fundierte Kenntnisse im philologischen Bereich - Kenntnisse, die Ritter-Schaumburg vollkommen abgehen.
Im Gegensatz zur bisherigen Forschung (aber ohne sich mit ihren Argumenten auseinanderzusetzen) nimmt er nicht die um 1260 entstandene 'Membrane' (vgl. S. 32 f.) als Haupthandschrift der Thidrekssaga, sondern die aus dem 15. Jahrhundert stammende altschwedische Handschrift 'Sv', deren Sigle (es ist die Abkürzung für 'Svenska Didrikskronik' = "Schwedische Dietrichs-Chronik") Ritter-Schaumburg merkwürdigerweise und ohne Erklärung als 'Svava' (vgl. S. 33) auflöst. Grundsätzlich kann natürlich eine jüngere Überlieferung in einzelnen Fällen den älteren Text bieten, doch müssen dafür eindeutige Beweise erbracht werden. Ritter-Schaumburg aber begnünt sich mit der lapidaren Erklärung: Ich möchte sie [nämlich seine 'Svava'] ... als eine ganz wichtige Quelle ansehen, aus der besonders rein zu schöpfen ist; denn ihr fehlen - 'noch', möchte ich sagen - die vielen Ausmalungen, Überlegungen und Empfindungen, welche vor allem die Membrane 'schmücken' (S. 33). Das ist eine grundlose Spekulation, mit der er die Überlieferungsverhältnisse auf den Kopf stellt. Denn ein genauer Vergleich zwischen der 'Membrane' und der Handschrift Sv zeigt deutlich, daß Sv von der 'Membrane' abhängig ist: Sv stellt eine Übersetzung des altnorwegisch-altisländischen Text gleichzeitig im Sinne chronikalischer Knappheit kürzt. [...]
Fazit auch hier: Da Ritter-Schaumburg den Anspruch erhebt, neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu vermitteln, kann ihm der Vorwurf nicht erspart bleiben, er wolle auf unredliche Weise dem Leser Hirngespinste als Fakten unterschieben und werte dabei anderslautende Forschungsmeinungen entweder (ohne zu argumentieren) ab oder verschweige sie ganz.
[...] Erwähnt seien nur seine sprachgeschichtlich unhaltbaren Etymologien. Altnordisch 'Niflunga land' und 'Bertanga land' z. B. sind laut Ritter-Schaumburg Gaunamen; er interpretiert (vgl. S. 98 und 124) sie als Nifflun-ga-land und Bertan-ga-land = Neffel-gau-land und Barden-gau-land. Dabei weiß jeder Germanistikstudent, der ein altnordisches Proseminar absolviert hat, daß 'Niflunga' und 'Bertanga' schlicht und einfach Formen des Genitivs im Plural sind, und 'Niflunga land' nichts anderes heißt als 'Land der Niflungen'. Aber offensichtlich bringt Ritter-Schaumburg nicht einmal diese minimale Voraussetzung für die Arbeit an seinem altnordischen Text mit. 'Bertanga land' heißt übrigens 'Land der Bertangar = Britonen', deren König auch in der Thidrekssaga Artus/Arthur ist; die Identifizierung mit dem Bardengau ist so unsinnig wie die meisten anderen Identifizierungen Ritter-Schaumburgs auch."
Einen Rezensionsartikel verfasste etwa gleichzeitig auch
Gernot Müller, Allerneueste Nibelungische Ketzereien, in: Studia Neophilologica LVII (1985).
Positiv beurteilt er (wie auch Janota/Kühnel) immerhin die Interpretation der Stelle, wo "Donau und Rhein zusammenfließen":
"Ritter liefert nun für die irritierende Ortsangabe eine überzeugende Lösung, in dem er auf eine in den Rhein mündende Duna bei Wiesdorf-Leverkusen aufmerksammacht. Die heutige Dhün fließt zwar über die Wuppermündung in den Rhein, ist aber 1117 und 1189 als selbständiger Nebenfluß des Rheins belegt."
Ansonsten beschäftigt sich der Artikel eher mit den Prämissen, auf denen Ritters seine Konstruktionen errichtet. Diese werden als nicht tragfähig eingeschätzt
"Ritters Kardinalfehler ist, daß er nach den Stoffen der Heldendichtung aus einseitig realgeschichtlicher Perspektive fragt, die Stoffrage um ihren literaturgeschichtlichen Aspekt verkürzt. Dieser Aspekt hat aber zum Wachstum von Heldensage mehr beigetragen als die reale Geschichte. Gerade im Nibelungenstoff mit seinen vier Hauptkreisen Jung-Siegfried-Abenteuer, Siegfrieds Tod, Burgundenntergang, Attilas Ende finden wir eindeutig mehr literarische Konventionen als historische Realien einer frühen Zeit."
* Wie weit Ritter geht, um auch die offensichtlich märchenhaften Züge noch irgendwie zu "retten", mag folgende Passage verdeutlichen:
"Von Sigfrid heißt es in aller Überlieferung, daß seine Haut 'hürnen' war, 'hart wie Horn', und daß er die Vogelsprache verstand. Das klingt zunächst sehr märchenhaft. Nehmen wir aber einmal an, es wäre wahr, was die Thidrekssaga überliefert - und das ist ja nichts Unmögliches -, daß Sigfrid im Walde aufwuchs, von einer Hirschkuh gesäugt, mit den Hirschjungen spielend und rennend; dann mußte er, um zu überleben, hart von Haut sein oder dicht behaart, und er hatte dies von Jugend auf, ohne sich erst in Drachenfett zu baden; dann verstand er auch die Sprache der Tiere, mit denen er gelebt hatte, also auch die der Vögel, ihre Lock- und Zorn- und Drohrufe und vielleicht mehr [...]"