Moin,
Weil einige hier fragten vorweg einen
Literaturtipp, bevor der hier untergeht:
Bernard Lewis: Die Welt der Ungläubigen: wie der Islam Europa entdeckte. Frankfurt/Main, Berlin, Ullstein, 1987
Dieses Taschenbuch schildert sehr anschaulich, fundiert, und leicht zu lesen, wie denn der Orient den Okzident sah. Schwerpunkt ist das Osmanische Reich, da dort die Quellenlage weit besser ist und es mehr Reisende gab.
Ich habe mir mal die Mühe gemacht und versucht mich folgender Frage anhand des unten stehendes Artikels anzunähern.
Warum ist der islamische Kulturraum vom Abendland überholt worden, warum ging es (natur-)wissenschaftlich im Nahen Osten abwärts?
Ich zitiere und fasse die 70 Seiten zusammen, was in diesem sehr guten Artikel steht, und dem ich in vielen (nicht in allen, da Widersprüchliches enthalten ist...) Punkten zustimme. (Einiges ist wortwörtlich zitiert, anderes mit eigenen Worten wiedergegeben und ergänzt):
"
Wer hat uns das angetan?" fragten die einen, "
was haben wir falsch gemacht?" fragten die anderen, die Nachdenklicheren nach dem Niedergang der arabischen Welt oder verlorenen osmanischen Schlachten.
Eine letztlich abschließende Antwort gibt es nicht, ob der Niedergang primär endogener (selber "Schuld") oder aber primär exogener Natur, also fremden Einflüssen geschuldet ist, wichtig ist vor allem, dass es keine monokausale Antwort, also eine einzige Ursache als Grund des Niedergangs gibt.
Den häufig genannten äußeren und inneren Gründen des Niedergangs und ihre Stichhaltigkeit gehen wir mal nach:
- Häufig ist zu hören, dass der Orient von außen – von rohen, weniger zivilisierten Völkern, also von externen Kräften bedrängt und gelähmt worden sei, zunächst von den christlichen Kreuzfahrern (11-13. Jh.), dann von Mongolen (um 1250) und Turkvölkern, und dann wieder von der katholischen Christenheit mit ihren imperialistischen Staaten (Portugal, Spanien).
Während muslimische Gelehrte und Politiker bis heute wohl mehrheitlich einer
Opfer-und-Belagerungs-These zuneigen, gab es seit Ibn Khaldun schon Wissenschaftler, die meinten, dass diese einst so glänzende Zivilisation im ausgehenden europäischen "Mittelalter" (1250-1500) eher aus endogenen Gründen (also eigenen Gründen) ins Straucheln kam und ihre internationale Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit als wehrhafter Kulturraum im Vergleich zum europäischen immer mehr einbüßte.
-
muslimische Religion wurde früher als Argument angeführt, aber dieses Argument kann nicht überzeugen und ist inzwischen
vom Tisch seriöser Historiker
Aber eine der vielen Faktoren (nicht Ursache) des Niedergangs aus
eigener Schuld:
Die Jahrhunderte lange
Verbannung der Frauen in die private Sphäre und damit in eine untergeordnete soziale Rolle (stärker und konsequenter als in Europa) einer Selbstamputation des Volkskörpers gleichkam, die nicht ohne Folgen für Leistungsfähigkeit und Kreativität der Gesellschaft bleiben konnte. Dieses Argument ist Ernst zu nehmen und
wiegt für die soziale Stagnation
in der Gegenwart schwer, aber sie kann
nicht den Beginn der relativen kulturellen Regression oder Stagnation erklären.
Allerdings möchte ich anmerken, dass mir kein Datum bekannt ist, ab dem die Frauen stärker und messbar zurückgedrängt wurden, obwohl einige Frauen im Frühislam noch historisch greifbar sind... Vielleicht ist dieses Argument historisch schwächer...
Äußere Schuld, die oft erwähnt wird:
Mongolen:
Buchara wurde in Schutt und Asche gelegt; Bagdad wurde 1256
eingenommen und geplündert, der Kalif wurde geköpft. Mehr als 24000
Ulemas – Religions- und Rechtsgelehrte also – sowie 15000 andere Wissenschaftler sowie Dichter, die in Bagdad aus dem ganzen Reich zusammengekommen waren, wurden ermordet. Ein kolossaler Elitenmord.
Ein sicherlich schwerer Aderlass für die islamische Kultur, allerdings auch nicht so ausschlaggebend, denn man muss berücksichtigen, dass das Bagdader Kalifenreich schon vorher stark geschwächt war, weswegen die Mongolen überhaupt diesen großen Triumph feiern konnten.
Also kommen wir hier auch nicht viel weiter.
Ergiebiger scheint die Frage wie denn die
islamische Orthodoxie als die Ton angebende Klasse auf die erste große Krise – den Mongolensturm –
reagiert hat:
Es ist ja bekannt, dass nachdem die Mongolen erst zerstörten, sie die islamische Kultur, auch Religion annahmen und als Mäzene und Förderer vieles großzügig wieder aufbauten.
Allerdings wurde jegliche Autonomie im Bereich des Kulturell-Religiösen
von den neuen misstrauischen Machthabern unterbunden. So gestatten die Mongolen-Herrscher es den ulama nicht länger, die scharia als potentiell subversiv-
kreativen Weg zu eigener Urteilsfindung – nämlich der Praktizierung von idschtihad – zur Ausarbeitung neuer Rechtsvorschriften einzusetzen. Man erklärte "
die Tore des idschtihad" für geschlossen. Muslime wurden gezwungen, sich den Entscheidungen älterer Autoritäten zu unterwerfen. Die scharia war damit zu einem System etablierter Regeln geworden, die die dynamischere Rechtssprechung des jeweiligen Herrschaftshauses nicht mehr in Frage stellen konnte.
Gleichzeitig waren die ulama – ganz im Gegensatz zu reformfreudigen Mystikern – zufrieden, dass "die Tore des idschtihad" für geschlossen galten. Nachdem so viel Wissen der Vergangenheit verloren gegangen war,
nach der Vernichtung von Manuskripten und der Hinschlachtung von Gelehrten, war es wichtiger, das noch
Vorhandene zusammenzuhalten, als weitere Änderungen einzuführen. Notgedrungen verwandelten so die ulama des 14. Jahrhunderts den
Pluralismus des Koran in einen starren Kommunalismus. In den madrasas lernten die Studenten alte Texte und Kommentare auswendig, und in der Schule wurde ein Standardtextbuch Wort für Wort durchgegangen. Öffentliche Disputationen zwischen Gelehrten gingen ganz selbstverständlich davon aus, dass einer der Standpunkte zwangsläufig richtig und der andere zwangsläufig falsch war.
Von einer dialektischen Diskursmethode und dialogischen Wahrheitssuche war nichts mehr übrig geblieben.
Also kurz gesagt, dass auf äußere Herausforderungen der einheimische Gelehrten- und Lehrerstand in den östlichen Mittelmeerreichen oftmals mit defensiver Selbstisolation und Ausgrenzung reagierte – mit schwerwiegenden Folgen für die institutionelle Fähigkeit, die Kapazitäten zur Bewältigung der Moderne einzuüben und ständig weiter zu entwickeln.
Damit war eine Tradition der politisch blockierten Wissenschaftsfreiheit gelegt worden.
Die Reaktion der muslimischen Gelehrten auf die Mongolen, und die Vorgehensweise der Erben der Mongolenherrscher scheint einer der Schlüssel zu sein, warum sich so dauerhaft die Wissenschaften nie wieder erholten.
Die Araber machten ja lange Zeit, und bei intellektuellen Nieten bis heute, die
osmanische Kolonialherrschaft für die Stagnation und den Niedergang verantwortlich.
Die Perser machen gerne gleich die Araber und Türken gemeinsam dafür verantwortlich.
Bloß nicht selber verantwortlich sein...
Die
osmanische Herrschaft war sicherlich ebenso "schuld", an der Stagnation der Naturwissenschaft, wie die vorherigen oder nachfolgenden Herrscher, die es nicht besser machten. Niemand hinderte die lokalen halb autonomen arabischen Vasallen in der Peripherie, in den Universitäten eine Renaissance der Naturwissenschaft anzufangen. Die Osmanen hatten zwar Phasen eines regen Austausches mit dem Westen, auch glanzvolle Zeiten mit immensen ökonomischen Ressourcen, sie nutzten jedoch diese in der Wissenschaft meist damit, verschollenes Wissen zu bergen, statt neues Wissen außer in wenigen Disziplinen zu erforschen. (So wurde denn auch leider bald das berühmte Istanbuler Observatorium geschlossen.) Man erkannte lange Zeit nicht die Folgen, was da im Westen Neues entstand. Und als man es erkannte, vor allem militärisch, dachte man, man müsse nur zurück zur "guten alten Zeit", um wieder gleichwertig zu sein, statt kreativ und innovativ zu werden.
Abgesehen von einigen wenigen Christen und anderen, die in Italien ausgebildet worden waren, beherrschte kaum jemand die westeuropäischen Sprachen oder wusste etwas von den dort gemachten wissenschaftlichen und technischen Fortschritten (außer einige militärtechnische Sachverhalte). Die
kopernikanischen Theorien wurden in Türkisch zum ersten mal und auch dann nur flüchtig am Ende des 17. Jahrhunderts erwähnt; und die Fortschritte der europäischen Medizin (war ja sehr stark durch die arab. Medizin befruchtet) wurden erst im 18. Jahrhundert allmählich bekannt, wenngleich in einigen Bereichen die osm. Medizin bis dato noch hochentwickelt war (Stichwort: Impfungen, Geisteskrankheiten, etc.)
Die Osmanen verstanden sich angesichts der heterodoxen machtgefährdenden Strömungen auf dem Balkan (Sufi-Derwische, etc.) und Anatolien (Schia/Alevis/etc.)
als Hüter der Orthodoxie nach Richtung der Sunniten, die wie wir vorher schon hörten, unter den Arabern erstarrt war. Es entstand eine Symbiose aus Staatsmacht und Religion, aus Sultanat und ulama-Gemeinschaft. Es garantierte die moralische und religiöse Bindung zwischen dem Sultan und seinen Untertanen. So wurde die
sharia – die einst als eine Protestbewegung der ulema gegen ungerechte Herrschaft begonnen hatte – zu einer Stütze der absoluten Monarchie umfunktioniert – mit schlimmen Folgen für die soziale und intellektuelle Beweglichkeit des Systems, mit neuen Herausforderungen der Umwelt angemessen, d.h. kreativ und innovativ, fertig zu werden.
Die vom Sultanat abhängig gewordenen ulama widersetzen sich jeder bildungspolitischen Neuerung im Reich. Im 16. Jahrhundert wurde der Lehrplan der madrasas engstirniger:
Das Studium der Philosophie wurde zu Gunsten eingehender Studien des fiqh – des Rechts –
aufgegeben… Die ulama widersetzten sich etwa der Verwendung des Buchdrucks für islamische Literatur – einer Erfindung der Ungläubigen. Die mangelhafte interne Systemdifferenzierung zwischen Sultanat und Geistlichkeit und die bürokratische Erstarrung erfolgte auch infolge
nicht vorhandener checks and balances.
Die ulama war im alten Ethos rückwärtsgewandter Frömmigkeit stecken geblieben und erwies sich so als unfähig, der Bevölkerung der muslimischen Welt beizustehen, als sie von der westlichen Moderne getroffen wurde. Heute würde man von "
bad leadership" in einer Situation zunehmender geistiger Orientierungslosigkeit sprechen. Haltsuchende Muslime des Osmanischen Reichs mussten sich also nach einer anderen Führerschaft umsehen. Die Stunde der islamischen Rebellen und Reformer, der Modernisten und Sufi-Brüderschaften hatte geschlagen – der
"Jungtürken" im Osmanischen Reich, der Wahhabiten (1703-1792) in Saudi-Arabien, der "Mahdisten" im Sudan, der Sufi-Reformer um Ahmad ibn Idris (1780-1836) in Marokko und der schiitische ulama-Zentren im Iran, die auf Distanz zum staatlichen Machtzentrum Wert legten.
Vom Kalifen und seiner Gelehrten in Istanbul kam halt keine befriedigende Antwort auf die westliche Herausforderungen.
Dabei möchte ich nochmals vor Augen halten, dass nicht "der Islam" schuld am Niedergang ist, sondern die ungeeignete Organisation von Macht und Wahrheitssuche. Zudem mangelnde Konkurrenz in gesellschaftlichen Subsystemen.