In der einflussreichsten Stellungnahme zu dieser Auslegung beschrieb der westdeutsche Historiker Hans-Ulrich Wehler das Kaiserreich als ein durch tiefe innere Brüche gekennzeichnetes gesellschaftliches und politisches System, in welchem wesentliche Grundzüge der Vormoderne bis ins moderne, industrielle Zeitalter fortbestanden. Die Verfassungsstruktur des Deutschen Kaiserreichs war in entscheidenden Punkten autokratisch geblieben. Die führende Schicht, der grundbesitzende preußische Adel, beherrschte nicht nur die Armee und die Staatsorgane, sondern prägte auch allgemeine Werte und Einstellungen, während das Land zugleich eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Modernisierung durchlief. Das Ergebnis dieser ungleichen Kräfteverteilung waren zunehmende innenpolitische Spannungen. Trotz der zahlreichen Forderungen nach Demokratie, sei es aus der fortschrittlichen Mittelklasse, den Frauenorganisationen oder der Arbeiterbewegung, klammerten sich die herrschenden Schichten hartnäckig an die Macht.