Deplaziertes Verhalten an/in Gedenkstätten und Erinnerungsorten


In zumindest einem Fall wurden die Schüler durch einen Lehrer beeinflußt:

Als Beispiel berichtete er [Wagner, der Leiter der Gedenkstätte], dass jüngst mehrere Schüler einer Klasse kritische und provokante Fragen stellten. Die Lehrerin zeigte sich nach Angaben Wagners irritiert. Es habe sich herausgestellt, dass die Frau für einen Kollegen eingesprungen war, der AfD-Mitglied sei.

https://www.welt.de/vermischtes/art...er-provokante-Fragen-in-KZ-Gedenkstaette.html
 
Das veränderte Verhalten erklärt der Leiter der Gedenkstätte Bergen Belsen damit, dass der "touristische" Aspekt des Besuchs zunehmend im Vordergrund. steht. Man besucht es - manchmal auch halb "zwangsweise" - wie eine Kirche, Schloss etc.

Und sagt damit - so mein Fazit - im Prinzip, dass weder ein ausreichendes Wissen noch eine emotionale Betroffenheit vorhanden ist. Die Gedenkstätten werden oder sind bereits bei Teilen der Gesellschaft zu einer "ganz normalen Selfi-Kulisse" geworden.

Bis zu einem gewissen Punkt wohl ein normaler Prozess des "Vergessens" (vgl. A. Assmann: Formen des Vergessens), der nicht nur die Periode des NS-Regimes betrifft, sondern ebenso frühere oder spätere Ereignisse. Wie man es auch bei der Erinnerungskultur um die DDR bereits erkennen kann.

https://www.deutschlandfunk.de/ehem...staette-oder.2849.de.html?drn:news_id=1093052
 
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Im Film "Axolotl Overkill" gibt es eine Szene, in der eine Schulklasse ein ehemaliges KZ besucht. Der Lehrer müht sich zwar redlich ab, ihnen die Dimension der dort begangenen Verbrechen klarzumachen, aber die Schüler lungern alle unbeeindruckt (als der Lehrer auf den Schrecken des Orts hinweist, meint eine Schülerin lediglich, dass das aber nicht Auschwitz sei) und sichtlich/demonstrativ gelangweilt herum. Sie rauchen, einer wirft seinen Stummel einfach irgendwohin, einer fragt, ob jemand etwas zum Saufen mithat. Dazu dann noch provokante Bemerkungen.

Ich hoffe, diese Szene war satirisch überspitzt.
 
Den Schülern heute fehlt der Bezug. Mein Vater war gerade alt genug, um sich an die Leichen in den Straßen, Luftschutzkeller und "verschwundene Leute" zur erinnern. Ich musste als Kind bei der Pflege der Gräber von zwei in die Heimat überführten gefallenen Großonkeln helfen. Und da ich meine Großväter, die vor meiner Geburt starben, nicht mehr kannte, erzählten mir Nachbarn von der Zeit. Auch davon, wie sie davon erfuhren, was wirklich in den Lagern geschah. Einer war bei der Waffen-SS und er erzählte, wie er in Gefangenschaft einen jüdischen Händler aus dem Nachbarort wiedertraf, den alle für tot gehalten hatten. Dieser war als Übersetzer für die rote Armee tätig. Und in der Schule gab es mehr oder weniger regelmäßig Vorträge von Zeitzeugen. Und wenn uns Jungs einige Senioren aus dem Ort mit Kriegsspielzeug erwischt hätten, hätte es was gesetzt. Davon gingen wir zumindest aus. Bei einigen meiner Mitschüler zu Hause hingen die Fotos ihrer gefallenen Großväter mit oder ohne Uniform an der Wand. Das KZ bei der Wewelsburg erklärten uns Leute, die sich an Wewelsburg in der damaligen Zeit erinnern konnten. Ein Lehrer hatte noch im Krieg gedient.

Die Liste ließe sich fortsetzen. Und all das fehlt heute. Für die heutige Jugend ist das alles weit weg. Und da muss dann auch viel generalisiert werden, was okay und was daneben benommen ist. Und das geht eben in einem vom WWW geprägten Umfeld noch öfter daneben, als es sonst schon bei Jugendlichen passieren würde.

Die Vermittlung wird neue Wege gehen müssen, wenn z.B. das Lesen von Büchern wie das Tagebuch der Anne Frank gänzlich 'uncool' sein soll und aus dem sozialen Umfeld auch keine häufige Thematisierung mehr zu erwarten ist.

Anders ausgedrückt, fehlt bei vielen eine genügende Sozialisation in dieser Hinsicht.

Ich habe mal erlebt, wie ein pensionierter Lehrer, der ein Antiquariat betrieb, zwei Schülern, die Bücher für ein Referat darüber suchten, ganz geduldig ihre kruden Vorstellungen auseinander nahm und sie auf die richtige Fährte brachte. Ich wäre nicht so geduldig gewesen. Aber es hat augenscheinlich funktioniert. Die beiden begannen sichtlich, sich dafür zu interessieren und waren auch entsprechend schockiert. Es ist also kein methodisches Hexenwerk, auch wenn zwei Schülern sicherlich besser unterrichtet werden können als Zwanzig bis Dreissig.
 
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"Deutsche Schüler wissen nach Einschätzung des Didaktikers Meik Zülsdorf-Kersting oft zu wenig über die NS-Geschichte und den Holocaust."

Schulunterricht - "Horrorbilder führen nicht weiter" - Geschichtspädagoge beklagt mangelndes Wissen über Holocaust und NS-Zeit
Der Beitrag ist erschreckend dünn. Im Prinzip gibt Zülsdorf hier doch nur wieder, was seit 30 Jahren und länger klar ist. Spätestens mit dem Beutelsbacher Konsens vor 45 Jahren war klar, dass Lehrer Schüler eben nicht überfahren dürfen, es keine Denkgebote in der Schule geben darf (Zülsdorf: „Was soll für die Schüler noch interessant sein, wenn schon feststeht, was sie denken müssen?“) Es steht eben mindestens seit 45 Jahren laut Lehrplan nicht mehr fest, was Schüler zu denken haben und das weiß Zülsdorf auch ganz genau.
Und Schockpädagogik ist schon genauso lange out.
 
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