Ich habs mir nun abgesehen und den Film von Visconti auch, das Buch kenn ich nicht. Spoiler!
Vom Gehabe als Göttergesellschaft kann ich bei Netflix nichts merken, die fürstliche Gesellschaft wird von Visconti deutlich besser dargestellt, auch wegen der authentischeren Ausstattung, Kulissen, Kostüme etc. In der alten Verfilmung lässt der Fürst einige markante adlig-elitäre Metaphern raushängen, die Garibaldiner werden den Sizilianern keine Manieren beibringen können, denn sie seien Götter, und bald kämen die Affen und werden sich an ihren Schwänzen an die Kronleuchter hängen und ihr Gesäß zeigen usw.
Visconti klebt auch durchgängig am Fürsten Don Fabrizio alle anderen sind bloß Nebenerscheinungen, Netflix breitet dagegen die anderen Charaktere und ihre Beziehungen voll aus. Die Figuren haben eine Entwicklung, Tancredi ist erst der junge Stürmer der sich vom Fürsten lossagen möchte und etwas eigenes möchte und darum die Fürstentochter Concetta abweist, die ihrerseits deshalb aus Schmerz und um ihren Vater zu verletzten ins Kloster geht.
Die Einführung von Angelica bei Netflix ist sehr schön, der schicksalhafte Giftapfel, so verführerisch, dass man beißen muss, erwachsen aus dem Neid der unteren Schicht, das logische und notwendige Übel der neuen Zeit das sich auch in der hohen Gesellschaft seinen Platz findet.
Das alles wird bei Visconti ausgespart, 6 Stunden sind auch 3 mehr für Netflix.
Netflix's Bürgermeister Sedara ist ein schmieriger, verlogener, ruchloser Ausbeuter der den Wandel der Zeit bis ins letzte auszunützen weiß und ein Wink an die sizilianische Mafia auf die auch die finale Szene anspielt, der von Visconti ist dagegen eher schon freundlich und zurückhaltend, ebenso wie seine Tochter Angelica nicht giftig und intrigant sondern zauberhaft ist.
Viscontis Don Fabrizio zeigt durchwegs Gleichgültigkeit gegenüber dem Wandel der Zeit und meint, dass sich am Ende ohnehin nichts ändert, jedenfalls nichts worum sich einer wie er zu kümmern braucht, mit Sprüchen wie die oben stellt er klar, dass sie etwas besseres sind als Normalsterbliche die bloß kurzweilige Erscheinungen seien.
Der von Netflix legt eine viel stärkere Ablehnung gegenüber den Geschehnissen und mehr Aktivität an den Tag, anders als bei Visconti reist er persönlich nach Mailand?Neapel? auf die Einladung einen Senatssitz zu erhalten und hält dort die weitgehend gleiche Rede wie Viscontis Fürst dem Boten der Einladung in Sizilien. Die Familie muss einige schwere Schicksalsschläge hinnehmen, der Erbe stirbt beim Versuch sich Anerkennung beim Vater zu verschaffen, der Familienvater muss eine Menge Schmerz einstecken, bei Visconti wird so etwas nicht gezeigt. Wo bei Netflix ein Niedergang der Familie und damit des Adels stattfindet feiert Visconti am Ende einen großen rauschenden Ball der eine von den drei Stunden in Anspruch nimmt und vielleicht mehr Schauspieler und Statisten mit aufwändigen Ballkleidern aufbietet als die ganze Serie von Netflix.
filmdienst schrieb:
So verkommen in beängstigender Schnelligkeit die neu gewonnene gesellschaftliche Freiheit zu einem turbokapitalistischen Liberalismus der Glücksritter, Demokratie und Parlamentarismus zu der lügenhaften, leicht durchschaubaren Farce eines totalitären 100-Prozent-Votums – und der Modus Vivendi des alten Adels mitunter zu modernem französischem Boulevardtheater.
Das wird von Netflix sicherlich sehr viel stärker dargestellt, die adlige Gesellschaft und Selbstverständnis hingegen bei Visconti.
Alles in allem kann man daran auch allgemeine Unterschiede des Films von heute und dem von vor 60 Jahren sehen, ich finde Netflix hat da eine gute eigene Fassung hingelegt, gerade auch weil sie andere Dinge ins Licht rückt und ausbaut. Man braucht die beiden Adaptionen wohl auch nicht an einer Skala messen, dann muss man sich auch nicht den Spaß verderben lassen indem es die schlechtere Fassung sei.