Man hat die DDR-Gesellschaft häufig als eine – im wahrsten Sinn des Wortes – "geschlossene Gesellschaft" bezeichnet. Die Menschen hatten nicht nur Freizügigkeit, weltoffenen Austausch und individuelle Entfaltungsmöglichkeiten zu entbehren, sondern es gab fast keinen Bereich des Lebens, der nicht durch Mangel und Gängelung gekennzeichnet war. Die Menschen waren in ein enges Geflecht von Betreuung und Bevormundung eingebunden, gleichgültig ob es sich um den Urlaub in einem Gewerkschaftserholungsheim oder um die Planung des eigenen Bildungs- und Berufswegs handelte.
Durch die (Wieder)vereinigung hat sich innerhalb kürzester Zeit die "geschlossene" in eine offene Gesellschaft verwandelt. Freilich erwies sich diese "freie" Gesellschaft nun als risikoreicher als die "geschlossene", in deren Mauern sich viele dann doch eingerichtet hatten. Arbeitslosigkeit und Existenzsorgen waren den meisten vorher unbekannt gewesen.
Doch obwohl die "spätkapitalistische" Gesellschaft der Bundesrepublik 10-20% Arbeitslose hervorbrachte und vielfach soziale Ängste produzierte, bot sie andererseits auch vielfältige Chancen und Verlockungen. Die Mehrheit der Bevölkerung war und ist daher sehenden Auges bereit, diese Chancen eines freien Gesellschaftssystems höher zu bewerten, als die repressive Enge der vorangegangenen sozialistischen Gesellschaft. Alle Umfragen zeigen, dass nur ganz wenige die DDR zurücksehnen, was freilich Reformwünsche mit wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Zielsetzung nicht ausschließt. Der Weg zu einer perfekten Gesellschaft ist halt mühselig, sofern sie nicht überhaupt utopisch ist.
Im übrigen war der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland aufgrund der politischen und wirtschaftlichen Lage unausweichlich geworden, zumal sich auch der gesamte sozialistische Ostblock auflöste.
Anzeichen einer Krise der DDR hatte es seit Anfang der 80er Jahre gegeben. In der Wirtschaft war trotz aller Erfolgsparolen der wissenschaftlich-technische Rückstand und die mangelnde Produktivität der DDR-Planwirtschaft nicht zu verdecken gewesen. Dem Devisenmangel und der Staatsverschuldung konnte durch eine Ausweitung der Westexporte nicht begegnet werden, weil DDR-Waren dort nicht genügend Abnehmer fanden. Noch deutlichere Anzeichen einer Krise wurden im politischen und gesellschaftlichen Bereich sichtbar. Denn auf die seit 1985 wachsende Gefahr, dass Funken der sowjetischen reformpolitik auch auf die DDR überspringen könnten, reagierte die SED-Führung mit härterer Durchsetzung des Herrschaftsanspruchs der Partei und mit Unterdrückung auch kleinster Ansätze von Reformdiskussionen. Zwar gab es warnende Stimmen, die zu einer Kurskorrektur aufforderten, doch lehnte die Parteiführung dies kategorisch ab, sodass Reformen ausblieben.
16 Jahre nach der Wiedervereinigung sind die Deutschen im gesellschaftlichen, ökonomischen, politischen Alltag angekommen. Dieser Alltag ist rau, ist problembeladen, ist konfliktreich. Und da werden die Unterschiede, die es zwischen den Deutschen aufgrund 40-jähriger getrennter, ja gegenläufiger Entwicklung und Prägung gibt, eben nicht als etwas Bereicherndes oder Glückliches empfunden. Doch ist das lediglich eine Durchgangsstation, die in 1-2 Generationen der Vergangenheit angehört.
Ach ja, schließlich noch der Begriff "Wiedervereinigung". Mir persönlich ist es völlig wurscht, wie man das Kind nun nennt und ich halte eine Debatte darüber für Haarspalterei. Fakt ist, dass die Volkskammer der DDR am 23. August 1990 mit überwältigender Mehrheit und gegen die Stimmen der PDS den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland beschloss. Dieser freiwillige Beitritt der DDR erfolgte nach Artikel 23 des Grundgesetzes am 3. Oktober 1990, was fast 80% der DDR-Wähler bei den ersten freien Wahlen gefordert hatten.
Ob man diesen Vorgang nun Vereinigung, Wiedervereinigung oder staatsrechtlich korrekt "Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland" oder noch anders nennt, ist recht nebensächlich.