Erfurt 1808

excideuil

unvergessen
„Verrat, Sire, ist eine Frage des Datums!“ erwiderte Talleyrand Alexander I. auf dessen Argumentation des Anspruches Preußens auf Sachsen beim Wiener Kongress. Hintergrund war, dass Sachsen sehr lange gezögert hatte mit dem Übertritt auf die Seite der Alliierten im Kampf gegen Napoleon und deswegen nach Meinung der Alliierten bestraft gehörte. Wenn also wie in diesem Fall Treue gleichzeitig Verrat bedeutet, welche Bedeutung hat dann die Kategorie Verrat in der Politik?

Wie stellt sich das aber für Talleyrand in Erfurt dar? Er hatte sich als einer der ersten entschieden, sich der Expansionspolitik Napoleon entgegenzustellen und Alexander I. dringend empfohlen, Napoleon zu widerstehen. Ist hier die Frühzeitigkeit Indiz für den Verrat? Oder ist die Tatsache, in einer Diktatur nur die Möglichkeiten zu haben, entweder dafür oder dagegen zu sein, automatisch die Folge, sich im Falle des dagegen seins in der Rolle des Verräters zu finden?

„Die Geschichtsbücher sprechen von Verrat Talleyrands. Aber wer hat was verraten? Konnte sich Napoleon anmaßen, Frankreich zu repräsentieren? Den Franzosen von 1808 wäre weit lieber gewesen, nicht in ihren Geschäften, ihren Stellungen, ihren Pensionen von der aufgeregten Politik des Kaisers beunruhigt zu werden. Ohne weiteres kann man auch Talleyrand unter diese Franzosen aufgehen lassen, mit dem einzigen Unterschied, dass ihm seine Stellung eine Macht gab, die mehr als eine französische anzusprechen ist als die des Kaisers, dem es nicht genügte, Kaiser der Franzosen zu sein. Der aus einem Phantasma nicht mehr in die Wirklichkeit zurückfand, in welcher Wirklichkeit Talleyrand eine Macht war. Und eine Macht kann sich durchsetzen, aber nicht verraten.“ [1]

„Wenn man bei Talleyrand von Verrat spricht, assoziiert man immer Verkauf. Und die Geldsucht Talleyrands erleichtert sehr diese Assoziation. Dass er mit diesem Gelde Frankreich repräsentierte, vergisst man und denkt an nicht weiter vorgestellte Vorteile des privaten Lebens. Oder an sehr kostspielige Laster. Oder an eine zahlreiche Familie legitimer und illegitimer Kinder, die zu versorgen waren. Aber das Geld war, über eine luxuriöse aus Familie, Bequemlichkeit und Stellung sich ergebende Lebensführung heraus, für Talleyrand eine spirituelle Macht, nichts anderes.“ [2]

Lassen wir die rein persönlichen Interessen beiseite, sie könnten im Falle des Vorwurfes des Verrates nur zu einem niedrigen oder höheren "Strafmaß" führen, mal davon abgesehen, dass die nichtmateriellen Interessen oft die viel gefährlicheren sind.

Betrachten wir die Situation in Erfurt. Napoleon bot 4 Könige und unzählige Herzöge und Fürsten auf, um Alexander I. mit seiner Macht zu beeindrucken, um ihn für seine künftigen Pläne zu gewinnen/zu integrieren. Die Regie dieser Tage war aus Sicht eines Propagandisten perfekt.

Im Salon der Fürstin von Turn und Taxis bekam Alexander I. dann von Talleyrand zu hören: „Der Rhein, die Alpen und die Pyrenäen sind von dem gesamten Frankreich erobert worden, alles Übrige vom Kaiser. Daran hat Frankreich kein Interesse.“ [3]

Talleyrand trennte mit diesem Satz die Interessen Frankreichs von den Zielen Napoleons und machte mit seiner Person deutlich, dass es in Frankreich eine Opposition gab.

Spricht so ein Verräter?
Kann man angesichts der damaligen Situation überhaupt von Verrat reden?

Grüße
excideuil

[1] Blei, Franz: Talleyrand, Berlin, 1932, Seiten 174-175
[2] [1] Seite 175
[3] Metternich: „Aus Metternich’s nachgelassenen Papieren“ Erster Teil, 1773-1815, Wilhelm Braumüller, Wien 1880, Bd. 2, Seite 254
 
„Verrat, Sire, ist eine Frage des Datums!“

...

Talleyrand trennte mit diesem Satz die Interessen Frankreichs von den Zielen Napoleons und machte mit seiner Person deutlich, dass es in Frankreich eine Opposition gab.
...
Spricht so ein Verräter?
Kann man angesichts der damaligen Situation überhaupt von Verrat reden?

Grüße
excideuil

[1] Blei, Franz: Talleyrand, Berlin, 1932, Seiten 174-175
[2] [1] Seite 175
[3] Metternich: „Aus Metternich’s nachgelassenen Papieren“ Erster Teil, 1773-1815, Wilhelm Braumüller, Wien 1880, Bd. 2, Seite 254


Eine sehr absolute Frage und wahrscheinlich historisch kaum seriös zu bentworten.

Aus heutiger juristischer Sicht wäre das Landesverrat und ein bißchen Hochverrat schwingt da auch mit, ein ehrgeiziger Staatsanwalt hätte den "geknackt" <= o.k. ahistorisch.

Aber das ist nicht der Kern der Fragestellung. Da kommen wir nämlich zu einem grundlegenden Quellenproblem. Als Historiker kann ich geschriebene Quellen auswerten, nicht gesprochene. Wer weiß, was N. nächtens mit T. besprach? Welchen Verhandlungsspielraum er T. ließ(?) und T. hatte nach 1815 "Deutungshoheit". Da kann ich nur aus dem folgenden historischen Geschehen antizipieren. Da wäre dann die Fragestellung, was hat der "Fürstentag" in Erfurt gebracht?

Ein Krieg zwischen Frankreich, den verbündeten Rheinbundstaaten mit Rußland, der Fortbestand der Kontinentalsperre usw., also nichts "Überraschendes".

Hinzu kommt, daß die diplomatischen Vertreter im frühen 19. Jh. noch nicht "bürokratisiert" waren, sondern "Gespräche" tw. über Familientraditionen angeknüpft wurden usw.

M.

P.S.: Deine Fragestellung ist extrem kompliziert.
 
Aus heutiger juristischer Sicht wäre das Landesverrat und ein bißchen Hochverrat schwingt da auch mit …

Aber das ist nicht der Kern der Fragestellung. Da kommen wir nämlich zu einem grundlegenden Quellenproblem. Als Historiker kann ich geschriebene Quellen auswerten, nicht gesprochene. Wer weiß, was N. nächtens mit T. besprach? Welchen Verhandlungsspielraum er T. ließ(?) und T. hatte nach 1815 "Deutungshoheit". Da kann ich nur aus dem folgenden historischen Geschehen antizipieren. Da wäre dann die Fragestellung, was hat der "Fürstentag" in Erfurt gebracht?

Ein Krieg zwischen Frankreich, den verbündeten Rheinbundstaaten mit Rußland, der Fortbestand der Kontinentalsperre usw., also nichts "Überraschendes".

M.

Ich denke, eine wichtige Frage ist, was sollte der Fürstenkongress bringen?

„Jetzt gehen wir nach Erfurt“, sagte er, „und wenn ich wieder hier bin, so will ich ganz freie Hand in Spanien haben; ferner will ich sicher sein, dass Österreich so isoliert ist, dass es nichts gegen mich unternehmen kann, und was Russland mit der Levante betrifft, so lasse ich mich auf nichts Bestimmtes ein. Verfassen Sie also meine Konvention in diesem Sinne, Talleyrand, die den Kaiser Alexander zufrieden stellen, aber im übrigen scharf gegen England gerichtet sein soll! Ich will Ihnen dabei helfen, und wir werden ihnen schon imponieren.““ [1]

T. setzt den Vertragsentwurf auf und bringt ihn Napoleon zur Kenntnis:

„Als ich zu Ende gelesen hatte, nahm der Kaiser die Papiere an sich und sagte: „Es ist gut so, lassen Sie mir den Entwurf hier, ich werde noch verschiedenes hinzufügen; speziell im XI. Artikel, wo von Österreich die Rede ist, dass wir nämlich gleich einschreiten, wenn es mit der Pforte gemeinsame Sache gegen Russland machen sollte. Das ist nicht deutlich genug ausgedrückt, und ich begreife nicht, wie Sie das übersehen konnten. Talleyrand, Sie sind und bleiben doch ewig ein Österreicher!“ – „Nur, ein klein wenig, Sire; richtiger wäre es wohl, zu sagen, dass ich niemals ein Russe werde, sondern ein Franzose bleibe.“ – „Meinetwegen, aber jetzt denken Sie gefälligst an Ihre Abreise! Sie müssen ein oder zwei Tage vor mir in Erfurt eintreffen, und dann gleich den Kaiser Alexander aufsuchen, mit dem Sie überhaupt während des ganzen Aufenthaltes in Erfurt viel zusammen sein werden. Sie kennen ihn gut und wissen ihn gut zu nehmen. Reden Sie viel von unserer Allianz und, dass man darin einen Fingerzeig der Vorsehung erblicken müsse zum Heil der Menschheit. Machen Sie ihm begreiflich, dass wir beide, Alexander und ich, vom Geschick augenscheinlich dazu bestimmt sind, die Ordnung in Europa wiederherzustellen, dass wir beide noch jung seien und uns deshalb zu beeilen brauchten. Das ist der Punkt, auf den Sie immer wieder zurückkommen müssen, denn Romanzoff ist in der türkischen Frage viel zu wild und zu hastig. Sprechen Sie auch mit dem Kaiser von der öffentlichen Meinung, die man in dem Sinne bearbeiten muss, dass unser Bündnis ihr keine Besorgnis, sondern große Beruhigung einflößt. Und dann auch von der allgemeinen Wohlfahrt des Kontinents, von den Segnungen des Friedens, und sagen Sie auch ein Wort von den sieben Millionen Griechen, die von uns ihre Befreiung erwarten … Das sind philanthropische Ideen, die er gern hört, und Sie wissen, ich bin ja auch für die Philanthropie, aber erst später, später. Talleyrand, ich gebe Ihnen carte blanche, machen Sie Ihre Sache gut! Adieu!““ [2]

Auf die Situation 1808 bezogen, bedeutet dies, dass Napoleon freie Hand wollte, um die spanischen Angelegenheiten zu regeln und um einen drohenden Zwei-Frontenkrieg zu vermeiden. Erreichen wollte er es damit, dass der Zar Österreich bedrohte und damit isolierte. Das bedeutet letztlich aber, dass Österreich als politisches Gewicht ausscheidet, es auf dem Kontinent nur noch zwei Mächte gibt: Frankreich und Russland. Die Weigerung Napoleons, Zugeständnisse an Russland zu machen bedeutet, dass Napoleon nicht wünschte, dass der Zar zu diesem Zeitpunkt eine territoriale Machtvergrößerung erlangte. Im Grunde sollte dem Zaren also nur die Rolle zufallen, Napoleon die Machtstellung zu erhalten, die nur Napoleon nutzte.

Talleyrand erreichte in Erfurt, dass der Zar sich weigerte, Österreich zu bedrohen und damit, dass Österreich als politischen Faktor erhalten blieb. Er erreichte zudem, Russland und Österreich zur Kenntnis zu geben, dass Frankreich nicht geschlossen hinter Napoleon stand, sondern dass es eine Opposition gab.
Das ist streng genommen Hochverrat. Die Frage ist, wen oder was verriet er? Frankreich oder Napoleon?
Napoleon möglicherweise, zudem der Korse ihn in Erfurt mit besonderem Vertrauen auszeichnete. Aber es bleiben Zweifel, da Talleyrand gar nicht ohne den Korsen kalkulierte, sondern aus dem Kaiser der Franzosen den König von Frankreich machen wollte.
Verrat an Frankreich? Wohl kaum: Es ist nicht möglich, glaubhaft zu machen, dass die hegemonialen Wünsche Napoleons mit den Interessen Frankreichs gleichzusetzen sind.
Im Grunde bleibt nur die Tatsache, dass Talleyrand sich den Eroberungsplänen Napoleons entgegen stellte und der Fakt, dass er sich nicht zu schade war, in diesem Zusammenhang Geld von ausländischen Mächten anzunehmen. Moralisch verwerflich, realpolitisch in der Situation einer Diktatur kaum zu beanstanden.

Was nun die „Deutungshoheit“ T. angeht, er bestreitet in seinen Memoiren seine Handlungen gar nicht, zudem ist von Erfurt lange Zeit nichts bekannt geworden und die Papiere von ihm und auch von Metternich sind erst viele Jahrzehnte später öffentlich gemacht worden.

Grüße
excideuil

[1] Talleyrand: „Memoiren des Fürsten Talleyrand“, herausgegeben mit einer Vorrede und Anmerkungen von Herzog de Broglie, Original Ausgabe von Adolf Ebeling, Köln und Leipzig, 1891-1893, Bd. 1 Seite 304
[2] [1] Seiten 308-309
 
Das ist streng genommen Hochverrat. Die Frage ist, wen oder was verriet er? Frankreich oder Napoleon?
Napoleon möglicherweise, zudem der Korse ihn in Erfurt mit besonderem Vertrauen auszeichnete. Aber es bleiben Zweifel, da Talleyrand gar nicht ohne den Korsen kalkulierte, sondern aus dem Kaiser der Franzosen den König von Frankreich machen wollte.
Verrat an Frankreich? Wohl kaum: Es ist nicht möglich, glaubhaft zu machen, dass die hegemonialen Wünsche Napoleons mit den Interessen Frankreichs gleichzusetzen sind.

Da sind wir am Kern: Wer bestimmt, was die Interessen Frankreichs sind?
Talleyrand? Der Zar? England? Europa? Oder vielleicht doch Napoleon, der sicherlich 1808 die Meinung der Franzosen noch hinter sich hatte.
Es ist schon ein starkes Stueck, dass der Hochverræter selbst definiert, wie die Interessen Frankreichs zu sein haben, und danach dann das Urteil auch noch selbst fællt. Gleichsam Anklæger, Verteidiger und Richter in einer Person. Welche Autorisation hat Talleyrand dazu? Egal ob rechtlich, philosophisch oder geschichtlich, ich sehe da nur eine Antwort: Keine.

Mir ist es z.B. schleierhaft, wieso die "natuerlichen Grenzen" die Interessen Frankreichs sein sollen, und nicht mehr oder weniger. Zudem es eine schøne Talleyrand-typische wachsweiche Formulierung ist (ich weiss, es ist ein Schlagwort der Revolution, dennoch): Der Rhein ist auch mit den Grenzen von 1815 erreicht, wie sieht es mit Belgien und den linksrheinischen Gebieten in Deutschland aus? Kein Franzose hætte die seinerzeit preisgegeben.
Talleyrand kann sich selbst noch auf dem Wiener Kongress gemuetlich zuruecklehnen und sagen, was wollt ihr denn, wir haben unsere "natuerlichen Grenzen" erhalten...

Gruss, muheijo
 
Zuletzt bearbeitet:
Da sind wir am Kern: Wer bestimmt, was die Interessen Frankreichs sind?
Talleyrand? Der Zar? England? Europa? Oder vielleicht doch Napoleon, der sicherlich 1808 die Meinung der Franzosen noch hinter sich hatte.
Es ist schon ein starkes Stueck, dass der Hochverræter selbst definiert, wie die Interessen Frankreichs zu sein haben, und danach dann das Urteil auch noch selbst fællt. Gleichsam Anklæger, Verteidiger und Richter in einer Person. Welche Autorisation hat Talleyrand dazu? Egal ob rechtlich, philosophisch oder geschichtlich, ich sehe da nur eine Antwort: Keine.

Mir ist es z.B. schleierhaft, wieso die "natuerlichen Grenzen" die Interessen Frankreichs sein sollen, und nicht mehr oder weniger. Zudem es eine schøne Talleyrand-typische wachsweiche Formulierung ist (ich weiss, es ist ein Schlagwort der Revolution, dennoch): Der Rhein ist auch mit den Grenzen von 1815 erreicht, wie sieht es mit Belgien und den linksrheinischen Gebieten in Deutschland aus? Kein Franzose hætte die seinerzeit preisgegeben.
Talleyrand kann sich selbst noch auf dem Wiener Kongress gemuetlich zuruecklehnen und sagen, was wollt ihr denn, wir haben unsere "natuerlichen Grenzen" erhalten...

Gruss, muheijo

Ich gebe dir völlig recht, Talleyrand war rechtlich und auch juristisch nicht autorisiert, so zu handeln, wie er es getan hat.
Und damit sind wir schon beim Kern. Wie will jemand, der die herrschende Politik für falsch hält, sich in einer Diktatur Gehör verschaffen oder gar durchsetzen? Er hat nicht die Möglichkeit, mit demokratischen Mitteln sich eine parlamentarische Mehrheit zu verschaffen! Was bleibt ihm also? Er kann für die Diktatur sein oder eben nicht: Eben nicht, heißt dann aber, nichts tun zu können!
Es bleibt also nur der Weg des "Verrates".

Spätestens nach Preußisch Eylau war wohl klar, dass das Waffenglück sich wenden konnte, eine oder mehrere verlorene Schlachten das Empire in seinen Grundfesten erschüttern konnte. (==> Aspern) Mit anderen Worten, Glück ist keine dauerhafte politische Basis.

Es darf trefflich darüber gestritten werden, ob Napoleon 1808 wirklich noch die Mehrheit der Franzosen hinter sich hatte:

"Es war Talleyrands Überzeugung, dass die französischen Grenzen von 1972 in den Augen der überwiegenden Mehrheit der Franzosen vollkommen zufriedenstellend waren und dass man weder Frieden noch Beständigkeit erlangte, ehe diese Grenzen und ein Gleichgewicht der Kräfte wiederhergestellt waren. Seine Einschätzung der öffentlichen Meinung Frankreichs wurde von dem Journalisten Joseph Fiévée belegt, den Napoleon als Geheimagenten einsetzte. In einem vertraulichen Bericht fasste Fiévée die übereinstimmende Ansicht seiner Informanten zusammen: "Die öffentliche Meinung ist krank vor Angst", schrieb er bündig. "Falls einer den moralischen Zustand Frankreichs zu beschreiben hätte, könnte er nicht umhin, zu sagen, dass die einzigen Dummen, über die wir noch verfügen, jene sind, die ihre Berechnungen noch immer auf die populäre Leichtgläubigkeit gründen."
An der Angst konnte es keinen Zweifel geben; Napoleon hatte noch vor dem Erfurter Kongress befohlen, den Jahrgang 1809 vor Ende 1808 zu den Waffen zu rufen ..." [1]

Mit andere Worten, Frankreich wünschte Frieden, egal, ob nun in den Grenzen von 1792 oder in den "natürlichen" und es darf wohl behauptet werden, dass es eine wenn auch stille Opposition in Frankreich gab. Sie war wohl stärker als gemeinhin angenommen, denn es ist schwer vorstellbar, dass Talleyrand und Fouché Ende 1808 ohne gewichtigen Hintergrund den demonstrativen öffentlichen Schulterschluss vollzogen. Und die stille Opposition war wohl auch jeden Tag in Napoleons Umgebung; die Kriegsmüdigkeit der Marschälle wird in jeder N.-Biografie thematisiert und es ist wohl davon auszugehen, dass die Herren eher Angst davor hatten, das Erreichte zu verlieren als im Kampf getötet zu werden.

Ist der defacto Hochverrat Talleyrands wirklich so zu bewerten, wenn er sich (unter den Bedingungen einer Diktatur!) in Übereinstimmung mit den Interessen Frankreichs vollzog?

Wenn Talleyrand gegenüber Alexander die "natürlichen" Grenzen ins Spiel brachte, dann ist dies die Trennung der Interessen Frankreichs von denen Napoléons. Und eine Ausgangsposition für die zukünftigen Grenzen Frankreichs in einem friedlichen Europa, aus der sicherlich mehr für Frankreich hätte werden können als nach dem Einmarsch der Alliierten 1814 in Paris.

Für Napoleon waren übrigens die "natürlichen" Grenzen viel wichtiger: niemals wollte er mit weniger Frieden schließen, denn dies hätte bedeutet, Frankreich räumlich kleiner zu übergeben als er es übernommen hatte.

Grüße
excideuil

[1] Herold, Christopher: Der korsische Degen – Napoleon und seine Zeit, Deutsche Buch-Gemeinschaft, Berlin, Darmstadt, Wien, 1968 (1966), Seiten 195-196
 
Ich habe noch ein paar Zitate herausgesucht, die die Entwicklung der Kategorie "Verrat" in der Politik beschreiben:

Rohden schreibt 1939:

"Kein Zweifel: was Talleyrand in Erfurt trieb, war Hochverrat. Denn Napoleon hatte sich, wie zuvor den Staatsstreich vom 18. Brumaire und das Konsulat auf Lebenszeit, so auch die Annahme des Kaisertitels durch eine Volksabstimmung bestätigen lassen und musste daher als der legale Herr Frankreichs gelten. Aber Talleyrands Doppelspiel ist nicht Volksverrat. Denn die Eröffnungen, die er dem Zaren machte, beruhen ja auf dem richtigen Gedanken, dass sich Napoleons Politik nicht mehr mit den Wünschen des französischen Volkes deckte." [1]

Wir finden 50 Jahre nach Erscheinen der Memoiren von Metternich und Talleyrand zwar noch eine moralische Wertung aber auch eine Differenzierung.

Ähnlich bei Bourgoing:

"Diese öffentliche Anerkennung (Vice-Grand-Electeur, Fürst von Benevent, Anm. von mir) hinderte ihn nicht, in Erfurt seinen Gebieter an Kaiser Alexander zu verraten, da er das "Ende mit Schrecken" herankommen sah." [2]

Auch hier die Relativierung:
"Die für Talleyrand gebrauchte Bezeichnung "das politische Chamäleon" enthält einen Vorwurf, durch den sein wiederholter Gesinnungswechsel gegeißelt werden soll." [2] ... Diese angeblichen Gesinnungswechsel, in Wirklichkeit das kluge Erfassen der Staatsnotwendigkeit von einem stets gleichbleibenden Standpunkt aus, haben Frankreich mehr genützt als ein Ausharren an Napoleons Seite, weniger geschadet als die Unterwürfigkeit eines Champagnys oder Marets, um nur zwei Männer zu nennen, die dem Kaiser gegen besseres Wissen zu widersprechen nicht gewagt, ja ihn, wie letzterer, in seinen waghalsigen Unternehmen sogar bestärkt haben." [3]

Hier sind aber kritische Töne zu den Mitläufern nicht überlesbar.

Noch einmal 60 Jahre weiter liest sich das Wirken Talleyrand so:

"Mit dem Frieden von Pressburg Ende des Jahres, mit der Gründung des Rheinbundes und der Zerschlagung des Reiches 1806 sowie mit seiner Politik gegenüber Preußen 1807 wich Napoleon allerdings immer mehr von den Vorstellungen seines Außenministers ab, der mit dem Erreichen der "natürlichen Grenzen" Frankreich als satuiert ansah. Talleyrand war überdies nicht gewillt, als bloßes Werkzeug des Kaisers zu fungieren, auch wenn dieser ihn 1804 zum Großkämmerer des Empire und 1806 zum souveränen Fürsten von Benevent erhob. Im August 1807 gab er sein Ministeramt auf. Er war allerdings im Herbst auf dem Fürstentag in Erfurt anwesend, auf dem er dem russischen Zaren darlegte, dass die napoleonischen Expansionspolitik in Frankreich selbst keineswegs einhellig gebilligt werde, und ihn eindringlich zum Widerstand aufforderte." [4]

Es findet sich keine moralische Wertung, die im Grunde in der geschichtlichen Bewertung, wenn es um Machtpolitik geht, wohl auch keine Berechtigung hat.

Grüße
excideuil

[1] Rohden, Peter Richard: „Die klassische Diplomatie – Von Kaunitz bis Metternich“, Koehler & Amelang, Leipzig, 1939, Seite 90
[2] Bourgoing, Freiherr von: „Vom Wiener Kongress – Zeit und Sittenbilder“, Verlag Georg D.W. Callwey, Verlag Rudolf M.Rohrer, Brünn-München-Wien, 1943, Seite 85
[3] [2] Seite 86
[4] Erbe, Michael: Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht – Internationale Beziehungen 1785 – 1830, Ferdinand Schöningh, Paderborn – München – Wien – Zürich, 2004, Seite 107
 
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