Germanisches Rechtsverständnis um die Zeitenwende nach Zerjatke

BerndHH

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Hier bei Minute 34:00 das Thema "Waren die Germanen "hinterhältig"? Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (auf YT, darf ja leider nicht zitiert werden) wird u.a. auf das Wesen von Verträgen zwischen Römern und Germanen hingewiesen. Das ist hochspannend! Während Römer diese Verträge schriftlich fixierten, archivierten u. ggf. öffentlich aufstellten, gab es bei den Germanen keine diesbezügliche Entsprechung. Es fehlte die Schriftlichkeit und n.M.v. Michael Zerjatke waren es wohl simple Inhalte.
Welche Bindungswirkung hatte ein römisch-germanischer Vertrag. Vielleicht war er für die Germanen null und nichtig, da er ihrem Verständnis von Rechtsordnung widersprach, was die Römer mit mangelnder Bündnistreue und Hinterhältigkeit interpretierten.
 
Zerjatke unterscheidet nach Big Man-Society und Häuptlingsgesellschaft.
Na ja, wir hatten das sicherlich schon.
 

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Ich glaube, dass ich es jetzt verstanden habe. Zerjatke sagt, dass Römer und Germanen ein unterschiedliches Rechtsverständnis besaßen. Die Römer hatten also falsche Ideen der germanischen Rechtsvorstellungen. Römer verstanden unter Eigentum und Besitz möglicherweise etwas vollkommen anderes als Germanen. Zerjatke vergleicht dies mit den Friedensverträgen der Franzosen mit den Algonkin- u. Mohawk-Indianern, die ebenfalls keine Schrift besaßen. Deren Häuptlinge unterschrieben mit Symbolen, Tierzeichen etc.
Vielleicht war es ja ganz ähnlich, wenn Drusus mit den Stammesoberhäuptern der Cheruskern einen Friedensvertrag|Waffenstillstand unterschreibt, der für beide Parteien eine ganz unterschiedliche Bedeutung haben könnte. Für die Römer, wenn ich Zerjatke da richtig wiedergebe, möglicherweise ewig und für die Germanen nur an Stammesoberhaupt XX gebunden. Da die einen kein Cheruskisch sprachen und die anderen kein Latein, konnte es per se schon keine allgemeinverpflichtende Übereinkünfte geben oder sehe ich das falsch?
 
Ja, altbekannte Probleme. Allerdings gibt es immer die Möglichkeit von Übersetzung und Erklärung.

Und mangels Quellen sind das nur Vermutungen aufgrund von anderen Ereignissen.

Was es dann wieder glaubwürdig macht, ist zum einen die hohe staatliche und juristische Entwicklung Roms, wobei die Römer in der Regel rechtliche Unterschiede zu anderen ignorierten. (Siehe etwa Kunkel, Römische Rechtsgeschichte.) Dann aber auch die Organisationsform der germanischen Ethnien. Die Ethnologie konnte feststellen, dass einige Merkmale regelmäßig mit bestimmten Organisationsformen verbunden sind. Es wäre sehr vernünftig, diese anzunehmen, wenn nicht umstritten wäre, welche Organisationsform vorlag.

So ist es nur eine nahe liegende Vermutung einer Analogie.

(Von Big Men oder Häuptlingen zu sprechen und Gesellschaft und Organisation gleichzusetzen, windet sich um das Problem, wenn es denn so gesagt wird.)

Ohne Aktualisierung hat die Grafik keine Aussage. Da Clan und Sippe erstmal Homonyme sind, widerspricht sie sich schon formal, wenn Zerjatke keine anderen Definitionen bringt. Für Youtube reicht meine Bandbreite nicht. Da ich schon Videos von ihm gesehen habe, vermute ich, dass er das näher erklärt. Aber so bleibt festzustellen, dass diese Struktur erst mal Unsinn ist.
 
Ja, möglicherweise habe ich Zerjatke falsch zitiert, möchte da keine Falschbehauptungen aufstellen.
 
Vielleicht war es ja ganz ähnlich, wenn Drusus mit den Stammesoberhäuptern der Cheruskern einen Friedensvertrag|Waffenstillstand unterschreibt, der für beide Parteien eine ganz unterschiedliche Bedeutung haben könnte. Für die Römer, wenn ich Zerjatke da richtig wiedergebe, möglicherweise ewig und für die Germanen nur an Stammesoberhaupt XX gebunden.
Das könnte durchaus sein.
Rom war eine "Republik" (nach eigener Auffassung noch in der Kaiserzeit), ein Staatswesen mit bestimmten Institutionen, das unabhängig von seinen jeweils aktuellen Amtsinhabern bestand. Wenn Rom also einen Vertrag schloss, galt er grundsätzlich (sofern er nicht befristet war) unbefristet, da der römische Staat ja auch unbefristet existieren sollte, jedenfalls über die Amtszeit der aktuellen Amtsinhaber hinaus. Schwierigkeiten konnten sich da bereits in der späten Republik im Umgang mit dem hellenistischen Osten ergeben, dessen Monarchien sehr viel stärker auf die Person des aktuellen Monarchen bezogen waren.
Die germanischen Stämme der Zeitenwende waren zwar anscheinend nicht so auf eine Führungspersönlichkeit bezogen, es fehlte ihnen allerdings vielleicht an der römischen Vorstellung von Staatlichkeit mit dem Staat als Rechtssubjekt.

Zuverlässiges lässt sich freilich nicht sagen, da die ältesten germanischen Rechtstexte erst Jahrhunderte später entstanden.
 
Die Hypothese Zerjadtkes ist, dass es bei Germanen um die Zeitenwende eine segmentäre Gesellschaft gab. Dieses Konzept basiert im wesentlichen auch kolonialen Klischeevorstellungen über die Wilden. Damit versucht uns Zerjatke zu erklären, warum das römische Klischee der vertragsbrüchigen Germanen einen realen Hintergrund hat.

Die Beschriftung der Grafik im Screenshot ergibt nicht besonders viel Sinn. Zerjadtke verwendet Clan und Sippe synonym. Der Begriff des Stammes, um den es ihm die ganze Zeit geht, kommt in der Grafik gar nicht vor.

Die Irokesen sind als Musterbeispiel einer segmentären Gesellschaft auch problematische Wahl, weil es zu ihnen völlig unterschiedliche Deutungen gibt. Die innere Struktur der Irokesen-Liga galt laut Benjamin Franklin als Vorbild des Föderalismus in der Verfassung der USA. Bereits Franklin lobte die Langlebigkeit die Irokesen-Liga. Sie existiert in abgewandelter Form bis heute. Die Cherusker waren hingegen nur ein paar Jahrzehnte lang ein wichtiges Konsortium.

Zurück zu den Cheruskern:
Es gibt keine Hinweise auch unterschiedliche Clans in den Schriftquellen. Die internen Konflikte fanden laut den römischen Geschichtsschreibern unter nahen Verwandten statt und nicht zwischen konkurrierenden Clans, Sippen etc.
 
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Eine stirps regia ist eine Königsfamilie.
Die Preisfrage ist, ob diese cheruskische Familie von einem früheren König abstammt oder nicht. Stammt Segimerus aus einem alten Königsgeschlecht oder ist er nur der Vorfahr der spätereren Cherusker-Könige wie Italicus?

Die gleiche Frage wäre für Chatten, Bataver, Sueben u.a. zu stellen. Gab es ein altes Königtum in vorrömischer Zeit?

In einer segmentären Gesellschaft sind alle Clans oder Sippen gleichrangig. Es kann daher keine herausragende Königsfamilie geben.

Die nächste Preisfrage ist, ob die von Tacitus in der Germania ausgemalte idealtypische politische Verfassung aller Germanen-Stämme mit dux, rex, principes und plebs einen realen Hintergrund hat. Zerjadtkes Theorie setzt das irgendwie voraus.
Problematisch ist, dass nicht mal Tacitus daran glaubt, sonst würde er in den Annalen wenigstens bei einem konkreten Stamm die Wahl eines konkreten Königs beschreiben können. Das ist aber nirgends der Fall. War Arminius jetzt princeps, dux oder rex? Tacitus ist das anscheinend egal.

Zwei stirpes regiae.
Wer soll das sein, Segestes und Segimundus oder etwa der unbekannte Clan des Chariomerus?

Wenn man die Geschichtsschreibung liest, fällt auch, dass sich die cheruskischen Clans nicht als Blöcke gegenüberstehen. Arminius kämpft gegen Bruder und Onkel, Segestes gegen den Sohn und Schwiegersohn.
 
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Vielleicht ist der Stammbaum des Thumelicus auch ein Kreis, weil Segimer und Segestes vielleicht Cousins sind.
 
Vielleicht ist der Stammbaum des Thumelicus auch ein Kreis, weil Segimer und Segestes vielleicht Cousins sind.
Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es gibt ja diese alte These, dass Arminius‘ germanischer Name Siegfried oder Sigurd gewesen sei, weil Seg- (Segimundus, Segimirus, Segestes, Sesithakus) die Familienanenvorsilbe gewesen sei. Diese These speist sich aus dem Wunsch, dass Arminius der Siegfried/SigurdR des Nibelungenkreises sei. Bei genauerer Betrachtung fallen dann aber Thusnelda, Thumelicus und Inguiomerus auf. Und das Sesithacus kein Segithacus ist... die stirps regia-Hypothese mit Segimer und Segestes als enge Verwandte basiert auf einem Zirkelschluss. Wir können sie schlicht weder be- noch widerlegen.
 
Die Anzahl der cheruskischen Königssippen erklärt aber nicht das "Vertragsproblem", das die Römer mit verschiedenen germanischen Gruppen im Lauf einiger Jahrhunderte hatten. Bei Wolfram, Demandt, Geary findet sich als Erklärungsmodell, dass die german. Warlords Verträge vermutlich auf die Person bezogen hatten: schloss Alemannenkönig Krokus einen Vertrag, fand sein Nachfolger diesen nicht mehr bindend, wohingegen die Römer davon ausgingen, mit den Alemannen (oder einer ihrer Großgruppen) einen längerfristigen Vertrag geschlossen zu haben.
 
Bei Wolfram, Demandt, Geary findet sich als Erklärungsmodell, dass die german. Warlords Verträge vermutlich auf die Person bezogen hatten

Auf was auch sonst? Etwas äquivalentes zum römischen Staat gab es nicht.

... wohingegen die Römer davon ausgingen, mit den Alemannen (oder einer ihrer Großgruppen) einen längerfristigen Vertrag geschlossen zu haben.

Die Römer wussten mit Sicherheit, mit wem sie welche Verträge abschlossen und was sie wirklich bedeuteten.
Dass man eventuell in Rom verkündete, man habe "die Alamannen" befriedet, obwohl man letztlich nur mit Warlord XYZ einig geworden war, dürfte allerdings nicht so selten gewesen sein. Die vielen einzelnen Gruppierungen waren eben kaum fassbar.
 
Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es gibt ja diese alte These, dass Arminius‘ germanischer Name Siegfried oder Sigurd gewesen sei, weil Seg- (Segimundus, Segimirus, Segestes, Sesithakus) die Familienanenvorsilbe gewesen sei. Diese These speist sich aus dem Wunsch, dass Arminius der Siegfried/SigurdR des Nibelungenkreises sei. Bei genauerer Betrachtung fallen dann aber Thusnelda, Thumelicus und Inguiomerus auf. Und das Sesithacus kein Segithacus ist... die stirps regia-Hypothese mit Segimer und Segestes als enge Verwandte basiert auf einem Zirkelschluss. Wir können sie schlicht weder be- noch widerlegen.

Das hast du nicht richtig verstanden. Es wird angenommen, dass schon damals gerne Namenssilben von Verwandten übernommen wurden. Das wurde nie streng durchgezogen und es waren zudem sowohl agnatische als auch kognatische Verwandte im Blick. Teils wurden auch ganze Namen übernommen. Danach könnte, wenn in Arminius kein germanischer Name steckt, gut die Silbe -seg- im Namen vorkommen. Ebenso natürlich -inguio- oder -mero-. Und natürlich sind ausgerechnet die Cherusker das Beispiel, was nahe legt, dass so etwas so früh schon vorkam. Sonst müssen wir ins 4. Jahrhundert schauen. Spekulationen zu Namen von Cheruskern über diesen Weg sind also schnell ein unzulässiger Zirkelschluss, nur mit aller Vorsicht als bloße Möglichkeit ohne höhere Wahrscheinlichkeit zu genießen.

Der Fehlschluss liegt darin, dass gesagt wird, es müsse Seg- oder Sieg- sein. Das ist Quatsch.
 
@Topic: Nun, das Problem ist nicht nur das fehlen eines transpersonalen Staats.

Es prallen oft unterschiedliche Paradigmen aufeinander, die aber eine sich scheinbar entsprechende Wortwahl erlauben, die aber aufgrund verschiedenen Inhalts keine übereinstimmende Willenserklärungen darstellt.

Und dann ist wie während der Sachsenkriege Karls des Großen die Frage, welchen Personenkreis ein Vertrag band. Da konnten die Parteien ebenfalls verschiedener Ansicht sein.
 
Das hast du nicht richtig verstanden. Es wird angenommen, dass schon damals gerne Namenssilben von Verwandten übernommen wurden. Das wurde nie streng durchgezogen und es waren zudem sowohl agnatische als auch kognatische Verwandte im Blick. Teils wurden auch ganze Namen übernommen. Danach könnte, wenn in Arminius kein germanischer Name steckt, gut die Silbe -seg- im Namen vorkommen. Ebenso natürlich -inguio- oder -mero-. Und natürlich sind ausgerechnet die Cherusker das Beispiel, was nahe legt, dass so etwas so früh schon vorkam. Sonst müssen wir ins 4. Jahrhundert schauen. Spekulationen zu Namen von Cheruskern über diesen Weg sind also schnell ein unzulässiger Zirkelschluss, nur mit aller Vorsicht als bloße Möglichkeit ohne höhere Wahrscheinlichkeit zu genießen.

Der Fehlschluss liegt darin, dass gesagt wird, es müsse Seg- oder Sieg- sein. Das ist Quatsch.
Wenn man das genau betrachtet hat man nur zwei Beispiele von Leitsilbenkontinuität und selbst davon ist eines fragwürdig:
Segestes und Segimundus
Thusnelda und Thumelicus
Und dann noch den Zufall, dass Segimer auch eine Seg-Silbe im Namen hatte. Die These ist, dass Segestes und Segimer Brüder gewesen seien.
Nur kennen wir Flavus', Arminius' und Italicus' germanische Namen gar nicht, Inguiomer und Sesithacus fallen aus der Reihe (wenn es eine solche denn überhaupt gibt) und am Ende bleibt nur übrig, dass Segestes und Segimundus dieselbe Leitsilbe haben. Ein bisschen dürftig für die oft vertretene These, dass die ganze cheruskische Führungsschicht Seg-Namen getragen hätte und daraus für Arminius der Name Siegfried/SigurdR rekonstruiert wird.
 
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