Geschichte zwischen Deskription und Spekulation, zwischen Faktischem und gewesen sein Könnendem

Ein weitere typische kontrafaktische, geschichtliche Fragestellung bot hier im Forum die Idee, ob der Nationalsozialismus hinsichtlich
der Verfolgung der und des Genozids an den Juden genauso ohne H. geschehen wäre.

Zu vorsichtigen, vorläufigen Beantwortung dieser Fragestellung waren substanzielle GeschichtsKenntnisse des Bereiches notwendig, nicht etwa primär die Kenntnis 'kausaler' Zusammenhänge.
Diese geschichtliche Fragestellung geht darum, ob die Existenz des Politikers Hitler kausal für die Judenverfolgung war. Zur Beantwortung braucht man natürlich substanzielle Geschichtskenntnisse. Wenn die Geschichtswissenschaft dazu keine Aussage treffen könnte (auch keine vorsichtige), wäre das schon traurig.
 
Ob sich die Stimmung dann zu einem revolutionären Aufstand steigert hängt zum einen davon ab, welche Schichten überhaupt betroffen sind.
Trifft die unzufriedenheit nur die unteren wirtschaftlich bedrückten Schichten, ohne entsprechende intellektuelle Anantgarde, die das politische System en gros im Blick hat und über weitergehende als regionale Kenntnisse verfügt, wird daraus in der Regel eine Hungerrevolte oder etwas in der Art, was darauf abzielt spontan doe dringensten bedürfnisse zu befriedigen oder die schlimmstenn Lasten los zu werden, aber dabei wird das System nicht in Frage gestellt.
Andersherum entwickelt Unzufriedenheit in der geistigen Avantgarde, die sich sozial in den mittleren Rängen befindet, die sich ausgebremst und zurückgesetzt wähnt, die aber keine Massenbasis hat, keine dementsprechenden revolutuonären Energien. usw.
(Ich wollte nur das Zitat begrenzen.)
Du hast hier vor allem folgendes getan: meine Trivialtheorie der Revolution um weitere, speziellere Gesetze angereichert. Plus einige Punkte angefügt, die einer allgemeinen Erklärung nicht zugänglich sind. Das widerlegt natürlich nicht die Möglichkeit, allgemeine Erklärungsmuster zu entwickeln und ist auch der Unterschied von wissenschaftlicher Erklärung zu solchen Pseudo-Wissenschaften wie dem HistoMat: hier geht es um "eherne Gesetze", die die Geschichte angeblich beherrschen, dort um Modelle, die einen Ausschnitt eines geschichtlichen Ereignisses (Revolution, Völkerwanderung, Entstehung eines Krieges, einer Seuche etc.) mit einem allgemeinen Modell zu erklären versuchen.
Bei der Völkerwanderung etwa sind es push- und pull-Modelle, und ganz gleich, ob man die nun als Syllogismus hinschreibt oder nur eher kursorisch davon spricht: man verwendet solche allgemeinen Erklärungen. Bei Ausbreitung von Seuchen die logistische Kurve, auf die auch die heutigen Corona-Modelle basieren und oftmals ganz gute Vorhersagen ergeben. Auch das sind, i.w.S., geschichtliche Ereignisse, zumal die logistische Funktion ganz allgemein für die Übertragung von Information gilt und damit auch z.B. die Enstehung von Gerüchten modelliert.
Es ist aber klar: je konkreter man wird, desto weniger werden solche Erklärungsmuster beisteuern können.

Ich möchte mal kurz auf die andere Seite der Wissenschaft schauen: zum Newtonschen Gravitationsgesetz. Es gibt wohl kaum ein Gesetz, das so gut belegt ist wie das (lassen wir den Einstein mal außen vor; lassen wir auch weg, dass es in den ersten 10^-14 Sekunden nach dem Big Bang nicht gegolten hat). So grundlegend dieses Gesetz auch ist: versucht man, die Bahnen von 3 oder mehr Körper, die sich gegenseitig anziehen, zu berechnen, gerät man schon im Fall 3 an die Grenzen der Mathematik, und darüber hinaus erst recht. (Three-body problem - Wikipedia ). M.a.W: versucht man, dieses allg. Gesetz auf konkrete Körper zu übertragen, wird es so komplex, dass es praktisch gar nicht lösbar ist. Und das schon bei 3 Körpern! Folgt daraus, dass man sich in der Physik vom Gravitationsgesetz verabschieden muss und besser die einzelnen Körper anschaut und qualitativ, vlt. sogar phänomenologisch, analysiert?
Und, gibt es da inzwischen einen empirisch aufgestellten Wert; der auch allgemein anerkannt, empirisch überprüfbar und skalierbar ist? Nein, meine ich.
In der Psychologie kann man aber schon Zufriedenheitsmaße und bspw. Arbeitsmotivation in Beziehung setzen (Herzberg's 2-Faktoren oder auch Heckhausens U-Kurve), natürlich auf kleinerer Flamme als Revolutionsmodelle. Außerdem, ich wiederhole das: das war nur ein Beispiel, üblicherweise verlaufen solche Erklärungsmodelle ordinal, d.h. nach > und <: steigt x, dann steigt y oder steigt x, dann fällt y. usw. Pychologische / soziologische Gesetze haben nicht die Messqualität wie physikalische.

Es ist also hinlänglich gezeigt, dass bei der Erklärung geschichtlicher Vorgänge auch allgemeine Gesetze herangezogen werden können, die sich mehr oder weniger gut bestätigen. Das heißt aber natürlich nicht, dass alles, was sich geschichtlich ereignet, dadurch erklärt werden kann, denn nicht nur übersteigt das Zusammenspiel der einzelnen Faktoren schnell jedes Maß, sondern auch partikuläre Ereignisse, Personen etc., wie z.B. das Mauseloch, das für den Tod von Dschingis Khan verantwortlich gemacht wird.
Ja.
Kausalitäten:
Diese gibt es nur in idealisierten Modellen welcher Art auch immer. Das gilt auch für die Physik.
Kommt man aber mit der Idealisierung dem beobachtbaren Verlauf nahe, so kann man hoffen eine neues Werkzeug im Bastelkasten der Erkenntnis zu haben.
So ungefähr sehe ich das auch. Idealisierte Modelle bietet etwa die Wirtschaftsheorie. Beschäftigt man sich nun mit der Wirtschaftsgeschichte, können solche Modelle, sofern sie empirisch überprüft sind, wertvolle Hinweise für gewisse Ereignisse geben, etwa bei Parallelwährungen, bei Inflation, bei Arbeitslosigkeit (Stichwort: Weltwirtschaftskrise, die eine riesige Menge geschichtlicher Ereignisse nach sich gezogen hat.) Mehr wohl nicht, aber das ist auch nicht wenig.
 
Diese geschichtliche Fragestellung geht darum, ob die Existenz des Politikers Hitler kausal für die Judenverfolgung war. Zur Beantwortung braucht man natürlich substanzielle Geschichtskenntnisse. Wenn die Geschichtswissenschaft dazu keine Aussage treffen könnte (auch keine vorsichtige), wäre das schon traurig.
Fest steht: Antisemitismus war in der Gesellschaft verbreitet (und ist es leider heute immer noch oder wieder). Die NSDAP war eine Partei, die den gesellschaftlich verbreiteten Antisemitismus zu ihrem Leitmotiv erhoben hat. Und zwar mit dem 25-Punkte-Programm, welches in der Drexler'schen Küche verfasst wurde; inwieweit H. auf das Programm Einfluss nahm, ist umstritten.
1933 bis 1938 ist eine Phase der allmählichen, schrittweisen dabei aber radikalen Entrechtung der Juden. Eine Zäsur findet 1938 mit den Novemberpogromen statt. Im Januar 1939 droht H. mit der "Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa".
Ab 1941 kommt es zum systematischen Mord an den Juden in den nationalsozialistisch beherrschten Gebieten Europas.
Diese systematische Ermordung fing zunächst noch recht unsystematisch an und bekam dann aber recht schnell eine erschreckende Dynamik, welche dann 1942 in der Wannseekonferenz nicht in Frage gestellt wurde, sondern diskutiert wurde, wie man die Abläufe effizienter gestalten könnte.
Wenn der richtige Offizier an der richtigen Stelle zum richtigen Zeitpunkt den Befehl gegeben hätte, den Massenmord einzustellen, etwa, weil das barbarisch und feige sei, hätte die Geschichte noch eine ganz andere Wendung nehmen können. Trotz H. an oberster Stelle. Das Problem ist aber: Wenn man einmal angefangen hat zu morden, dann bekommt das Morden eine ganz eigene Logik. Das Morden zu stoppen wäre das Eingeständnis gewesen, dass das Vorherige Mord war (was natürlich trotzdem jeder wusste, aber man hat den Mord eben nicht Mord genannt, sondern anfänglich "Banditenbekämpfung", später "Endlösung".)
 
Daher noch meine Frage, wer von vielleicht bekannten HistorikerInnen ausdrücklich und hauptsächlich mit Kausalitäten arbeitet? Also nur Kausal-Forscher-Denker-Historiker können beispielsweise über den D-Day oder über Ruhrbesetzung 1923 wissenschaftlich schreiben und arbeiten, können denken? :D

Es hat doch niemand den Sinn bestritten grundsäzlich kontrafaktische Überlegungen anzustellen oder grundsätzliche kausale Zusammenhänge festzustellen, sondern es geht doch viel mehr darum, wie weit kontrafaktische Überlegungen maximal gehen können, wenn sie noch irgendwas sinnvolles mit der Würdigung der historischen Situation zu tun haben sollen und darum, dass man Kausalität nicht mit Determination verwechseln sollte.

Ich bin auch absolut dafür, Kausalität nicht mit Determination zu verwechseln.
 
Diese geschichtliche Fragestellung geht darum, ob die Existenz des Politikers Hitler kausal für die Judenverfolgung war. Zur Beantwortung braucht man natürlich substanzielle Geschichtskenntnisse. Wenn die Geschichtswissenschaft dazu keine Aussage treffen könnte (auch keine vorsichtige), wäre das schon traurig.

Die geschichtliche Fragestellung geht kontrafaktisch dahin, ob und wie weit die Judendiskriminierung, die Eliminierung aus den rechtlichen, kulturellen und sozialen Beziehungen und Lebensbedingungen sowie die Massentötung ohne H. gekommen wären.
Eine differenzierte Antwort setzt substanzielle, vielschichtige (Grundlagen-)Forschungen und Kenntnisse voraus, nicht 'kausale' Methoden, die ja sowie nicht überprüft werden können anhand zukünftiger, realer Ereignisse. Daher scheint mir das Festhalten daran eher ein Placebo zu sein. Und nachträglich aus kontrafaktischen Fragestellungen speziell eine 'kausale' Methodik als Voraussetzung zu behaupten...eine beachtliche Vereinnahmung....;-)

In angenommenen, kontrafaktischen Fall wäre die Judendiskriminierung, die Eliminierung aus den rechtlichen, kulturellen und sozialen Beziehungen und Lebensbedingungen, also die 'Judenverfolgung', wie Du es leider unscharf benennst, ebenfalls ohne H. geschehen. Wahrscheinlich. Die Herausarbeitung der ebenso wahrscheinlich auf die Person H. konzentrierte Verantwortung für die letzten Schritte, der Massentötungen, ist nicht das Ergebnis kausaler Forschung, sowenig wie man anhand 'kausaler' Forschung nun mit absoluter Gewissheit behaupten kann, ohne H. wäre die 'Judenverfolgung' und die Massentötung nicht eingetreten. Und unumstritten bei den viieeelen HistorikerInnen ist, oder gar einhellig über alle Grenzen, Schulen und Generationen geteilt wird, das hast Du gleichfalls übersehen, diese Einschätzung auch nicht.

Geschichtlichen Entwicklungen nähert man sich Möglichkeiten, Wahrscheinlichkeiten, Einflüssen, Ereignisrekonstruktionen, Interdependenzen, sehr komplexen Ursachen-, Grund- und Auslöserbedingungen usw. Auch daraus resultieren recht unterschiedliche geschichtswissenschaftliche Positionen, wie bestimmt auch Du bemerkt hast.

Vielleicht täusche ich mich ja. Daher meine Bitte:

C64, belege doch bitte deine ambitionierte (Selbst-) Einschätzung mit einschlägigen Beiträgen, die Du hier im Forum gepostet hast, die auch nicht zuletzt die Überlegenheit oder höhere Qualität zeigen können und schon gezeigt haben gegenüber z.B. Beiträgen von aus Deiner Sicht nach deformierten (Geschichts-) Profis bzw. Nichtdenkern…
Und zeige doch bitte anhand aktueller einschlägiger Publikationen einschlägiger HistorikerInnen die umfangreiche oder relevante Verwendung explizit von ‚Kausalität‘ als notwendiges Element geschichtswissenschaftlicher Methodik/Forschung.

Gerade Letzteres könntest Du bestimmt leicht mit einschlägigen Titeln belegen, zumindest bei Stefan Jordans Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft (2018), wird 'Kausalität' nicht im Register aufgeführt.

Eigentlich vermute ich subjektiv, der hier eingeführte Begriff 'kausal' und Kausalität ist weder eindeutig und jederzeit wie überall klar definiert, schon gar nicht in der Geschichtswissenschaft.
 
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